Der Materialismus/Physikalismus

Aspekte metaphysischer Systementwürfe und der Ontologie als einer Grunddisziplin der theoretischen Philosophie können hier diskutiert werden.
Benutzeravatar
Consul
Beiträge: 1622
Registriert: Mo 29. Apr 2024, 00:13

Do 4. Sep 2025, 23:26

Consul hat geschrieben :
Do 4. Sep 2025, 03:18
Ja, ich plädiere dafür, "Materialismus" und "Physikalismus" im zeitgenössischen, post-neurathschen/-carnapschen philosophischen Diskurs synonym zu verwenden.
Den Alternativnamen "Panphysismus" habe ich bereits erwähnt. Es gibt zwei weitere (ungebräuchliche): "Hylismus" (gr. hyle = Stoff, Materie; hylisch = stofflich, materiell, körperlich) & "Physizismus".

Beide Wörter finden sich bereits in Texten aus dem 19. Jahrhundert. "Hylismus" & "hylisch" stehen im aktuellen DUDEN, und "physicism" steht im aktuellen Oxford Dictionary of English mit Ersterwähnung als englisches Wort im Jahr 1860. Es ist aber schon 1808 als französisches Wort—(le) physicisme—von Henri de Saint-Simon verwendet worden, der es auch als Erster gebraucht zu haben scheint.
"Sachlich besser [als „Physikalismus“—hinzugef.] wäre die Bezeichnung „Physizismus“, da die fragliche Position nicht innerlich-wesenhaft auf die Wissenschaft der Physik bezogen ist; aber jene Bezeichnung wäre andererseits auch völlig ungebräuchlich und daher ohne Anschlussfähigkeit an den bestehenden metaphysischen Diskurs."

(Meixner, Uwe. Metaphysik ohne Vorurteile. Darmstadt: wbg Academic, 2021. S. 130)
"Unter Physizismus versteht Saint-Simon die Verallgemeinerung der bei der Beobachtung der physikalischen Erscheinungen gewonnenen Erkenntnisse und ihre Anwendung auf die komplizierten Erscheinungen des Organischen, insbesondere auf den Menschen als Einzel- wie als Gesellschaftswesen. Diese Bezeichnung enthält die Idee der Einheit aller Wissenschaften, deren Grundlage die Beobachtung ist und deren Zusammenhang ein System von Gesetzen schafft."

(Zahn, Lola. Fußnote in Claude-Henri de Saint-Simon: Ausgewählte Schriften. Übers. u. hrsg. v. Lola Zahn. Berlin: Akademie-Verlag, 1977. S. 80fn2)
"Saint-Simon unterschied drei Phasen oder Stadien in der Entwicklung der menschlichen Erkenntnis: Polytheismus, Deismus und Physizismus. Als Physizismus bezeichnete er die Erforschung der Wirklichkeit selber und setzte ihn dem Deismus und erst recht dem Polytheismus entgegen. Als Begründer des Physizismus betrachtete Saint-Simon Descartes."

(Kedrow, B. M. Klassifizierung der Wissenschaften. Bd. 1. Berlin: Akademie-Verlag, 1975. S. 110)
Anmerkung: Descartes ist als Substanzdualist zwar kein (absoluter/totaler) Materialist; aber was das Reich der res extensae (ausgedehnten Dinge) betrifft, so vertritt er einen reduktiven mechanistischen Materialismus in Bezug auf (nichtmenschliche) Lebewesen.
"In der Naturphilosophie können [Descartes] mehrere Errungenschaften zugeschrieben werden: Er veröffentlichte als Erster das Sinusgesetz der Brechung, entwickelte eine wichtige empirische Erklärung des Regenbogens und schlug eine naturalistische Erklärung für die Entstehung der Erde und der Planeten vor (ein Vorläufer der Nebelhypothese, nach der die Planeten aus loser, die Sonne umkreisender Materie entstanden). Noch wichtiger ist, dass er eine neue Vision der natürlichen Welt bot, die die moderne Physik prägte: eine Welt der Materie, die einige grundlegende Eigenschaften besitzt und gemäß einigen universellen Gesetzen interagiert. Diese natürliche Welt beinhaltete einen immateriellen Geist, der beim Menschen direkt mit dem Gehirn verbunden war – eine Auffassung, die zum modernen Leib-Seele-Problem führte." [Google Translate]

SEP: Descartes [Google Translate]
Näheres dazu: SEP: Descartes' Physik [Google Translate]
"Die Geschichte des Materialismus umfasst nicht nur Persönlichkeiten, die sich selbst Materialisten nennen oder es waren. Sie ist auch die Geschichte derjenigen, die erfolgreiche Theorien der Materie entwickeln und viele, wenn nicht alle Naturphänomene mit Hilfe der Materie erklären. René Descartes beispielsweise gehört aus diesen Gründen in die Geschichte des Materialismus. In einem berühmten Brief an Mersenne gesteht Descartes, dass seine Meditationen über die Erste Philosophie ein Trojanisches Pferd seien, das „alle Grundlagen [seiner] Physik“ enthalte. Er drängt Mersenne, es niemandem zu erzählen, in der Hoffnung, dass seine Leser seine neue Darstellung der Materie akzeptieren, bevor ihnen klar wird, dass sie „die Prinzipien des Aristoteles zerstört“ (28. Januar 1641, Brief an Mersenne, AT III 298/CSMK III 173). Descartes ebnet auch den Weg für einen konsequenteren Materialismus, indem er das Leben als materielles oder körperliches Prinzip neu begreift. Während Aristoteles und seine Anhänger die lebenswichtigen Funktionen eines lebenden Körpers – Ernährung, Atmung, Wachstum usw. – zuvor der Seele zugeschrieben hatten, erklärt Descartes diese Funktionen anhand der mechanischen Struktur des Körpers. Descartes verwandelt nicht-menschliche Tiere in geistlose oder seelenlose Automaten, durch und durch materiell." [Google Translate]

(Chamberlain, Colin. "Malebranche: A Materialist Malgré Lui?" In The History and Philosophy of Materialism, ed. by Charles T. Wolfe & John Symons, 157-172. Abingdon: Routledge, 2025. p. 158)



"Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst." – Juliane Werding

Timberlake
Beiträge: 2725
Registriert: Mo 16. Mai 2022, 01:29
Wohnort: Shangrila 2.0

Fr 5. Sep 2025, 02:32

Consul hat geschrieben :
Do 4. Sep 2025, 23:26
Consul hat geschrieben :
Do 4. Sep 2025, 03:18
Ja, ich plädiere dafür, "Materialismus" und "Physikalismus" im zeitgenössischen, post-neurathschen/-carnapschen philosophischen Diskurs synonym zu verwenden.
Den Alternativnamen "Panphysismus" habe ich bereits erwähnt. Es gibt zwei weitere (ungebräuchliche): "Hylismus" (gr. hyle = Stoff, Materie; hylisch = stofflich, materiell, körperlich) & "Physizismus".

...
Das mag ja alles so sein.
Timberlake hat geschrieben :
Do 4. Sep 2025, 13:01
Nur das da keine Missverständnisse entstehen!
Consul hat geschrieben :
Do 4. Sep 2025, 03:18
Ja, ich plädiere dafür, "Materialismus" und "Physikalismus" im zeitgenössischen, post-neurathschen/-carnapschen philosophischen Diskurs synonym zu verwenden.
Indem du dafür plädierst, "Materialismus" und "Physikalismus" ... synonym zu verwenden, würdest du demzufolge damit zugleich für die Abschaffung des Begriffs Physikalismus plädieren? Somit sich also die hier, in der Überschrift "Der Materialismus/Physikalismus" thematisierte Problematik, sich schlicht und ergreifend dadurch auflösen ließe, in dem man dafür plädiert, dass es den Physikalismus im Grunde "terminologisch" gar nicht gäbe.
Nur leider ist das keine Antwort auf meine Frage, und zwar ob du für die Abschaffung des Begriffs Physikalismus plädierst. Wenn man sich wie ich, gelegentlich der sokratische Methodik bedient, also durch gezielte Fragen die Gesprächspartner zur Reflexion und Selbsterkenntnis zu führen, so funktioniert diese Methode natürlich nur dann, wenn man auf die gestellten Fragen auch eine Antwort erhält. In dem man ausweichend, wie jetzt in deinem Fall oder in anderen Fällen auf meine Fragen gar nicht antwortet, so möglicherweise aus dem Grund, dass eben das stattgefunden hat, eine Reflexion und Selbsterkenntnis. Nur mag man sich das halt mit einer dem gemäßen Antwort, auf meine Fragen, nicht öffentlich eingestehen.

In dem es bei dir "ausweichend" heißt .. "Den Alternativnamen "Panphysismus" habe ich bereits erwähnt"
Consul hat geschrieben :
Di 2. Sep 2025, 00:55


Der deutsche Philosoph Julius Duboc (1829–1903) – ein Anhänger von Ludwig Feuerbachs Philosophie – hat 1889 die (nie gebräuchlich gewordene) Bezeichnung Panphysismus eingeführt. Als Alternative zu Physikalismus/Materialismus gefällt sie mir gut.

.. und dir die Bezeichnung Panphysismus , als Alternative zum Physikalismus/Materialismus gut gefällt, so würde mit dieser Bezeichnung allerdings sowohl der Physikalismus, als auch der Materialismus obsolet werden.
Consul hat geschrieben :
Di 2. Sep 2025, 01:16

Ich denke (und hoffe), meine einschlägigen Erläuterungen verringern die Wahrscheinlichkeit von Missverständnissen erheblich;
Wie dem auch sei, als eine Verringerung der Wahrscheinlichkeit von Missverständnissen würde ich solche einschlägigen Erläuterungen nicht bezeichnen wollen. Ganz im Gegenteil.




Benutzeravatar
Consul
Beiträge: 1622
Registriert: Mo 29. Apr 2024, 00:13

Fr 5. Sep 2025, 07:04

Timberlake hat geschrieben :
Do 4. Sep 2025, 13:01
Consul hat geschrieben :
Do 4. Sep 2025, 03:18
Ja, ich plädiere dafür, "Materialismus" und "Physikalismus" im zeitgenössischen, post-neurathschen/-carnapschen philosophischen Diskurs synonym zu verwenden.
Indem du dafür plädierst, "Materialismus" und "Physikalismus" ... synonym zu verwenden, würdest du demzufolge damit zugleich für die Abschaffung des Begriffs Physikalismus plädieren?
Nein, obgleich ich selbst "Materialismus" bevorzuge, und mir "Panphysismus" eigentlich besser gefällt als "Physikalismus".
Timberlake hat geschrieben :
Do 4. Sep 2025, 13:01
…Was meiner Meinung nach um so merkwürdiger ist, dass nach deiner Meinung die kognitive Neurowissenschaft in Sachen unbewusster Geist ständig Fortschritte macht. Auf wessen Grundlage macht sie denn diese Wissenschaft Fortschritte? Doch wohl in dem sie mit dem „Physikalismus“ über das hinausgeht, was den Begriff "Materialismus" historisch einschränkt. Ereignisse und Eigenschaften, die in diesem Sinne nicht materiell sind …
Wir haben es hier mit einem generellen terminologischen Problem im Zusammenhang mit den verschiedenen ontologischen Kategorien zu tun:

Wenn wir Entitäten in die drei ontologischen Hauptkategorien Substanzen (Wesen, Dinge, Gegenstände/Objekte), Okkurrenzen (Ereignisse, Vorgänge, Zustände, Sachverhalte/Tatsachen) und Adhärenzen (= Bernard Bolzanos Fachausdruck für Attribute: Eigenschaften [Qualitäten, Quantitäten, Quidditäten] oder Beziehungen [Relationen]) einteilen, dann sind Okkurrenzen und Adhärenzen insofern nicht im selben Sinn materiell wie materielle Substanzen, als sie selbst keine stofflichen Wesen oder körperlichen Dinge (Körper) sind.

Physikalische Ereignisse (*, Eigenschaften oder Beziehungen haben zwar selbst keine materiellen Eigenschaften wie Härte und Undurchdringlichkeit, und sie bestehen auch nicht aus Molekülen oder Atomen; aber andererseits ist es insbesondere aus materialistischer/physikalistischer Sicht irreführend und unrichtig, sie allein deshalb als nichtmaterielle, immaterielle oder nichtphysische Entitäten zu bezeichnen.
(* Nach meiner ontologischen Auffassung haben alle Okkurrenzen wie Ereignisse substanzielle Kerne, d.h. sie enthalten Substanzen, die als Okkurrenzsubstrate fungieren; und Okkurrenzsubstrate können sehr wohl materielle Eigenschaften haben sowie aus Molekülen und Atomen bestehen.)

Man stelle sich eine materiell-energetische, räumlich-zeitliche Welt (MERZ-Welt) vor, die völlig frei ist von Leben, Geist, Bewusstsein, Sprache, Kultur und Abstraktem (im ontologischen Sinn von "abstrakt"). Ich nenne eine solche Welt eine urphysische Welt.
Alle Substanzen, Okkurrenzen oder Adhärenzen, die in einer solchen Welt vorkommen oder vorkommen könnten, sind urphysische Entitäten.
Ich nenne eine Substanz, Okkurrenz oder Adhärenz genau dann physisch, wenn sie entweder eine urphysische Entität ist oder eine Entität, die nichts weiter ist als ein Komplex/System urphysischer Entitäten.
Diese Definition schließt wohlgemerkt ontisch emergente biotische oder psychische Eigenschaften von der Klasse der physischen Eigenschaften aus, weil jene per definitionem weder urphysische Eigenschaften noch Gefüge urphysischer Eigenschaften sind.
Timberlake hat geschrieben :
Do 4. Sep 2025, 13:01
Wie dem auch sei, wenn es in diesem Zitat heißt ... "Das Problem mit dieser Version des Materialismus ist, dass die Physik selbst gezeigt hat, dass sie unwahr ist ... " so würde ich es ( gelinde gesagt) als gewagt bezeichnen, diesen Grund für die Unterscheidung von Materialismus und Physikalismus für als nicht besonders überzeugend zu halten.
Sich Materialisten nennende Zeitgenossen achten und legen Wert darauf, dass sie keinen physikalisch falsifizierten Materialismus vertreten. Die heutigen Materialisten sind nicht im wissenschaftlichen Gestern stehen geblieben. Die Physik ist die grundlegende Naturwissenschaft von Materie, Energie, Raum und Zeit ("MERZ"); und die heutigen Materialisten sind keine bloßen "M-isten", sondern "MERZ-isten".



"Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst." – Juliane Werding

Benutzeravatar
Consul
Beiträge: 1622
Registriert: Mo 29. Apr 2024, 00:13

Fr 5. Sep 2025, 07:33

Consul hat geschrieben :
Fr 5. Sep 2025, 07:04
Physikalische Ereignisse (*, Eigenschaften oder Beziehungen haben zwar selbst keine materiellen Eigenschaften wie Härte und Undurchdringlichkeit, und sie bestehen auch nicht aus Molekülen oder Atomen; aber andererseits ist es insbesondere aus materialistischer/physikalistischer Sicht irreführend und unrichtig, sie allein deshalb als nichtmaterielle, immaterielle oder nichtphysische Entitäten zu bezeichnen.
(* Nach meiner ontologischen Auffassung haben alle Okkurrenzen wie Ereignisse substanzielle Kerne, d.h. sie enthalten Substanzen, die als Okkurrenzsubstrate fungieren; und Okkurrenzsubstrate können sehr wohl materielle Eigenschaften haben sowie aus Molekülen und Atomen bestehen.)
Okkurrenzen wie Ereignisse, deren Substrate aus Elementarteilchen, Atomen oder/und Molekülen bestehen, bestehen folglich selbst teilweise aus materiellen Dingen.



"Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst." – Juliane Werding

Benutzeravatar
Consul
Beiträge: 1622
Registriert: Mo 29. Apr 2024, 00:13

Fr 5. Sep 2025, 07:45

Timberlake hat geschrieben :
Fr 5. Sep 2025, 02:32
…und dir die Bezeichnung Panphysismus , als Alternative zum Physikalismus/Materialismus gut gefällt, so würde mit dieser Bezeichnung allerdings sowohl der Physikalismus, als auch der Materialismus obsolet werden.
Es darf doch mehrere Namen für dieselbe Sache geben, oder nicht?
Timberlake hat geschrieben :
Fr 5. Sep 2025, 02:32
Consul hat geschrieben :
Di 2. Sep 2025, 01:16
Ich denke (und hoffe), meine einschlägigen Erläuterungen verringern die Wahrscheinlichkeit von Missverständnissen erheblich;
Wie dem auch sei, als eine Verringerung der Wahrscheinlichkeit von Missverständnissen würde ich solche einschlägigen Erläuterungen nicht bezeichnen wollen. Ganz im Gegenteil.
Wenn meine Erläuterungen das Gegenteil meiner Absicht bewirken und mehr Unklarheit als Klarheit erzeugen, dann bin ich ein miserabler Denker und Schreiber. Manchmal trägt aber auch der Leser seinen Teil dazu bei.



"Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst." – Juliane Werding

Benutzeravatar
Consul
Beiträge: 1622
Registriert: Mo 29. Apr 2024, 00:13

Fr 5. Sep 2025, 23:58

Ich verstehe unter "Panphysismus" die Ansicht, dass alle Entitäten (Substanzen, Okkurrenzen oder Adhärenzen) physische Entitäten sind.

Diese höchst allgemeine Definition kann wohlgemerkt sowohl reduktionistisch als auch eliminativistisch interpretiert werden:
1. reduktiver Panphysismus: Alle Entitäten sind physische Entitäten; und es gibt zwar biotische und psychische Entitäten, aber sie sind nichts weiter als (ontisch reduzible) biophysische oder psychophysische Entitäten. (In Bezug auf mentale/immaterielle Substanzen ist diese Version des Panphysismus jedoch eliminativistisch!)
2. eliminativer Panphysismus: Alle Entitäten sind physische Entitäten; und es gibt keine biotischen oder psychischen Entitäten.

Ein Vergleich mit dem Panpsychismus:
"Das Wort „Panpsychismus“ bedeutet wörtlich, dass alles einen Geist hat. In zeitgenössischen Debatten wird es jedoch allgemein als die Ansicht verstanden, dass Geistigkeit [Mentalität] in der natürlichen Welt grundlegend und allgegenwärtig ist. In Verbindung mit der weit verbreiteten Annahme (die im Folgenden überdacht wird), dass grundlegende Dinge nur auf Mikroebene existieren, impliziert der Panpsychismus, dass zumindest einige Arten von Entitäten auf Mikroebene über Mentalität verfügen und dass Instanzen dieser Art in allen Dingen im gesamten materiellen Universum zu finden sind. Während der Panpsychist also davon ausgeht, dass Mentalität in der gesamten natürlichen Welt verteilt ist – in dem Sinne, dass alle materiellen Objekte Teile mit mentalen Eigenschaften haben –, muss er nicht davon ausgehen, dass buchstäblich alles einen Geist hat, z. B. muss er nicht davon ausgehen, dass ein Stein mentale Eigenschaften hat (nur, dass die grundlegenden Teile des Steins dies tun)." [Google Translate]

SEP: Panpsychismus [Google Translate]
1. Wenn das Präfix "pan-" nicht wörtlich genommen und gesagt wird, dass nicht alle Objekte/Substanzen mentale Eigenschaften haben, sondern nur bestimmte fundamentale, dann sollte man diesen Standpunkt besser nicht "Panpsychismus" nennen.
Galen Strawson hat die Bezeichnung "Mikropsychismus" für die Ansicht gebraucht, dass bestimmte mikrophysikalische Fundamentalobjekte (Elementarteilchen) mentale Eigenschaften haben. Jetzt verwendet er den Ausdruck "Archepsychismus" für die Ansicht, dass mentale Eigenschaften fundamentale Eigenschaften in der Natur sind.

2. Wenn das Präfix "pan-" wörtlich genommen und gesagt wird, dass alle Objekte/Substanzen mentale Eigenschaften haben, dann bedeutet dies nicht, dass alle Entitäten mentale Entitäten sind, einschließlich aller Objekte/Substanzen. Denn der so definierte Panpsychismus schließt den reduktiven Mentalismus à la Berkeley nicht ein, dem zufolge nichts existiert außer mentalen Substanzen (Geistern, Seelen) und deren mentalen Attributen, wobei scheinbar materielle Objekte in Wirklichkeit nichts weiter sind als Komplexe mentaler Attribute (Empfindungskomplexe).
Der reduktive Mentalismus ist panpsychistisch, weil alle mentalen Substanzen per definitionem mentale Attribute haben; aber der Panpsychismus ist nach der üblichen Definition nicht reduktiv-mentalistisch (oder gar eliminativ-mentalistisch).



"Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst." – Juliane Werding

Benutzeravatar
Consul
Beiträge: 1622
Registriert: Mo 29. Apr 2024, 00:13

Sa 6. Sep 2025, 02:33

Consul hat geschrieben :
Fr 5. Sep 2025, 07:04
Man stelle sich eine materiell-energetische, räumlich-zeitliche Welt (MERZ-Welt) vor, die völlig frei ist von Leben, Geist, Bewusstsein, Sprache, Kultur und Abstraktem (im ontologischen Sinn von "abstrakt"). Ich nenne eine solche Welt eine urphysische Welt.
Alle Substanzen, Okkurrenzen oder Adhärenzen, die in einer solchen Welt vorkommen oder vorkommen könnten, sind urphysische Entitäten.
Ich nenne eine Substanz, Okkurrenz oder Adhärenz genau dann physisch, wenn sie entweder eine urphysische Entität ist oder eine Entität, die nichts weiter ist als ein Komplex/System urphysischer Entitäten.
Diese Definition schließt wohlgemerkt ontisch emergente biotische oder psychische Eigenschaften von der Klasse der physischen Eigenschaften aus, weil jene per definitionem weder urphysische Eigenschaften noch Gefüge urphysischer Eigenschaften sind.
"Der Materialismus ist die Auffassung, dass nur die physikalische Welt irreduzibel real ist[.]"

(Nagel, Thomas. Geist und Kosmos: Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist. Übers. v. Karin Wördemann. Berlin: Suhrkamp, 2013. S. 58)
Das englische Adjektiv "physical" kann auch mit "physisch" übersetzt werden:

"Der (reduktive) Materialismus ist die Auffassung, dass nur die physische Welt irreduzibel real ist."

Der reduktive Materialismus beinhaltet einen fundamentalen Inanimismus:

"Der (reduktive) Materialismus ist die Auffassung, dass nur die urphysische Welt – d.i. die unbelebt-unbegeistete/unbeseelte Natur – irreduzibel real ist."

Die biotische Welt als biophysischer Teil der physischen Welt und die psychische Welt als psychophysischer Teil der physischen Welt sind reduzibel real.

Zum Präfix "ur-" in "urphysisch":
"ur- zur bezeichnung des ersten, anfänglich vorhandenen, ursprünglichen, unabgeleiteten, originalen, primitiven, unverfälschten, reinen…"

GRIMM: https://www.dwds.de/wb/dwb/ur-



"Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst." – Juliane Werding

Timberlake
Beiträge: 2725
Registriert: Mo 16. Mai 2022, 01:29
Wohnort: Shangrila 2.0

Sa 6. Sep 2025, 03:00

Consul hat geschrieben :
Fr 5. Sep 2025, 07:04
Wenn wir Entitäten in die drei ontologischen Hauptkategorien Substanzen (Wesen, Dinge, Gegenstände/Objekte), Okkurrenzen (Ereignisse, Vorgänge, Zustände, Sachverhalte/Tatsachen) und Adhärenzen (= Bernard Bolzanos Fachausdruck für Attribute: Eigenschaften [Qualitäten, Quantitäten, Quidditäten] oder Beziehungen [Relationen]) einteilen, dann sind Okkurrenzen und Adhärenzen insofern nicht im selben Sinn materiell wie materielle Substanzen, als sie selbst keine stofflichen Wesen oder körperlichen Dinge (Körper) sind.
Was heißt hier: "Wenn wir .. ?"
Zunächst einmal würde ich meinen, dass Entitäten, ohne Wenn und Aber, in diese drei ontologischen Hauptkategorien eingeteilt werden. Es ist ja nicht so, als ob wir, was dieses "Wenn" unterstellt, eine Wahl hätten, das nicht zu tun.
Consul hat geschrieben :
Fr 5. Sep 2025, 07:04
Man stelle sich eine materiell-energetische, räumlich-zeitliche Welt (MERZ-Welt) vor, die völlig frei ist von Leben, Geist, Bewusstsein, Sprache, Kultur und Abstraktem (im ontologischen Sinn von "abstrakt"). Ich nenne eine solche Welt eine urphysische Welt.
Alle Substanzen, Okkurrenzen oder Adhärenzen, die in einer solchen Welt vorkommen oder vorkommen könnten, sind urphysische Entitäten.
Zumal diese Einteilung der Entitäten auch in einer Welt besteht , die völlig frei ist von Leben, Geist, Bewusstsein, Sprache, Kultur und Abstraktem (im ontologischen Sinn von "abstrakt") Wäre doch wiederum Gegenteiliges unvorstellbar.


Es müsste also demnach heißen ..

"Entitäten werden in die drei ontologischen Hauptkategorien Substanzen (Wesen, Dinge, Gegenstände/Objekte), Okkurrenzen (Ereignisse, Vorgänge, Zustände, Sachverhalte/Tatsachen) und Adhärenzen (= Bernard Bolzanos Fachausdruck für Attribute: Eigenschaften [Qualitäten, Quantitäten, Quidditäten] oder Beziehungen [Relationen]) eingeteilt, deshalb sind Okkurrenzen und Adhärenzen insofern nicht im selben Sinn materiell wie materielle Substanzen, als sie selbst keine stofflichen Wesen oder körperlichen Dinge (Körper) sind."


Wenn es ( im ontologischen Sinn von "abstrakt") nach George ginge, ließen sich allerdings diese Entitäten vermutlich nur auf abstracte Ideen und dem zufolge auf eine Welt zurückführen, die aus Leben, Geist, Bewusstsein, Sprache, Kultur und Abstraktem (im ontologischen Sinn von "abstrakt") besteht.
  • "Es besteht in der That eine auffallend verbreitete Meinung, dass Häuser, Berge, Flüsse, mit Einem Wort, alle[22] sinnlichen Objecte, eine natürliche oder reale Existenz haben, welche von ihrem Percipirtwerden durch den denkenden Geist verschieden sei. Mit wie grosser Zuversicht und mit wie allgemeiner Zustimmung aber auch immer dieses Princip behauptet werden mag, so wird doch, wenn ich nicht irre, ein Jeder, der den Muth hat es in Zweifel zu ziehen, finden, dass dasselbe einen offenbaren Widerspruch involvirt. Denn was sind die vorhin erwähnten Objecte anderes als die sinnlich von uns wahrgenommenen Dinge, und was percipiren wir anderes als unsere eigenen Ideen oder Sinnesempfindungen? und ist es nicht ein vollkommener Widerspruch, dass irgend eine solche oder irgend eine Verbindung derselben unwahrgenommen existire?

    V. Wenn wir diese Annahme gründlich prüfen, so wird sich vielleicht herausstellen, dass sie sich schliesslich auf die Lehre von den abstracten Ideen zurückführen lässt. Denn kann wohl die Abstraction auf eine grössere Höhe getrieben werden, als bis zur Unterscheidung der Existenz sinnlicher Dinge von ihrem Percipirtwerden, so dass man sich vorstellt, sie existirten unpercipirt?"
    George Berkeley ... Abhandlungen über die Principien der menschlichen Erkenntnis
Denn was sind die vorhin drei erwähnten ontologischen Hauptkategorien Substanzen (Wesen, Dinge, Gegenstände/Objekte), Okkurrenzen (Ereignisse, Vorgänge, Zustände, Sachverhalte/Tatsachen) und Adhärenzen (= Bernard Bolzanos Fachausdruck für Attribute: Eigenschaften [Qualitäten, Quantitäten, Quidditäten] oder Beziehungen [Relationen]) anderes als die sinnlich von uns wahrgenommenen Dinge? und ist es nicht ein vollkommener Widerspruch, dass irgend eine solche oder irgend eine Verbindung derselben unwahrgenommen existire? Um es mal mit den Worten Berkeley zu formulieren.




Benutzeravatar
Jörn P Budesheim
Beiträge: 803
Registriert: Do 3. Jul 2025, 10:15
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

Sa 6. Sep 2025, 14:39

Der Physikalismus ist keine naturwissenschaftliche Theorie. Im Gegenteil: Er verstößt meines Erachtens sogar gegen das wissenschaftliche Vorgehen. Denn wenn eine Theorie hartnäckig an den Beobachtungen scheitert, muss man sie irgendwann revidieren oder durch eine neue ersetzen. Genau das weigert sich der Physikalismus zu tun: Statt seine Annahmen in Frage zu stellen, deutet er die Beobachtungen einfach um.

Eine dieser Beobachtungen ist, dass wir freie, geistige Lebewesen sind. Für diesen Bereich hat der Physikalismus nicht einmal eine angemessene Begrifflichkeit. Viele seiner Vertreter bestreiten sogar, dass wir Freiheit besitzen oder überhaupt geistige Wesen sind. Mit anderen Worten: Anstatt anzuerkennen, dass die Theorie mit den Beobachtungen nicht übereinstimmt, werden kurzerhand die Beobachtungen so uminterpretiert, dass sie zur Theorie passen.




Timberlake
Beiträge: 2725
Registriert: Mo 16. Mai 2022, 01:29
Wohnort: Shangrila 2.0

Sa 6. Sep 2025, 17:11

Hat denn überhaupt irgendein ein " .. ismus" dafür eine angemessene Begrifflichkeit. Also, dass wir uns als freie geistige Lebewesen erfahren? Würde eine solche angemessene Begrifflichkeit, nicht schon allein deswegen unangemessen sein, weil diese Erfahrung möglicherweise eine Illusion ist?


Erinnert sei dazu an das Libet-Experiment. Übrigens ein Experiment, dass für eine Physikalismus steht, wie ich ihn verstehe.
Zuletzt geändert von Timberlake am Sa 6. Sep 2025, 17:31, insgesamt 2-mal geändert.




Benutzeravatar
Jörn P Budesheim
Beiträge: 803
Registriert: Do 3. Jul 2025, 10:15
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

Sa 6. Sep 2025, 17:13

Angemessene Begriffe und Darstellungen dafür findet man in der Philosophie und in der Kunst und sicherlich auch an anderen Stellen.




Benutzeravatar
Consul
Beiträge: 1622
Registriert: Mo 29. Apr 2024, 00:13

Sa 6. Sep 2025, 22:53

Timberlake hat geschrieben :
Sa 6. Sep 2025, 03:00
Consul hat geschrieben :
Fr 5. Sep 2025, 07:04
Wenn wir Entitäten in die drei ontologischen Hauptkategorien Substanzen (Wesen, Dinge, Gegenstände/Objekte), Okkurrenzen (Ereignisse, Vorgänge, Zustände, Sachverhalte/Tatsachen) und Adhärenzen (= Bernard Bolzanos Fachausdruck für Attribute: Eigenschaften [Qualitäten, Quantitäten, Quidditäten] oder Beziehungen [Relationen]) einteilen, dann sind Okkurrenzen und Adhärenzen insofern nicht im selben Sinn materiell wie materielle Substanzen, als sie selbst keine stofflichen Wesen oder körperlichen Dinge (Körper) sind.
Was heißt hier: "Wenn wir .. ?"
Zunächst einmal würde ich meinen, dass Entitäten, ohne Wenn und Aber, in diese drei ontologischen Hauptkategorien eingeteilt werden. Es ist ja nicht so, als ob wir, was dieses "Wenn" unterstellt, eine Wahl hätten, das nicht zu tun.
Tatsächlich hat man die Wahl, denn ein von allen Ontologen anerkanntes Kategoriensystem gibt es nicht. Die analytische Ontologie ist im Wesentlichen eine Kategorienlehre, in der es um die Frage geht, welche ontologischen Kategorien in der Realität von Entitäten besetzt sind und welche nicht. Darüber herrscht keine Einigkeit in der Philosophie. Es gibt beispielsweise eine reine Prozessontologie, die die Existenz von Substanzen verneint; und es gibt Nominalisten, die die Existenz von Adhärenzen (Eigenschaften oder Beziehungen) verneinen.
Es herrscht außerdem nicht einmal metaontologische Einigkeit darüber, ob Kategorien höchste Arten oder Gattungen von Seiendem oder nur höchste Begriffe unseres Denkens sind. Siehe: SEP: Kategorien [Google Translate]
"Metaphysik ist in ihrer Minimalform die Tätigkeit der kategorialen Beschreibung. Ihr Gegenstand sind die grundlegendsten Aspekte unseres Denkens und Sprechens über die Wirklichkeit, die grundlegendsten Merkmale der Wirklichkeit, wie sie sich uns präsentiert. Wir unterteilen die Welt in Pferde und Züge, Menschen und Berge, Schlachten und Städte und ein komplexes Gefüge unterschiedlicher Dinge; unsere Sprache ist der Speicher dieser enorm reichen Ausstattung der Welt. Doch lassen sich innerhalb dieser Fülle auch allgemeine Unterteilungen erkennen, etwa zwischen Dingen und ihren Eigenschaften oder zwischen Ereignissen und den Zeiten und Orten, an denen sie geschehen. Mit diesem allgemeinen Muster unserer Kategorisierung von Weltelementen beschäftigt sich die Metaphysik. Die grundlegenden Unterteilungen, die unser Denken und Sprechen über die Wirklichkeit mit sich bringt, sind das Ziel kategorialer Beschreiber." [Google Translate]

(Carr, Brian. Metaphysics: An Introduction. Atlantic Highlands, NJ: Humanities Press, 1987. p. 2)

"Wichtig für uns ist nun zu betonen, dass Kant nicht über das Denken zur Realität hinausgeht, um seine Kategorien zu finden. Sie sind die grundlegenden Formen des Denkens, eingebettet in die Formen des Urteils. Dies stellt Kant in einen starken Gegensatz zu Aristoteles, für den die Kategorien, wie auch immer sie definiert wurden, natürliche, reale Unterteilungen der Dinge in der Welt waren. Ich möchte diesen Gegensatz so darstellen, dass Aristoteles ein kategorialer Realist war, Kant hingegen ein kategorialer Konzeptualist. Ein kategorialer Realist versteht die Kategorien, die er zu beschreiben versucht, als Markierungen realer Arten, die in den Dingen zu finden sind, die gemeinsam die Wirklichkeit ausmachen. Er betrachtet die kategoriale Beschreibung daher als ununterscheidbar von (oder zumindest als einen wichtigen Teil) der großen traditionellen Aufgabe der Metaphysik. Für den kategorialen Konzeptualisten besteht die Aufgabe darin, die grundlegenden Merkmale unseres begrifflichen Schemas, unseres Denkens und Sprechens über die Wirklichkeit zu beschreiben, ohne Annahmen darüber zu treffen, wie die Wirklichkeit unabhängig von dieser Denk- und Sprechweise existiert." [Google Translate]

(Carr, Brian. Metaphysics: An Introduction. Atlantic Highlands, NJ: Humanities Press, 1987. p. 6)
Timberlake hat geschrieben :
Sa 6. Sep 2025, 03:00
Wenn es ( im ontologischen Sinn von "abstrakt") nach George ginge, ließen sich allerdings diese Entitäten vermutlich nur auf abstracte Ideen und dem zufolge auf eine Welt zurückführen, die aus Leben, Geist, Bewusstsein, Sprache, Kultur und Abstraktem (im ontologischen Sinn von "abstrakt") besteht.
In Berkeley's immaterialistischem Universum gibt es Substanzen, Okkurrenzen und Adhärenzen; sie sind nur alle mentaler Natur.
Abstrakte oder generelle Ideen (Allgemeinbegriffe) in Berkeley's und Locke's Sinn sind mentale Entitäten und gehören als solche zu den konkreten Entitäten. Sie sind nicht im platonistischen Sinn abstrakt, was bedeuten würde, dass sie weder mentale noch physische Entitäten sind.

Laut Berkeley bestehen die scheinbar außergeistigen Objekte der Sinneswahrnehmung in Wirklichkeit aus innergeistigen Ideen, die als Perzepte keine abstrakten oder generellen Konzepte sind. Einen "allgemeinen Hund"/"Hund im Allgemeinen" kann man nicht sehen, sondern immer nur einen besonderen, einzelnen Hund, der unter den Allgemeinbegriff "Hund" fällt.
Timberlake hat geschrieben :
Sa 6. Sep 2025, 03:00
Denn was sind die vorhin drei erwähnten ontologischen Hauptkategorien Substanzen (Wesen, Dinge, Gegenstände/Objekte), Okkurrenzen (Ereignisse, Vorgänge, Zustände, Sachverhalte/Tatsachen) und Adhärenzen (= Bernard Bolzanos Fachausdruck für Attribute: Eigenschaften [Qualitäten, Quantitäten, Quidditäten] oder Beziehungen [Relationen]) anderes als die sinnlich von uns wahrgenommenen Dinge? und ist es nicht ein vollkommener Widerspruch, dass irgend eine solche oder irgend eine Verbindung derselben unwahrgenommen existire? Um es mal mit den Worten Berkeley zu formulieren.
Für einen kategorialen Realisten wie mich besteht bezüglich der oben erwähnten Kategorien keine grundsätzliche Wahrnehmungsabhängigkeit. Berkeley's berühmtes Diktum – Sein heißt Wahrgenommenwerden (esse est percipi) – halte ich für falsch.



"Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst." – Juliane Werding

Benutzeravatar
Consul
Beiträge: 1622
Registriert: Mo 29. Apr 2024, 00:13

Sa 6. Sep 2025, 23:39

Jörn P Budesheim hat geschrieben :
Sa 6. Sep 2025, 14:39
Der Physikalismus ist keine naturwissenschaftliche Theorie. Im Gegenteil: Er verstößt meines Erachtens sogar gegen das wissenschaftliche Vorgehen. Denn wenn eine Theorie hartnäckig an den Beobachtungen scheitert, muss man sie irgendwann revidieren oder durch eine neue ersetzen. Genau das weigert sich der Physikalismus zu tun: Statt seine Annahmen in Frage zu stellen, deutet er die Beobachtungen einfach um.

Eine dieser Beobachtungen ist, dass wir freie, geistige Lebewesen sind. Für diesen Bereich hat der Physikalismus nicht einmal eine angemessene Begrifflichkeit. Viele seiner Vertreter bestreiten sogar, dass wir Freiheit besitzen oder überhaupt geistige Wesen sind. Mit anderen Worten: Anstatt anzuerkennen, dass die Theorie mit den Beobachtungen nicht übereinstimmt, werden kurzerhand die Beobachtungen so uminterpretiert, dass sie zur Theorie passen.
Mir sind keine empirischen Daten/Fakten bekannt, die den Physikalismus widerlegen. Er bzw. die Naturwissenschaft ist zwar mit großen theoretischen Herausforderungen wie den Bewusstseinsphänomenen konfrontiert; aber das Aufdecken von (derzeitigen) Erklärungslücken innerhalb des physikalistischen Weltbildes ist keine Falsifizierung desselben, wenngleich seine Gegner darin zumindest eine Diskreditierung sehen.
Aber was haben Antiphysikalisten an wissenschaftlich ernst zu nehmenden Erklärungen der Bewusstseins- oder Lebensentstehung anzubieten?! Sind antiphysikalistische Weltbilder etwa frei von Erklärungslücken?!
"If the rivals of materialism have any advantage it must be because there are some residual phenomena which they can explain better. Now, most of the phenomena which the supernaturalist throws in the naturalist's teeth are such as the supernaturalist himself has never explained."
———
"Wenn die Rivalen des Materialismus irgendeinen Vorteil haben, muss er darin bestehen, dass es einige Restphänomene gibt, die sie besser erklären können. Nun, die meisten der Phänomene, die der Supernaturalist dem Naturalisten entgegenhält sind dergestalt, dass sie der Supernaturalist selbst niemals erklärt hat." [meine Übers.]

(Williams, Donald Cary. "Naturalism and the Nature of Things." In Principles of Empirical Realism: Philosophical Essays, 212-238. Springfield, IL: Charles C Thomas, 1966. p. 234)
Dass wir geistig-seelische Eigenschaften oder Zustände haben, ist eine empirische Tatsache, die von reduktiven Materialisten nicht bestritten wird.
Wie frei wir in unseren Entscheidungen und Handlungen sind, ist dagegen eine höchst umstrittene Frage. Die Antwort hängt auch davon, was genau unter Freiheit verstanden wird. Wenn Handlungsfreiheit darin besteht, dass man tun/lassen kann, was man tun/lassen will (weil einen nichts und niemand daran hindert), dann können Materialisten diesen Freiheitsbegriff problemlos anerkennen.
Der "freie Wille" ist ein großes und weites Thema; aber es ist jedenfalls ein Irrtum anzunehmen, dass Materialisten notwendigerweise Deterministen sind. Ich persönlich halte es allerdings für ausgeschlossen, dass sich der (hauptsächlich von Theologen propagierte) antideterministische Willenslibertarismus (wie von Chisholm beschrieben) in stimmiger Weise mit dem Materialismus vereinbaren lässt.
"[E]ach of us, when we act, is a prime mover unmoved. In doing what we do, we cause certain events to happen, and nothing—or no one—causes us to cause those events to happen."
———
"Wenn wir handeln, ist jeder von uns ein unbewegter Erstbeweger. Indem wir tun, was wir tun, bewirken wir den Eintritt bestimmter Ereignisse, und nichts—oder niemand—bewirkt, dass wir den Eintritt jener Ereignisse bewirken." [© meine Übers.]

(Chisholm, Roderick M. On Metaphysics. Minneapolis, MN: University of Minnesota Press, 1989. p. 12)
Consul: viewtopic.php?p=77459#p77459



"Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst." – Juliane Werding

Benutzeravatar
Jörn P Budesheim
Beiträge: 803
Registriert: Do 3. Jul 2025, 10:15
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

So 7. Sep 2025, 07:19

Consul hat geschrieben :
Sa 6. Sep 2025, 23:39
Supernaturalist
Dieser Begriff setzt deine eigene Sicht der Dinge bereits voraus: es gibt einen Teppich der Tatsachen und alles was davon abweicht, muss von da aus beschrieben werden. Ich bin aber kein Supernaturalist.

Wir sind freie, geistige Lebewesen, der Naturalismus hat davon keinen Begriff, ja er kann davon nicht mal einen Begriff haben, weil unsere z.b Selbstbildfähigkeit gar nicht in physikalischen Begriffen fassbar ist.
Consul hat geschrieben :
Sa 6. Sep 2025, 23:39
Dass wir geistig-seelische Eigenschaften oder Zustände haben, ist eine empirische Tatsache ...
Das ist aber gar nicht die Behauptung. Und genau das meine ich mit umdeuten!




Benutzeravatar
Jörn P Budesheim
Beiträge: 803
Registriert: Do 3. Jul 2025, 10:15
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

So 7. Sep 2025, 07:39

Consul hat geschrieben : So schwierig und langwierig sie auch sein mag, die materialistische Integration der Welt 2 in die Welt 1 durch die Naturwissenschaft hat sich mitnichten als unmöglich erwiesen. Die kognitive Neurowissenschaft macht in Sachen unbewusster Geist ständig Fortschritte; und so bleibt den den attributsdualistischen Emergentisten eigentlich nur noch der bewusste Geist (die Empfindungen und Gefühle, die "Qualia") als letzter Hoffnungsschimmer, wobei ich den attributsdualistischen Emergentismus (insbesondere den nichtepiphänomenalistischen mit seiner mysteriösen "Abwärtsverursachung") nicht einmal für ontologisch kohärent halte.

Was den Substanzdualismus (und den spiritualistischen Substanzmonismus) anbelangt, so wissen seine Anhänger nicht einmal, wie sie überhaupt beginnen könnten, das Bewusstsein von Seelensubstanzen und dessen Entstehung daraus wissenschaftlich zu erklären. Körper und Gehirne kann man sinnlich wahrnehmen, sezieren und mikroskopisch untersuchen, unsichtbare und unantastbare Geister dagegen nicht. Eine spiritualistische "Übernaturwissenschaft" des Bewusstseins wird es nie geben.\
Dieser Textabschnitt hat mich gestern bei meinem morgendlichen Spaziergang an etwas erinnert. Es gibt eine Analogie in der Geschichte der Wissenschaften: Das geozentrische Weltbild wurde zunehmend komplexer, da es nicht mit den Beobachtungen übereinstimmte. Daher brauchte es immer neue Zusatzannahmen, sogenannte Epizyklen, um das Grundbild zu retten. Beim Recherchieren habe ich festgestellt, dass dieser Vergleich eine gängige Analogie ist. Viele Philosophen – so findet man im Netz – weisen ausdrücklich darauf hin, dass die materialistische Erklärung des Bewusstseins (um nur ein Beispiel zu nennen) heute ähnlich „hilfskonstruiert“ und „epizyklisch“ wirkt wie frühere Weltbilder vor wissenschaftlichen Revolutionen.

Das entspricht exakt meinem Gefühl: Wir stehen, glaube ich, vor einer großen Wende. Es gibt einfach zu viele "Erklärungslücken", gerade an zentralen Stellen.




Benutzeravatar
Consul
Beiträge: 1622
Registriert: Mo 29. Apr 2024, 00:13

Mo 8. Sep 2025, 02:08

Jörn P Budesheim hat geschrieben :
So 7. Sep 2025, 07:19
Consul hat geschrieben :
Sa 6. Sep 2025, 23:39
…Supernaturalist…
Dieser Begriff setzt deine eigene Sicht der Dinge bereits voraus: es gibt einen Teppich der Tatsachen und alles was davon abweicht, muss von da aus beschrieben werden. Ich bin aber kein Supernaturalist.
Wir sind freie, geistige Lebewesen, der Naturalismus hat davon keinen Begriff, ja er kann davon nicht mal einen Begriff haben, weil unsere z.b Selbstbildfähigkeit gar nicht in physikalischen Begriffen fassbar ist.
Ich habe bereits im Mai 24 in meinem Eröffnungsbeitrag in diesem Diskussionsstrang klar und deutlich auf den Unterschied zwischen dem repräsentationalen/semiotischen Reduktionismus und dem existenziellen/ontologischen Reduktionismus sowie darauf hingewiesen, dass der reduktive Materialismus Letzteren einschließt, aber nicht notwendigerweise Ersteren. Siehe insbesondere die Smart-Zitate im oben verlinkten Beitrag!
Jörn P Budesheim hat geschrieben :
So 7. Sep 2025, 07:19
Consul hat geschrieben :
Sa 6. Sep 2025, 23:39
Dass wir geistig-seelische Eigenschaften oder Zustände haben, ist eine empirische Tatsache ...
Das ist aber gar nicht die Behauptung. Und genau das meine ich mit umdeuten!
Was für "Umdeutungen"? Ich kann dir hier leider nicht folgen.
"Wir sind freie, geistige Lebewesen." – Wenn du unter "geistigen Lebewesen" nicht materielle Substanzen (Körper, Leiber) mit geistig-seelischen Eigenschaften oder Zuständen verstehst, sondern immaterielle/spirituelle Substanzen (Geister, Seelen), dann wird deren Existenz von Materialisten nicht "umgedeutet", sondern schlichtweg verneint.

Du stellst es als Beobachtungstatsache hin, dass wir freie Lebewesen sind; doch dabei bleibt unklar, was mit "Freiheit" gemeint ist. Was genau willst du anhand von Beobachtungen festgestellt haben?

Eine im libertaristischen Sinn freie Entscheidung oder Handlung einer Person ist eine, die weder (ursächlich) vorherbestimmt noch rein zufällig ist. Libertäre Willensfreiheit ist mit dem (kausalen) Determinismus inkompatibel.
Es gibt jedoch Deterministen, die an eine nichtlibertäre Willensfreiheit glauben, die mit dem Determinismus kompatibel ist.

Ist deine Behauptung nun…
A. Der Determinismus ist falsch und wir verfügen über libertäre Willensfreiheit (Entscheidungs-/Handlungsfreiheit).
ODER
B. Der Determinismus ist wahr und wir verfügen über nichtlibertäre Willensfreiheit (Entscheidungs-/Handlungsfreiheit).
?

Ich vermute, du behauptest A.
Ich halte den Glauben an libertäre Willensfreiheit (wie sie von Chisholm treffend beschrieben wird) für einen der größten Irrtümer der Menschheit. Es ist ein supernaturalistischer Glaube an ein "freischwebendes" Kausalvermögen in uns, das es uns als Subjekten oder Personen ermöglicht, "unbewegte Erstbeweger", unverursachte Erstverursacher oder unbeeinflusste Beeinflusser zu sein.
"Wenn wir handeln, ist jeder von uns ein unbewegter Erstbeweger. Indem wir tun, was wir tun, bewirken wir den Eintritt bestimmter Ereignisse, und nichts—oder niemand—bewirkt, dass wir den Eintritt jener Ereignisse bewirken." [meine Übers.]

(Chisholm, Roderick M. On Metaphysics. Minneapolis, MN: University of Minnesota Press, 1989. p. 12)



"Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst." – Juliane Werding

Benutzeravatar
Consul
Beiträge: 1622
Registriert: Mo 29. Apr 2024, 00:13

Mo 8. Sep 2025, 02:43

Jörn P Budesheim hat geschrieben :
So 7. Sep 2025, 07:39
Das entspricht exakt meinem Gefühl: Wir stehen, glaube ich, vor einer großen Wende. Es gibt einfach zu viele "Erklärungslücken", gerade an zentralen Stellen.
Diese lassen sich gerade aus naturalististischer/materialistischer Sicht erklären: Wir Menschen sind evolutionär entstandene Tiere, Affen, genauer gesagt; und wie alle anderen Affenarten haben auch wir einen endlichen, beschränkten Geist, der uns daran hindert, allwissend zu werden. Es wäre folglich ein Wunder, wenn wir mit unserem Affengehirn ausnahmslos alles wissenschaftlich verstehen und erklären könnten.
Ein ontologischer Naturalist/Materialist ist aus diesem Grund beispielsweise nicht gezwungen, das natürliche Rätsel des Bewusstseins für naturwissenschaftlich lösbar zu halten. Was er behaupten muss, ist lediglich, dass wenn es überhaupt von uns Menschen gelöst werden kann, die Lösung eine naturwissenschaftliche (genauer: neurowissenschaftliche) sein wird, welche im Einklang mit dem materialistischen Naturalismus steht.



"Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst." – Juliane Werding

Benutzeravatar
Consul
Beiträge: 1622
Registriert: Mo 29. Apr 2024, 00:13

Mo 8. Sep 2025, 03:43

Jörn P Budesheim hat geschrieben :
So 7. Sep 2025, 07:19
…Ich bin aber kein Supernaturalist.
Wir sind freie, geistige Lebewesen, der Naturalismus hat davon keinen Begriff, ja er kann davon nicht mal einen Begriff haben, weil unsere z.b Selbstbildfähigkeit gar nicht in physikalischen Begriffen fassbar ist.
Du bist weder Supernaturalist noch Naturalist? Wie soll das gehen? (Ich setze den Naturalismus hier nicht mit dem Materialismus gleich.)



"Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst." – Juliane Werding

Benutzeravatar
Consul
Beiträge: 1622
Registriert: Mo 29. Apr 2024, 00:13

Mo 8. Sep 2025, 03:50

Jörn P Budesheim hat geschrieben :
So 7. Sep 2025, 07:39
Das entspricht exakt meinem Gefühl: Wir stehen, glaube ich, vor einer großen Wende. Es gibt einfach zu viele "Erklärungslücken", gerade an zentralen Stellen.
Wohin sollen wir uns denn wenden, wenn wir uns vom (reduktiven) Materialismus abwenden sollen? Zum Panpsychismus oder Hylozoismus etwa?



"Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst." – Juliane Werding

Benutzeravatar
Jörn P Budesheim
Beiträge: 803
Registriert: Do 3. Jul 2025, 10:15
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

Mo 8. Sep 2025, 08:05

Ich hab bei der Frage (fast) keine Wette am Laufen. Allerdings denke ich, dass der Materialismus mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit falsch ist. Das finde ich zu offensichtlich. Was ihn ablösen wird, kann ich dir nicht sagen. Irgendeine Form von Pluralismus dürfte am Wahrscheinlichsten sein. Gabriels Ontologie finde ich bekanntlich recht attraktiv. Apropos Wette: David Chalmers und Christof Koch wetteten 1998, dass bis 2023 der wissenschaftliche Ursprung des Bewusstseins und sein Ort im Gehirn zweifelsfrei gefunden wird – Koch glaubte daran, Chalmers bezweifelte es. Der Philosoph hat die Wette gewonnen und der Hirnforscher mittlerweile wohl auch seinen Standpunkt geändert. Vielleicht wird das "harte Problem" auch niemals gelöst, darauf zu wetten, dürfte jedoch schwer einzulösen sein.




Antworten