Jovis hat geschrieben : ↑ Sa 12. Sep 2020, 17:06
Wobei mir jetzt gerade die "Meeresstille des Gemüts" auch als etwas schiefe Metapher vorkommen will. Denn das Meer ist nicht dauerhaft still, das ist ja nur eine Momentaufnahme. Alles befindet sich in Veränderung. Insofern wäre dieses stoische Ideal (das schon immer eine große Anziehungskraft für mich hatte) nur zu erreichen, wenn man den Grundcharakter der Wirklichkeit leugnet? Kann man unveränderlich sein in einer veränderlichen Welt?
Das stoische Ideal (auch Epikur und die pyrrhonische Skepsis sprechen von der Seelenruhe, der Ataraxie) ist Ziel einer Lebenskunst, einer, wenn man das so sagen darf, Lebenstechnik. Die Theorie der Lebenskunst ist in den letzten Jahrzehnten wieder populär geworden und man arbeitet dort u.a. mit Rückgriffen auf antike Glückslehren (Epikur in seinem Garten, Diogenes in der Tonne usw.) Es sind die Leitfragen philosophischer Lebensklugheit (Selbstgenügsamkeit, Umgang mit dem Tod, das gelingende Leben) bis hin zu Fragen der Selbstoptimierung, die in dieses Feld von Beratung, Coaching, Praxen, Flow, u.ä.) hineinspielen. Ob dann die "Meeresstille des Gemüts" als Ziel des glücklichen Lebens verstanden wird oder als Flaute, also als Stillstand und Verhinderung flotter Fahrt, dazu finden sich bestimmt unterschiedliche Auffassungen. - Wie auch immer muß die Theorie der Lebenskunst eine Vorstellung davon entwickeln, was sie unter Glück versteht, zumindest als Zielvorstellung. Ansonsten könnte sie kaum beratend tätig werden. -
Eine Ideengeschichte der Bilder, in denen der Mensch seine Vorstellung von Leben, von Lebensglück, weiter gefaßt vom Dasein schlechthin, entwirft, hat den Vorzug, daß sie sich inhaltlich gar nicht festlegen muß, was denn das Glück ist, ob es in der Meeresstille oder in den Turbulenzen des Gemüts liegt und wie es denn zu erlangen ist oder ob man den "Grundcharakter der Wirklichkeit leugnen" muß, um es zu erreichen. Eine solche historisch-anthropologische Denkschule würde sich die Frage stellen: Was hat der Mensch denn für das Glück
gehalten? Und nicht: Was
ist das Glück, seinem Wesen oder seiner Definition nach? - Man würde dann darauf kommen, daß im Mittelalter das gelingende Leben an einen Gottesbezug gebunden ist, idealerweise in der Vereinigung mit Gott in der
visio beatifica, der Anschauung Gottes als höchste Glückseligkeit. Der Antike mit ihren Göttern ist ein solcher Gedanke hingegen völlig fremd. Bei Epikur leben ja die Götter in den Intermundien und sind für das Glück des Menschen gar nicht zuständig. Eher ist es besser, man hat mit diesen Göttern nichts zu tun. Man kann ihnen auch Opfer darbringen, aber der Hintergedanke dabei ist eher, daß sie einen in Ruhe lassen. - Für die Moderne haben sowohl die antike als auch die mittelalterliche Vorstellung vom Glück keine Verbindlichkeit mehr. (Daß es Ausnahmen gibt, ist unbestritten.) Jetzt ist es ein zunehmendes Kontingenzbewußtsein, das die Vorstellung vom Leben bestimmt. Das beginnt schon an der Schwelle zur Neuzeit, etwa beim "schwankenden Schilfrohr", das der Mensch Pascal zufolge ist; aus dem antiken Kosmos (wörtlich: Schmuckordnung) ist ein Universum geworden, unendliche Weltenräume, vor deren Stille sich Pascal graust. Es beginnt der Ordnungsschwund des Kosmos, die fürsorgende Handschrift eines Schöpfers verblaßt zugunsten eines - Urknalls.
Ähnliches gilt für die Wirklichkeit: Was konnte wann unter welchen Bedingungen Anspruch auf Wirklichkeitkeit erheben? Und Ähnliches gilt auch für die Wahrheit. Man darf sich das Ganze nun allerdings nicht als ein reines Archivieren von Ideen vorstellen. Historisches und Systematisches verschränken sich ineinander. Schnelle Ergebnisse sind jedoch nicht zu erwarten. Insbesondere die Blumenberg´sche "Beschreibung des Menschen" ist umwegig, erzählend, abschweifend, ausschweifend. Da es hier im Forum in erster Linie um "Weiterkommen", um Problemlösung u.ä. geht, steht Umwegiges im Verdacht des Überflüssigen, bestenfalls "Gelehrten", ansonsten "Verknöcherten". Wo es nur
eine Wirklichkeit, nur
eine Wahrheit gibt, wird auch nur
eine "Herangehensweise" geduldet.