Was ist Gesellschaft? I

Ursprünglich in der praktischen Philosophie beheimatet sind Theorien der Gesellschaft heute weitgehend von der Soziologie aufgegriffen worden.
Nauplios

Sa 28. Okt 2023, 18:01

Um noch einmal zur Paradoxie der Beobachtung zu kommen: Im Wintersemester 1991/92 hat Luhmann in Bielefeld eine Vorlesung Einführung in die Systemtheorie gehalten.

Siebte Vorlesung:

"Wenn Sie sich daran erinnern, daß Kant die Transzendentaltheorie über die Notwendigkeit einer Asymmetrie eingeführt hat, indem er sagte, die Bedingungen der empirischen Erkenntnis könnten nicht selber empirische Bedingungen sein, dann sehen Sie, daß eine Notwendigkeit zu bestehen scheint, eine Theorie in einem Verhältnis von Symmetrie und Asymmetrie anzulegen. Das geschieht hier auf eigentümliche Weise über den Beobachter, der die eine Seite benutzt und die andere Seite nur mitführt und mitzieht.

In einer Terminologie, die Heinz von Foerster gern benutzt, kann man das auch so formulieren, dass man sagt, die Unterscheidung sei der "blinde Fleck" des Beobachtens. Man muß sich auf die eine Seite konzentrieren - zum Beispiel sind wir in der Universität und nicht irgendwo sonst, aber der Unterschied zwischen Universität und allem anderen (und allem anderen!) spielt jetzt keine Rolle. Wir können diesen Unterschied nicht noch einmal reflektieren, wenn wir uns darauf einrichten, dass wir jetzt in der Universität, in diesem Hörsaal sind und es bei dieser Vorlesung mit diesem Professor und so weiter zu tun haben. Das kann man so ausdrücken, dass die Einheit der Unterscheidung invisibilisiert wird, unsichtbar gemacht wird. Wenn man sie sichtbar machen wollte, käme man auf ein Paradox, nämlich die Einheit einer Differenz. Mit einer Formulierung eines Vortragsthemas von Ranulph Glanville, The Same is Different, müßte man sagen: 'Dasselbe ist verschieden'. Dann sitzt man erst einmal fest." (Niklas Luhmann; Einführung in die Systemtheorie; S. 144f.)




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Jörn Budesheim
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Stefanie hat geschrieben :
Sa 28. Okt 2023, 17:58
Weil Luhmann es zu einem Paradox erklärt, und das wird er wohl kaum grundlos gemacht haben.
Das mag ja sein, das erklärt aber nicht, warum es DIR so wichtig ist, an dieser Stelle nachzuhaken.

Meine persönliche Erfahrung bei der Begegnung mit neuen, mir unbekannten Theorien ist, dass es immer wieder Dinge gibt, die man nicht sofort versteht. Meistens hilft es dann, einfach weiterzumachen und im Nachhinein, wenn man ein bisschen den Überblick hat, klärt es sich oft.




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Jörn Budesheim
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Sa 28. Okt 2023, 18:16

Nauplios hat geschrieben :
Sa 28. Okt 2023, 18:01
(Niklas Luhmann; Einführung in die Systemtheorie; S. 144f.)
Das Buch habe ich auch, für mich grenzt es an ein Wunder, dass ich keine fünf Minuten gebraucht habe, um es zu finden :)




Nauplios

Sa 28. Okt 2023, 18:18

"Paradoxien entstehen, wenn Bedingungen ihrer Möglichkeit gleichzeitig Bedingungen ihrer Unmöglichkeit sind - Bsp Paradoxie des Epimenides: Dieser Satz ist falsch - Bedingung der Falschheit ist zugleich Bedingung der Wahrheit.
Die Paradoxie hat daher nicht die Form A = Nicht A - das wäre eine widersprechende, aber nicht paradoxe Aussage, sondern A weil Nicht A -Paradoxien entstehen, wenn der Beobachter (jede Beobachtung ist eine Unterscheidung) die Frage nach der Einheit der Unterscheidung stellt.

Jede Unterscheidung ist paradox, weil beide Seiten immer zugleich anwesend sind. - Paradox: das System beobachtet, dass seine Umwelt nichts anderes als ein internes Produkt seiner Operationen ist.
Paradoxien/Luhmann: sind ein Problem für den Beobachter, nicht notwendig für die Operationen des beobachtenden Systems.
Asymmetrisierung kann eine Lösung für Paradoxien sein.

Die Bedingungen der Möglichkeit sind gleichzeitig die ihrer Unmöglichkeit. Ein Paradox entsteht, wenn der Beobachter die Frage nach der Einheit der Unterscheidung stellt. Jede Unterscheidung ist paradox, weil beide Seiten immer zugleich anwesend sind. Sie sind ein Problem für den Beobachter - nicht für die Operationen des Systems."

(Philosophie Lexikon der Argumente)




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AufDerSonne
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Sa 28. Okt 2023, 18:48

Apropos paradox. Für mich gibt es das nicht. Es gibt nichts Widersprüchliches. Aber ich nehme an, das ist auch nie absolut gemeint, wenn jemand von etwas Paradoxem spricht. Er will damit sagen, dass sich etwas scheinbar widerspricht. Da bin ich mir relativ sicher, dass es wirklich Paradoxes nicht geben kann. Wenn jemand anderer Meinung ist, wäre ich froh um ein Beispiel.



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Jörn Budesheim
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Sa 28. Okt 2023, 18:50

Dass du in einem Philosophie-Forum schreibst, wäre ein Beispiel für ein Paradox.




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AufDerSonne
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Sa 28. Okt 2023, 18:52

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 28. Okt 2023, 18:50
Dass du in einem Philosophie-Forum schreibst, wäre ein Beispiel für ein Paradox.
Wir haben manchmal gesagt: Dumme Sprüche, 1 Euro 20.



Ohne Gehirn kein Geist!

Nauplios

Sa 28. Okt 2023, 19:55

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 28. Okt 2023, 18:16
Nauplios hat geschrieben :
Sa 28. Okt 2023, 18:01
(Niklas Luhmann; Einführung in die Systemtheorie; S. 144f.)
Das Buch habe ich auch, für mich grenzt es an ein Wunder, dass ich keine fünf Minuten gebraucht habe, um es zu finden :)
Ja, die Systemtheorie (aber nicht nur sie) ist ja heute, infolge der Segnungen des Internets, vielfältig dokumentiert. Was in Form von Büchern, Original- und Sekundärliteratur, vorliegt, hat man in wenigen Minuten herausgefunden, manches gibt es in Form von pdf-Dateien kostenlos frei Haus. Vorlesungen von und über Luhmann sind bei Youtube schnell gefunden usw. Man kann beliebig vor- und zurückspulen, kann mithilfe des Handys den Meister mit unter die Bettdecke nehmen - aufgrund seiner ruhigen und bedächtigen Stimme übrigens eine wirkungsvolle Einschlafhilfe.

Wenn ich da an die 70er/80er Jahre denke, ach du lieber Gott! - Man begab sich zur Mittagsstunde zu dritt von Münster auf den Weg nach Bielefeld, Fahrtzeit eine gute Stunde. Dann ging's ab in die unterirdischen Katakomben der Uni und man wartete mit gezücktem Stift und Block auf den Beginn der Vorlesung, zusammen mit ca. 150 Kommilitonen. Pünktlich nach dem akademischen Viertel betrat Luhmann den Hörsaal, gefolgt von einem Schwarm von Assistenten und Kollegen: Baecker, Kieserling, Stichweh, Willke, Fuchs und manchmal auch die schöne Elena (Esposito). - Nach einer kurzen Begrüßung und dem Zurechtrücken der Hornbrille ging sie dann los, die wilde Fahrt.

Man versuchte, mit dem Stift hinterher zu hasten, oft vergebens. Luhmann trug weitgehend frei vor, scheute keine Abschweifung, war bald im Mittelalter, bald in der Kybernetik, bald bei den französischen Moralisten, bald in der Verwaltungswissenschaft. Nach 30 Minuten legte man den Stift immer öfter zur Seite und nach 90 Minuten hatte man mit viel Glück ein bis zwei Seiten vollgekritzelt. Die Vorlesung von 1991/92 ist dagegen strukturiert und durchorganisiert.

In der folgenden Woche fuhr man erneut hin und nach 12 Veranstaltungen hatte man ein überaus vages Verständnis von dem, was man gehört hatte. Man wußte nur eines: DAS will ich genauer wissen! HIER spielt die Musik! -

Auf der Rückfahrt nach Münster versuchte man, ein paar Grundgedanken dingfest zu machen, das Gehörte einzuordnen und zu sortieren. Was es damals so gut wie nie gab, waren Sätze, die mit "Für mich ist aber ..." anfingen. ;)

Ausgenommen: "Für mich gibt's eine Unmenge an Wissenswertem."




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Quk
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Sa 28. Okt 2023, 20:10

Sätze wie "Für mich ist aber ..." höre ich auch selten.

Sätze wie "Für mich ist ..." -- ohne "aber" -- höre ich allerdings öfters, und das finde ich gut so -- aus zwei Gründen:

1. Es deutet an, dass der Sprecher dieses Satzes weiß, dass seine bisherige Ansicht nicht dogmatisch für die ganze Menschheit gilt, sondern nur für die eigene fehlbare Ansicht, und diese Fehlbarkeit gilt es, freundlicherweise zu vermitteln. Wer das nie tut, klingt wie ein Oberlehrer -- für mich jedenfalls. Für mich! Für andere vielleicht nicht.

2. Kritik- und Lernfragen halte ich für gesund, und um eine Frage einzuleiten, muss man den eigenen Hintergrund erläutern, denn eine Frage hat meistens einen Kontext. Jedenfalls für mich. Für mich! Für andere vielleicht nicht.

:-)




Timberlake
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Sa 28. Okt 2023, 20:23

Nauplios hat geschrieben :
Sa 28. Okt 2023, 18:18
Ein Paradox entsteht, wenn der Beobachter die Frage nach der Einheit der Unterscheidung stellt. Jede Unterscheidung ist paradox, weil beide Seiten immer zugleich anwesend sind. Sie sind ein Problem für den Beobachter - nicht für die Operationen des Systems."

(Philosophie Lexikon der Argumente)
Um dazu auf das Thema dieses Threads zurück zu kommen . So wird beispielsweise in einer Gesellschaft sicherlich zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer "unterschieden ". Auch sollte , weil beide Seiten immer zugleich anwesend , zugleich außer Frage stehen , dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer eine "Einheit" bilden. Somit müsste für den Fall , wenn der Beobachter die Frage nach der Einheit der Unterscheidung stellt, auch hier ein Paradox entstehen.

Oder?
Wikipedia hat geschrieben :
Dialektischer Materialismus

Grundlagen

Die jeweilige Entwicklung einer bestimmten Ebene resultiert nicht aus einem harmonischen Fortschreiten, sondern entsteht durch den Konflikt und die Aktualisierung der jeweiligen, den entsprechenden Phänomenen innewohnenden Gegensätzlichkeiten, den „Grundwidersprüchen“. Die Entwicklung wird durch die drei dialektischen Grundgesetze beschrieben ..

1.Das Gesetz von der Einheit und dem „Kampf“ der Gegensätze: Triebkraft jeglicher Entwicklung ist der Widerspruch zwischen dualen Polen, der natürlichen und sozialen Prozessen grundsätzlich inhärent ist. Der „Kampf“ besteht darin, dass die dualen Pole gegensätzlich gerichtete Tendenzen verursachen und sich nur dadurch verwirklichen können, dass sie eine neue Lösung hervorbringen. Die Marxsche Dialektik unterscheidet sich durch ihre materialistische Orientierung grundlegend von der antiken Widerspruchslehre, die im Widerspruch die Triebkraft der Erkenntnisentwicklung sieht: These und Antithese bilden einen Widerspruch, deren Lösung in der Synthese beider Behauptungen besteht.
Wie dem auch sei , nach dem ersten , der sehr allgemeine „Gesetze“, des Dialektischen Materialismus, reden wir von der Einheit und dem „Kampf“ der Gegensätze. Vor die Wahl gestellt , ob man dergleichen aus der Perspektive der Systemtheorie von Luhmann betrachtet , wonach daraus für den Beobachter ggf. ein Paradox entsteht oder aus der Perspektive der Systemtheorie von Marx bzw. Engels , wonach sich daraus für den Beobachter die Frage beantworten lässt „Was ist eine Gesellschaft“ , würde zumindest ich Letzteres vorziehen.

Ich denke mal , was das Thema dieses Threads betrifft , waren wir mit Luhmanns Systemtheorie , schon mal weiter.( Stichwort .. Autopoiesis)
Zuletzt geändert von Timberlake am Sa 28. Okt 2023, 20:48, insgesamt 2-mal geändert.




Timberlake
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Sa 28. Okt 2023, 20:34

AufDerSonne hat geschrieben :
Sa 28. Okt 2023, 18:48
Apropos paradox. Für mich gibt es das nicht. Es gibt nichts Widersprüchliches. Aber ich nehme an, das ist auch nie absolut gemeint, wenn jemand von etwas Paradoxem spricht. Er will damit sagen, dass sich etwas scheinbar widerspricht.
Um dazu auf mein Beitrag zurück zu kommen. Vor dem Hintergrund , dass in einer Gesellschaft Arbeitgeber und Arbeitnehmer , wie übrigens auch Angebot und Nachfrage , von was auch immer , bei allen Unterschieden , stets zugleich eine Einheit bilden, könnte man tatsächlich sagen , dass sich etwas nur scheinbar widerspricht.




Nauplios

Sa 28. Okt 2023, 21:31

Quk hat geschrieben :
Sa 28. Okt 2023, 20:10


Wer das nie tut, klingt wie ein Oberlehrer -- für mich jedenfalls. Für mich!
Der Oberlehrer verläßt jetzt mal den Klassenraum. Ihr habt frei.




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Quk
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Sa 28. Okt 2023, 21:54

Ich habe damit niemanden in diesem Forum gemeint :-)




Timberlake
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Sa 28. Okt 2023, 23:53

Quk hat geschrieben :
Sa 28. Okt 2023, 20:10

2. Kritik- und Lernfragen halte ich für gesund, und um eine Frage einzuleiten, muss man den eigenen Hintergrund erläutern, denn eine Frage hat meistens einen Kontext. Jedenfalls für mich. Für mich! Für andere vielleicht nicht.
Wo wir schon mal "dabei" sind .. Wie ist doch gleich das Thema dieses Threads?

  • „Allem zuvorkommen, womit handgemein zu werden fällig werden könnte, bedeutet vor allem, das eigene Handeln im Horizont der Möglichkeit zu lokalisieren. Das aber heißt, daß die Anschauung durch das Denken verdrängt wird. Die akuten Situationen müssen bewältigt werden, bevor sie eintreten – also auch, ohne daß sie eintreten, schließlich auch und gerade, damit sie nicht eintreten. Der Mensch lebt aus der Sicherheit der räumlichen und zeitlichen Entfernung dessen, was ihm zustoßen kann, schließlich und am Ende mit dem Versuch, diese Entfernung absolut zu machen.“
    Blumenberg: Beschreibung des Menschen ... S. 593.

Nur um mal an dieser Stelle , mit dieser Frage , auf jene akuten Situationen aufmerksam zu machen , die es eigentlichen gar nicht geben dürfte , wenn man sie bewältigt, bevor sie eintreten. Schon gar nicht in einem Klassenraum , unter der Aufsicht des Oberlehrers. ;)




Timberlake
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So 29. Okt 2023, 01:06

Nauplios hat geschrieben :
Sa 28. Okt 2023, 18:18

Die Bedingungen der Möglichkeit sind gleichzeitig die ihrer Unmöglichkeit. Ein Paradox entsteht, wenn der Beobachter die Frage nach der Einheit der Unterscheidung stellt. Jede Unterscheidung ist paradox, weil beide Seiten immer zugleich anwesend sind. Sie sind ein Problem für den Beobachter - nicht für die Operationen des Systems."

(Philosophie Lexikon der Argumente)
.. völlig richtig . die Operationen des Systems und damit der Gesellschaft funktioniert auch ohne dieses Problem für den Beobachter. Das gilt um so mehr , wie der Beobachter selbst zu den Arbeitgebern bzw. Arbeitnehmern zählt, um auf mein Beispiel zu dieser Frage, nach der Einheit der Unterscheidung , in meinem Beitrag 69713 zurück zu kommen.
philosophie-wissenschaft-kontroversen.de hat geschrieben :
N. Luhmann über Paradoxie – Lexikon der Argumente

Transzendentalphilosophie/Kant/Luhmann: führte sie über die Notwendigkeit der Asymmetrie ein: die Bedingungen der empirischen Erkenntnis können nicht selber empirische Bedingungen sein. - Bsp Wenn man darüber nachdenkt, dass die Verkäuferin geschäftlich und nicht moralisch zu sehen ist, kann man nicht gleichzeitig fragen, was die Einheit des Unterschieds von Moral und Geschäft ist. - Man kann sich selbst im Moment der Beobachtung nicht als jemand beobachten, der die Unterscheidung handhabt. - Eine Reflexion der Unterscheidung ist wohl möglich, aber durch eine andere Unterscheidung. - Bsp Wir sprechen jetzt auch von Unterscheidungen - aber vor einem Hintergrund von Dingen, die nicht unterschieden sind.
... diese Verkäuferin kann man übrigens nur als Arbeitnehmerin sehen. Wenn sie sich im Moment an der Kasse selbst beobachtet , wird sie sich wohl eher nicht als jemanden beobachten, der die Unterscheidung von Arbeitnehmer und Arbeitgeber handhabt. Übrigens ein schlechtes Beispiel. Wenn es denn um die Einheit des Unterschieds von Moral und Geschäft geht , dann sollte man dergleichen ganz sicher nicht an einer harmlosen Verkäuferin festmachen. Dazu nur mal zur Erinnerung ..
  • »Kapital, sagt der Quarterly Reviewer, flieht Tumult und Streit und ist ängstlicher Natur. Das ist sehr wahr, aber doch nicht die ganze Wahrheit. Das Kapital hat einen Horror vor Abwesenheit von Profit oder sehr kleinem Profit, wie die Natur vor der Leere. Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. Zehn Prozent sicher, und man kann es überall anwenden; 20 Prozent, es wird lebhaft; 50 Prozent, positiv waghalsig; für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf Gefahr des Galgens. Wenn Tumult und Streit Profit bringen, wird es sie beide encouragieren. Beweis: Schmuggel und Sklavenhandel.«
    Karl Marx .. Das Kapital




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So 29. Okt 2023, 08:15

Simon Lohse, Zur Emergenz des Sozialen bei Niklas Luhmann hat geschrieben : ... Der grundsätzliche Streitpunkt ist demnach der Status des Sozialen. Handelt es sich bei diesem tatsächlich um einen eigenständigen Phänomenbereich, der sich nicht auf die Ebene der Individuen reduzieren lässt ...
Ich bin eben etwas durch den Thread durchgegangen, habe hier und da gelesen, und da ist mir das Zitat aufgefallen. Auch wenn dort Luhmann erwähnt wird, geht es mir nicht darum, die Luhmannsche Systemtheorie zu vertiefen, dafür scheint nach meinem Gefühl im Moment kein Interesse zu bestehen.

Mein Gedanke/meine Frage dazu ist folgendes: ist es nicht genau umgekehrt? Das Individuelle emergiert aus dem Sozialen!




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So 29. Okt 2023, 08:22

Passend dazu vielleicht dieses Zitat von Alethos:
Alethos hat geschrieben :
Do 13. Mai 2021, 18:11
Wichtiger für ein Verstehen von Gesellschaft scheint mir der Umstand zu sein, dass wir apriori soziale Wesen sind. Menschsein trägt in sich das Apriori des Mitmenschseins. Nicht nur wären wir gar nicht ohne Mütter und Väter, also dank Anderen, sondern auch könnten wir uns weder denken noch erkennen ohne sie. Wir erkennen uns als Kinder zuallererst am Gesicht der Anderen, und wir bleiben das ganze Leben hindurch aufeinander verwiesen in diesem Bemühen um Selbsterkenntnis, die nicht stattfinden könnte, wenn sie nicht auch die Erkenntnis des Anderen implizierte.

Gesellschaft unter diesen Vorzeichen kann nichts anderes sein als die gesamte Kommunikation von Individuen im Lichte dieses Füreinanderseins - sei dieses ein Füreinander über Zeichen, Handlungen oder durch blosse An- und Abwesenheit.




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So 29. Okt 2023, 08:42

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 29. Okt 2023, 08:15
... ist es nicht genau umgekehrt? Das Individuelle emergiert aus dem Sozialen!
Ich würde sagen: Ja. -- Umgekehrt jedoch ebenfalls. Aber nicht ausschließend oder widersprechend. Ich denke, das ist keine Einbahnstraße, sondern ein Kreisverkehr. Das über die Summe hinausgehende Mehr emergiert neue Einzelteile, welche wiederum das Ganze erweitern und so fort. War das Ei zuerst da oder das Huhn? Ich vermute, das erste war ein Ein. Das trennte sich vom "n" und war dann ein Ei, worauf es etwas neues emergierte, nämlich ein u, dann ein h, und schließlich holte es sich wieder ein n. Nach dem Euhn war es nicht mehr weit bis zum Huhn. Also, ich halte das Große Ganze für eine sehr komplexe Eigendynamik, die Summen bildet und Untersummen, und Untersummen von Untersummen, woraus Mehr entsteht als nur Summen, woraus Einzelteile emergieren, die sich in Untereinzelteile gliedern und so fort. Ein Riesengefüge, das durch innere, wechselseitige Inspirationen und Intuitionen dynamisch bleibt, also am Leben bleibt. Kuchenkrümel, Krümelkuchen: Das eine kann nicht ohne das andere sein.




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So 29. Okt 2023, 16:43

Hannah Arendt hat geschrieben : »Die Gesellschaft ist die Form des Zusammenlebens, in der die Abhängigkeit des Menschen von seinesgleichen um des Lebens selbst willen und nichts sonst zu öffentlicher Bedeutung gelangt, und wo infolgedessen die Tätigkeiten, die lediglich der Erhaltung des Lebens dienen, in der Öffentlichkeit nicht nur erscheinen, sondern die Physiognomie des öffentlichen Raums bestimmen dürfen.«
Dieses Zitat ist mir mehr oder weniger zufällig über den Weg gelaufen - ich gebe es hier unkommentiert wieder.




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So 29. Okt 2023, 16:59

Quk hat geschrieben :
So 29. Okt 2023, 08:42
Das eine kann nicht ohne das andere sein.
.. genau darauf wollte ich in meinen bisherigen Beiträgen, zur der Frage "Was ist Gesellschaft" hinaus. Nur im Unterschied zu dir habe ich das Eine , wie auch das Andere , an Hand von konkreten Beispielen benannt. Wie ich übrigens auch dazu, wie ich meine , mit dem dialektischen Materialismus im Allgemeinem und dessen Gesetz von der Einheit und dem „Kampf“ der Gegensätze , im Besonderen , den theoretischen Hintergrund beleuchtet habe.

Gleich wohl , wenn man Jörn glauben schenken darf , vermutlich auch diesem "Universum des systemtheoretischen Denkens(Nauplios)" das gleiche Desinterrese entgegenschlägt , wie der Systemtheorie von Luhmann.
Nauplios hat geschrieben :
Fr 27. Okt 2023, 02:44

Dieses ganze Universum des systemtheoretischen Denkens ist von großer Eleganz und betörendem Liebreiz - oder nicht?

Schade eigentlich ; dass man hier anscheinend für dessen große Eleganz und dessen betörendem Liebreiz , so ganz und gar nicht empfänglich ist und sich anstatt dessen in ein Universum des systemtheoretischen Denkens verliert, in dem man sich fragt , was war zuerst da , das Ei oder das Huhn. ...
Quk hat geschrieben :
So 29. Okt 2023, 08:42
Ich denke, das ist keine Einbahnstraße, sondern ein Kreisverkehr. Das über die Summe hinausgehende Mehr emergiert neue Einzelteile, welche wiederum das Ganze erweitern und so fort. War das Ei zuerst da oder das Huhn?
Sicherlich , auch das kann von betörendem Liebreiz sein. Gleichwohl im Sinne von "Nichts Genaues weiß man nicht" , große Eleganz ist von solchen, stets im "Kreisverkehr" verlaufenden Gedanken , eher nicht zu erwarten .




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