Phantasie

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Wolfgang Endemann
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Mo 18. Nov 2024, 14:45

Thomas hat geschrieben :
So 17. Nov 2024, 12:28
landet man - wie Jörn ja auch zurecht zu einem meiner Beiträge bemerkt hat - in einem unbefriedigenden Relativismus, so wie es ja auch dem Pragmatismus letztlich widerfahren ist.
Es könnte sein, daß ich da ein Mißverständnis ausgelöst habe.

Um also meinen Vorkommentar zu ergänzen (ich bitte, die falsche Zitierweise darin zu entschuldigen): wenn ich von lebensfunktional gesprochen habe, so ist das keine notwendige Bedingung des Denkens, sondern nur eine der Entstehung des Denkens. Das Denken beginnt in der Not, eine rationale Lösung für existentielle Probleme zu finden, das erste Denken ist zweckrational. Sehr früh aber kommt es zur Selbstreflexion, und damit zur Frage "was/wer bin ich", sie stürzt den Menschen in den Zweifel, das erzählt die biblische Geschichte mit dem Sündenfall, dem Ende der Selbstverständlichkeit, Naivität, des "Paradieses", mit dem Apfelbaum der Erkenntnis, der Lust und Last des Wissens/Nichtwissens. Das Denken ist nicht zu haben ohne die Möglichkeit, falsch zu denken, aber weil richtiges Denken belohnt wird, kommt es zum unstillbaren Willen zum Denken/Wissen (und das mußte die Religion als Erbsünde, weil sie gefährdend, brandmarken). Das ist mehr als das immer schon bei Tieren vorhandene Neugierverhalten, das für bewegliche Organismen fundamental ist (es müssen zB Nahrungsquellen erschlossen werden).

Ich sagte, Denken steuert das Verhalten zum Nutzen des Organismus. Dazu muß das Denken nicht richtig sein. Es kommt primär nur darauf an, daß die Verbindung von Denkstrukturen mit den Realstrukturen funktioniert, nützt. Freilich, optimaler Nutzen ist nur mit Abbildungstreue in der Repräsentation der Realstrukturen möglich, also mit Isomorphie der Denkstrukturen.

Damit kommen wir zur Frage des Relativismus. Der Pragmatismus hat diesen Punkt der "Lebensfunktionalität". Aber er irrt, weil er dabei stehen bleibt. Angepaßte Strukturen benötigen kein Subjekt, sie lassen sich (naturwissenschaftlich) mit der Evolutionstheorie erklären. Es ist die Selbstreflexion des Denkens, die Ding und Gedanken trennt und so die Angemessenheit beider problematisiert. Es ist die Relativierung des Denkens, die dem Denken ermöglicht, sich zu verbessern, und das ist der evolutionäre Grund für die Ausbildung eines selbstreflexiven Denkens. Welches zwar ein absolut richtiges, also isomorphes Denken als unerreichbar ausschließt, aber durch diese Relativierung einen absoluten Standpunkt, den der Annäherung an das Absolute, gewinnt. Das Denken bleibt zweifelhaft, aber die Verbesserung durch Reflexion ist unbestreitbar.

Es gibt den kontinuierlich verbessernden Fortschritt im Denken, und es gibt den sprunghaften, revolutionären Fortschritt durch einen Paradigmenwechsel. Letzterer entwertet zwar, wenn er berechtigt ist, das vormalige Wissen total, aber die relativen Denkfortschritte im vormaligen bleiben relativ erhalten. So hat etwa die Hinzufügung von Epizyklen die Voraussagen in dem Plolemäischen Weltbild verbessert, auch wenn dieses Weltbild einer neuen richtigeren Sicht weichen mußte, und die Newtonsche Physik war nicht der Endpunkt, sie wurde durch die relativistische ersetzt, aber die Newtonsche hat ihre relative Gültigkeit in einer bestimmten Größenordnung erhalten können.

Es kann also keine Rede davon sein, daß die Anerkennung der Unerreichbarkeit der (vollkommenen) Wahrheit aüf einen Relativismus führt, im Gegenteil führt sie zu einem unabschließbaren Erkenntnisprozeß, Denken ist ein work in progress der Menschheit.

Ich möchte noch auf ein zweites häufig auftretendes Mißverständnis eingehen, das auf eine unklare Definition zurückzuführen ist. Die Begriffe "rational", "Rationalität" werden uneinheitlich gebraucht. Ich schließe mich der Sprechweise von Rationalität an, in der sämtliche Bewußtseinstatbestände als Kognition gefaßt sind, und damit einem umfassenden Sinn von Rationalität entsprechen. Das bedeutet, daß auch Gefühle, die ins Bewußtsein gelangen, als Kognition rational sind. Diejenigen Gefühle, die unbewußt bleiben, haben zwar durchaus auch Einfluß auf die Kognition, sind aber nicht rational, sondern arational. Irrational sind kognitive Akte, die nicht den ausgebildeten Regeln der Kognition folgen, die also antirational sind. Und dann gibt es den engeren Begriff der Rationalität, der Zweck(-Mittel)-Rationalität meint. Es ist, wie oben gesagt, die ursprüngliche Form der Kognition, Problemlösungsdenken, das aber zum Selbstzweck wird, wo es sich auf sich selbst bezieht. Dieser Unterschied wird begrifflich markiert durch den Unterschied von (zweckrationalem) Verstand und (reflexiver) Vernunft, die im engeren Sinne nicht rational (= einfach, in A folgt B, A├ B, A→B) auflösbar ist. Das bedeutt aber nicht, daß die Vernunft irrational ist, sondern daß sie der Logik des Komplexen, Imprädikativen folgt, einer höherwertigen Logik (was man gelegentlich mit einer mehrwertigen Logik zu simulieren versucht). In diesem Sinn sollte man die engere Logik/Rationalität des Verstands und die weitere der Vernunft gleichermaßen als Kognition, Denken ansprechen.




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Jörn Budesheim
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Mi 20. Nov 2024, 10:22

Hogrebe, philosophischer Surrealismus hat geschrieben : Nicholas Rescher hat diesen denkwürdigen Umstand, daß wir zugleich im Reich des Realen und Surrealen leben, im ungenannten Einklang mit dem Muster der neuplatonischen Anthropologie positiv als das 'amphibische' Wesen des Menschen gekennzeichnet. "Tatsächlich gibt es ein komplexes und doch enges Verhältnis zwischen den zwei Reichen der Realität und der Imagination. Wir können sie weder effektiv voneinander trennen, noch vermögen wir es, in dem einen Reich zu leben, ohne zugleich in das andere eingelassen zu sein." Die Pointe Reschers ist die: Das Zugleichsein im Imaginären und Realen ist keine Tat des Menschen, sondern Faktum seines Existierens. Wir werden eben in ein Zwischenreich, d. h. 'in the two realms of reality and imagination', oder, wie Gehlen sagt, in einen "etat imaginaire" hineingeboren.

Wir können Imaginäres und Reales eben deshalb nicht reinlich trennen und dürfen es auch nicht, sonst gäbe es keine 'Gründe'. Daß wir das aber wiederum überhaupt wissen können, dazu benötigen wir das, was Arnold Gehlen 'Urphantasie' nannte. Diese ist keine spezielle Begabung Weniger, sondern Grundausstattung aller Menschen. Diese 'Urphantasie' bewegt sich zwar, wie Gehlen zugibt, "an der Grenze der Denkbarkeit", sorgt aber dafür, daß wir durch "Identifikation mit einem Anderen die Voraussetzung des Selbsterlebnisses" realisieren, d. h. den intentionalen Bezug aufbauen können. Der Mensch kommt, so auch Hegel, von außen nach innen zu sich. Das geschieht durch unbewußte Mimesis, durch die wir uns erst aus Anderen und Anderem 'einholen'. Es kommt mit George Herbert Mead zuerst darauf an: to take the role of the other. Das kann jeder Adulte übrigens an der frühen Dauermimesis von Infanten ablesen.
Sorry, Hogrebe schreit sehr "fett", gelinde gesagt. Mich interessiert dieser Satz: Wir können Imaginäres und Reales eben deshalb nicht reinlich trennen und dürfen es auch nicht, sonst gäbe es keine 'Gründe'. Hogrebe erläutert das nicht. (Vielleicht an anderer Stelle, ich weiß es nicht.) Mich bringt es zu der Frage, in welchem Verhältnis Vernunft (unsere Sensibilität für Gründe) zur Fantasie steht.




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Thomas
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Mi 20. Nov 2024, 12:28

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 20. Nov 2024, 10:22
Mich bringt es zu der Frage, in welchem Verhältnis Vernunft (unsere Sensibilität für Gründe) zur Fantasie steht.
Dazu mal eine kurze Überlegung.

Phantasie hat ja wohl immer irgendwie damit zu tun, dass sich mir etwas einbildet, dass etwas sich in mich hineinbildet. Aber mit dieser Bildung allein ist nichts gewonnen, wenn man das Eingebildete nicht vernimmt. »Vernunft« könnte der Begriff sein, der dieses »Vernehmen« zum Ausdruck bringt. Eine Einbildung ohne Vernunft wäre z.B. der Eindruck eines Siegels in Wachs. Eine vernünftige Einbildung braucht einen Vernehmenden: Jemanden, der erfährt, bemerkt, empfindet. Das ist etwa schon der Fall, wenn ich einen Druck auf der Haut vernehme, wenn ich ihn mir also im Vernehmen zueigne und damit zugleich mich und das Drückende unterscheide. Für Gehlen ist das leibliche Vernehmen des Eingebildeten das vitale Muster von höherstufiger Vernunft und Geistigkeit. Man denke z.B. an das Heben des Arms, bei der sich ein Gefühl der Spannung und Anstrengung bemerkbar macht - das ist sozusagen 'Reflexion' im elementar leiblichem Selbstvollzug. Gehlen selbst wählt auch das Beispiel des Sprechens: Ich produziere einen Laut und höre ihn zugleich - das ist der vernünftige (weil sich-vernehmende) Mensch im Gegensatz etwa zu Alexa, die 'sich' nicht hört, also nichts vernimmt). Im gleichzeitigen Sprechen/Hören versorge ich mich selbst mit einer Einbildung (also dem geäußerten Laut), zu dem ich dann in ein Verhältnis des Vernehmens trete. Das ist eine primitive, sozusagen vor-rationale Weise von Selbstbewusstsein und Reflexion.




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Jörn Budesheim
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@Thomas: Verstehst du unter Vernunft Selbstbezüglichkeit und Reflexion?

Für mich ist Vernunft zwar auch ein "Vernehmen", wie die Etymologie nahelegt, aber im Zentrum stehen dabei Gründe.




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Thomas
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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 20. Nov 2024, 15:24
@Thomas: Verstehst du unter Vernunft Selbstbezüglichkeit und Reflexion?
Für die Antwort müsste ich eigentlich weit ausholen. Aber kurz gesagt: Ich verstehe Vernunft tatsächlich primär als Vernehmen. Die Verknüpfung mit 'Geist', 'Denken' oder Rationalität ist bei diesem Begriff von Vernunft nicht zwingend. Auch Wahrnehmung z.B. ist vernehmend: Das Schmecken von Honig ist in meinem Verständnis ebenso vernünftig wie die Wahrnehmung einer drohenden Gefahr. Oder: Ich pralle gegen eine Wand und erfahre ihre Härte.

Sach- und Selbstbezüglichkeit würde ich bei der Vernunft gerade nicht trennen - Sachbezug (im Sinne von 'Intentionalität') allein reicht nicht, weil die reine Sachausrichtung - wie auch immer man sie sich vorstellen sollte - nicht vernehmend wäre, da ihr das "Rückempfinden" (wie Gehlen es nennt) fehlt. Intentionalität als Sachausrichtung wäre eine Art Registrieren ohne Vernehmen, aber das gibt es für den Menschen wohl kaum. Wenn man die Hand auf eine kalte Tischfläche legt, bildet sich mir die Kälte ein, d.h.: Ich erfahre (fühle) sie. Das Erfahren ist aber keine 'Reflexion' in dem Sinne, dass sich die Sache in meinem Fühlen 'spiegelt' oder in ihr 'wiederkehrt'. Bei der Reflexion (man denke ans das Spiegelbild) gibt es ja zwei Sachen; das Gespiegelte und dessen Bild im Spiegel. Aber beim Vernehmen gibt es keine zwei Sachen: Es gibt nicht die kalte Fläche und zudem noch mein Registrieren dieser Kälte - sondern es gibt nur mein Vernehmen der Kälte des Tisches. Vernunft ist für mich so gesehen ein anderes Wort für die Gleichursprünglichkeit von Welt- und Selbstoffenheit. In diesem Sinne sehe ich den Menschen als Vernunftwesen.




Timberlake
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Fr 22. Nov 2024, 22:44

Thomas hat geschrieben :
Sa 16. Nov 2024, 12:57
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 16. Nov 2024, 09:25

Wir könnten niemals Wissen erlangen, würden wir in der bloßen Empirie stecken bleiben. Ohne Fantasie, kein Wissen. Wir wüssten nicht, was wir anderen schuldig sind, wenn wir uns nicht in sie hineinversetzen könnten. Ohne Fantasie, keine Ethik. Wir könnten uns keine bessere Welt ausmalen. Ohne Fantasie, keine Hoffnung. Und wir hätten keine Vorstellung davon, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Ohne Fantasie, kein Geist und keine Freiheit.
Ja, genau so meine ich es. Und man kann diese Liste um alles verlängern, was einem so einfällt. Es gäbe ohne Phantasie kein Haus, keinen Fußballplatz, keinen Krieg oder Frieden, keine Klarheit oder Unklarheit, kein Gestern oder Morgen, keine Freiheit und Unfreiheit...und übrigens auch keine Listen. Aber ich meine das (ähnlich wie Gehlen) nicht ontologisch, sondern rein anthropologisch: Das Menschsein ist durch und durch von Phantasie bestimmt, die Phantasie ist Motor menschlicher Tätigkeit. Wichtig ist dabei die Ambivalenz Entlastung/Belastung: Der Mensch kann sich nur mittels Phantasie entlasten, aber es ist dieselbe Phantasie, die das Leben zugleich auch wieder vielfältig belastet. Diese Struktur ist laut Gehlen kennzeichnend für die conditio humana und macht die 'Sonderstellung' des Menschen aus.
... dazu und zwar zur 'Sonderstellung' des Menschen nach Gehlen , nur mal zur Info ..

spektrum.de hat geschrieben :
Gehlen, Arnold

Weil Menschen mit keinen physischen Merkmalen ausgestattet sind, die ihnen Schutz und effektive Mittel zur Selbstverteidigung bieten, und weil ihre Instinkte derart zurückgebildet sind, daß sie kein Verhalten garantieren, das der Umwelt automatisch angepaßt wäre, ist die Spezies gezwungen, ihre Umgebung gemäß den Anforderungen ihrer eigenen Selbsterhaltung zu verändern. Der Handlungsbegriff, den G. auf dieser Basis entwickelt, ist nun ein inhaltlicher. Handeln heißt: die Natur ins für die Menschen Zweckdienliche umzuwandeln.
.. wenn denn Handeln heißt: die Natur ins für die Menschen Zweckdienliche umzuwandeln und man phantasieren als eine eben solche Handlung versteht , dann kommt man wohl tatsächlich nicht umhin , sie eben als solches zu erachten .

"Ohne Fantasie, kein Wissen. Wir wüssten nicht, was wir anderen schuldig sind, wenn wir uns nicht in sie hineinversetzen könnten. Ohne Fantasie, keine Ethik. Wir könnten uns keine bessere Welt ausmalen. Ohne Fantasie, keine Hoffnung. Und wir hätten keine Vorstellung davon, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Ohne Fantasie, kein Geist und keine Freiheit (Jörn) ... . ohne Phantasie kein Haus, keinen Fußballplatz, keinen Krieg oder Frieden, keine Klarheit oder Unklarheit, kein Gestern oder Morgen, keine Freiheit und Unfreiheit...und übrigens auch keine Listen ( Thomas) ..

.. ich also ergänze .. " und somit keine Umwandlung der Natur ins für die Menschen Zweckdienliche ( Gehlen )" .. Was allerdings die Umwandlung der menschliche Natur mit einschließen sollte . So meine ganz persönliche Ergänzung zur "Zweckdienlichkeit" des phantasierens und somit der Phantasie. Da gibt es nur leider nur ein Problem . In dem menschliche Phantasie Teil der menschlichen Natur ist , ist sie nur bedingt zur zweckdienlichen Umwandlung der menschlichen Natur geeignet. Wir können nun einmal nicht aus unserer Haut. Was der besseren Welt , die wir uns in unserer Phantasie ausmalen , m. E. Grenzen setzt. Übrigens ganz so , wie die Lichtgeschwindigkeit Grenzen bezüglich dessen setzt , was uns die Phantasie beispielsweise im Star - Trek - Universum vorgaukelt. Um dergleichen mal , bei dieser Gelegenheit . auch an dieser Stelle zu erwähnen.
Hogrebe, philosophischer Surrealismus hat geschrieben : Wir können Imaginäres und Reales eben deshalb nicht reinlich trennen und dürfen es auch nicht, sonst gäbe es keine 'Gründe'. Daß wir das aber wiederum überhaupt wissen können, dazu benötigen wir das, was Arnold Gehlen 'Urphantasie' nannte. Diese ist keine spezielle Begabung Weniger, sondern Grundausstattung aller Menschen. Diese 'Urphantasie' bewegt sich zwar, wie Gehlen zugibt, "an der Grenze der Denkbarkeit", sorgt aber dafür, daß wir durch "Identifikation mit einem Anderen die Voraussetzung des Selbsterlebnisses" realisieren, d. h. den intentionalen Bezug aufbauen können. Der Mensch kommt, so auch Hegel, von außen nach innen zu sich. Das geschieht durch unbewußte Mimesis, durch die wir uns erst aus Anderen und Anderem 'einholen'. Es kommt mit George Herbert Mead zuerst darauf an: to take the role of the other. Das kann jeder Adulte übrigens an der frühen Dauermimesis von Infanten ablesen.
... soviel zum Thema einer 'Urphantasie , die sich sich zwar, wie Gehlen zugibt, "an der Grenze der Denkbarkeit" bewegt.




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Thomas
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Do 28. Nov 2024, 11:53

In Gehlens Buch "Der Mensch" gibt es viele interessante Stellen zum Thema Phantasie. Hier mal exemplarisch zwei Stellen, in denen die Phantasie mit jener Gewissheit verbunden wird, die das praktische Leben eines Menschen orientiert, ohne dass man sie objektiv begründen kann (bzw. muss).

"Die grundsätzlich irrationale, nicht wissenschaftsfähige und nicht direkt kontrollierbare »breite« Erfahrung hat ihre Wahrheit: es ist die Gewißheit. Und sie hat ihre Form des Handelns: das nichtexperimentelle Handeln aus Tradition, Instinkt, Gewohnheit oder Überzeugung. [Hier] wird das Bild, das Phantasma, Schwungrad der Handlungen, und die Wahrheit geht in den Zustand einer nichtrationalen, aber erfahrungsgesättigten Gewißheit über: »Phantasia certissima facultas«, sagt Vico. [...]"

"[Wir] leben unabänderlich mit vielen Gewißheiten, die sich im Denken als Wahrheiten manifestieren, und die gerade den Sinn haben, nicht instrumentell »zu etwas hinzuführen«, sondern unser Verhalten an Bildern des Soseins oder des Sollens zu orientieren, nicht an Techniken des Anderswerdens. Diese Gewißheiten sind daher ihrer Natur nach »krisenfest «, durch Mißerfolge sehr lange nicht enttäuschbar, und ihre Veränderung vollzieht sich jenseits der Horizonte des Einzellebens. Experimentell gesehen sind sie unlogisch. »Zu den Dingen«, sagt Nietzsche, »welche einen Denker zur Verzweiflung bringen können, gehört die Erkenntnis, daß das Unlogische für den Menschen nötig ist« (Menschliches, Allzumenschliches I, 1). Bei einer sehr praktischen Gruppe dieser Gewißheiten, den ethischen, zeigt sich dieses Unlogische gerade darin, daß sie auf Begründung überhaupt verzichten, d. h. als Sollregeln auftreten." [...] Der Widerstand dagegen, den ethischen Normen eine empirische und damit sofort diskutable Begründung nachzureichen, etwa eine utilitarische, oder sie aus massenseelischen Mechanismen zu »erklären«, ja überhaupt nur dagegen, sie ins Bewußtsein und damit in das Feld möglicher Verlagerungen und Umkombinationen zu heben, dieser Widerstand ist eigenen Rechts . »Hohe Kultur«, sagt Nietzsche, »verlangt, manche Dinge ruhig unerklärt stehenzulassen« (XI, 23) - aber dieses verlangt schon der Anstand oder die innere Gesundheit oder wie man jenes Organ nennen will, das Gewißtheiten hat, die zu experimentieren es sich weigert".


Wir handeln, so Gehlen, im Leben auf der Basis von Bildern ('Phantasmen'), in denen sich unsere Überzeugungen darstellen - bestimmte Ideale oder Leitbilder, die wir normalerweise nicht (bzw. ohne Not) infragestellen. Gehlen würde aber nicht sagen, dass man diese Gewissheiten gar nicht hinterfragen ('kritisieren') sollte. Er meint eher, dass die Phantasie es ist, die uns von zu viel Erklärungs- oder Begründungsaufwand entlastet. Eine phantasiegestütze Gewissheit mag objektiv gesehen falsch sein, aber sie hat eine praktische Bedeutung (Orientierung, Sozialisierung usw.). Und er betont an anderer Stelle (mit Bezug auf Pareto) auch, dass auch streng rationale Erklärungen und Rechtfertigungen der Gefahr der Rationalisierung niemals ganz entgehen können, sofern sie ihrerseits auf zum Teil undurchschauten imaginären Gründen ruhen.




Timberlake
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Do 28. Nov 2024, 13:58

Thomas hat geschrieben :
Do 28. Nov 2024, 11:53
In Gehlens Buch "Der Mensch" gibt es viele interessante Stellen zum Thema Phantasie. Hier mal exemplarisch zwei Stellen, in denen die Phantasie mit jener Gewissheit verbunden wird, die das praktische Leben eines Menschen orientiert, ohne dass man sie objektiv begründen kann (bzw. muss).


"[Wir] leben unabänderlich mit vielen Gewißheiten, die sich im Denken als Wahrheiten manifestieren, und die gerade den Sinn haben, nicht instrumentell »zu etwas hinzuführen«, sondern unser Verhalten an Bildern des Soseins oder des Sollens zu orientieren, nicht an Techniken des Anderswerdens. .."

....nicht an Techniken des Anderswerdens! . Ich denke mal, dass darin und zwar die Techniken es Anderswerdens dabei völlig außer zu acht lassen , der eigentliche Schwachpunkt des phantasierens und damit der Phantasie liegt.

  • "Die Politik sagt: »Seid klug wie die Schlangen«; die Moral setzt (als einschränkende Bedingung) hinzu: »und ohne Falsch wie die Tauben«. Wenn beides nicht in einem Gebote zusammen bestehen kann, so ist wirklich ein Streit der Politik mit der Moral; soll aber doch durchaus beides vereinigt sein, so ist der Begriff vom Gegenteil absurd, und die Frage, wie jener Streit auszugleichen sei, läßt sich gar nicht einmal als Aufgabe hinstellen. Obgleich der Satz: Ehrlichkeit ist die beste Politik, eine Theorie enthält, der die Praxis, leider! sehr häufig widerspricht: so ist doch der gleichfalls theoretische: Ehrlichkeit ist besser denn alle Politik, über allen Einwurf unendlich erhaben, ja die unumgängliche Bedingung der letzteren."
    Kant ... Zum ewigen Frieden
Beispiel die "Techniken des Anderswerdens" im Hinblick auf die "Phantasie" des "ewigen Friedens" . Einer Technik , wo »Seid klug wie die Schlangen« , politisch gesagt , »und ohne Falsch wie die Tauben« , von der Moral hinzugesetzt , in einem Gebote zusammen zu stehen "mögen" ...
Thomas hat geschrieben :
Do 28. Nov 2024, 11:53
Eine phantasiegestütze Gewissheit mag objektiv gesehen falsch sein, aber sie hat eine praktische Bedeutung (Orientierung, Sozialisierung usw.)
.. gleichwohl bei aller phantasiegestütze Gewissheit , die im Hinblick auf den ewigen Frieden objektiv gesehen falsch sein "mag" , diese Technik zweifelsohne eine praktische Bedeutung (Orientierung, Sozialisierung usw.) hat.


Thomas hat geschrieben :
Do 28. Nov 2024, 11:53
Und er betont an anderer Stelle (mit Bezug auf Pareto) auch, dass auch streng rationale Erklärungen und Rechtfertigungen der Gefahr der Rationalisierung niemals ganz entgehen können, sofern sie ihrerseits auf zum Teil undurchschauten imaginären Gründen ruhen.
. wenn also Gehlen an anderer Stelle betont , dass von streng rationale Erklärungen und Rechtfertigungen eine Gefahr ausgeht , sofern sie zum Teil auf undurchschauten imaginären Gründen ruhen , wie "Schlangen" klug ist dann eine Politik , die sich mit "Falsch wie die Tauben" eben solcher undurchschauten , imaginären und ich ergänze somit unmoralischer , weil unehrlicher Gründe bedient?
Zuletzt geändert von Timberlake am Do 28. Nov 2024, 14:51, insgesamt 4-mal geändert.




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Consul
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Do 28. Nov 2024, 14:28

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 20. Nov 2024, 10:22
Hogrebe, philosophischer Surrealismus hat geschrieben : Wir können Imaginäres und Reales eben deshalb nicht reinlich trennen und dürfen es auch nicht, sonst gäbe es keine 'Gründe'.
Sorry, Hogrebe schreit sehr "fett", gelinde gesagt. Mich interessiert dieser Satz: Wir können Imaginäres und Reales eben deshalb nicht reinlich trennen und dürfen es auch nicht, sonst gäbe es keine 'Gründe'. Hogrebe erläutert das nicht. (Vielleicht an anderer Stelle, ich weiß es nicht.) Mich bringt es zu der Frage, in welchem Verhältnis Vernunft (unsere Sensibilität für Gründe) zur Fantasie steht.
Ich halte es mit Russell:
"A robust sense of reality is very necessary in framing a correct analysis of propositions about unicorns, golden mountains, round squares, and other such pseudo-objects."
———
"Ein robuster Realitätssinn ist für eine korrekte Analyse von Aussagen über Einhörner, goldene Berge, runde Quadrate und andere derartige Pseudoobjekte unerlässlich." [© meine Übers.]

(Russell, Bertrand. Introduction to Mathematical Philosophy. 1919. Reprint, Abingdon: Routledge, 2023. p. 162)



"Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst." – Juliane Werding

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Do 28. Nov 2024, 14:55

Consul hat geschrieben :
Do 28. Nov 2024, 14:28

Ich halte es mit Russell:
"A robust sense of reality is very necessary in framing a correct analysis of propositions about unicorns, golden mountains, round squares, and other such pseudo-objects."
———
"Ein robuster Realitätssinn ist für eine korrekte Analyse von Aussagen über Einhörner, goldene Berge, runde Quadrate und andere derartige Pseudoobjekte unerlässlich." [© meine Übers.]

(Russell, Bertrand. Introduction to Mathematical Philosophy. 1919. Reprint, Abingdon: Routledge, 2023. p. 162)


... unter Bezugnahme auf meinen letzten Beitrag .. ich ergänze .. " ein robuster Realitätssinn ist für eine korrekte Analyse von Aussagen über Einhörner, goldene Berge, runde Quadrate" .. ewigen Frieden ..."und andere derartige Pseudoobjekte unerlässlich.[© meine Übers.]"

  • "Ob diese satirische Überschrift auf dem Schilde jenes holländischen Gastwirts, worauf ein Kirchhof gemalt war, die Menschen überhaupt, oder besonders die Staatsoberhäupter, die des Krieges nie satt werden können, oder wohl gar nur die Philosophen gelte, die jenen süßen Traum träumen, mag dahin gestellt sein. Das bedingt sich aber der Verfasser des Gegenwärtigen aus, daß, da der praktische Politiker mit dem theoretischen auf dem Fuß steht, mit großer Selbstgefälligkeit auf ihn als einen Schulweisen herabzusehen, der dem Staat, welcher von Erfahrungsgrundsätzen ausgehen müsse, mit seinen sachleeren Ideen keine Gefahr bringe, und den man immer seine eilf Kegel auf einmal werfen lassen kann, ohne, daß sich der weltkundige Staatsmann daran kehren darf, dieser auch, im Fall eines Streits mit jenem sofern konsequent verfahren müsse, hinter seinen auf gut Glück gewagten, und öffentlich geäußerten Meinungen nicht Gefahr für den Staat zu wittern; – durch welche clausula salvatoria der Verfasser dieses sich dann hiemit in der besten Form wider alle bösliche Auslegung ausdrücklich verwahrt wissen will."
    Kant ..Zum ewigen Frieden

uns wenn ich mir dazu Kants Vorwort vergegenwärtige, in dem es dazu heißt .. "oder wohl gar nur die Philosophen gelte, die jenen süßen Traum träumen" .. und nicht zu vergessen , sich der Verfasser ..."in der besten Form wider alle bösliche Auslegung ausdrücklich verwahrt wissen will" . so denke ich mal , dass auch Kant es mit Russell hält.




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Jörn Budesheim
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Wenn der "Realitätssinn" das Einzige ist, was man aufbringen kann, wenn man Einhörnern und goldenen Bergen begegnet, dann wird man nicht viel über Homos sapiens lernen.




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Do 28. Nov 2024, 15:27

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 28. Nov 2024, 15:20
Wenn der "Realitätssinn" das Einzige ist, was man aufbringen kann, wenn man Einhörnern und goldenen Bergen begegnet, dann wird man nicht viel über Homos sapiens lernen.
.. wenn man denn Einhörnern und goldenen Bergen .. und ich ergänze .. den ewigen Frieden begegnet ..

Thomas hat geschrieben :
Do 28. Nov 2024, 11:53
In Gehlens Buch "Der Mensch" gibt es viele interessante Stellen zum Thema Phantasie. Hier mal exemplarisch zwei Stellen, in denen die Phantasie mit jener Gewissheit verbunden wird, die das praktische Leben eines Menschen orientiert, ohne dass man sie objektiv begründen kann (bzw. muss).

"Die grundsätzlich irrationale, nicht wissenschaftsfähige und nicht direkt kontrollierbare »breite« Erfahrung hat ihre Wahrheit: es ist die Gewißheit. Und sie hat ihre Form des Handelns: das nichtexperimentelle Handeln aus Tradition, Instinkt, Gewohnheit oder Überzeugung. [Hier] wird das Bild, das Phantasma, Schwungrad der Handlungen, und die Wahrheit geht in den Zustand einer nichtrationalen, aber erfahrungsgesättigten Gewißheit über: »Phantasia certissima facultas«, sagt Vico. [...]"

"[Wir] leben unabänderlich mit vielen Gewißheiten, die sich im Denken als Wahrheiten manifestieren, und die gerade den Sinn haben, nicht instrumentell »zu etwas hinzuführen«, sondern unser Verhalten an Bildern des Soseins oder des Sollens zu orientieren, nicht an Techniken des Anderswerdens. Diese Gewißheiten sind daher ihrer Natur nach »krisenfest «, durch Mißerfolge sehr lange nicht enttäuschbar, und ihre Veränderung vollzieht sich jenseits der Horizonte des Einzellebens. Experimentell gesehen sind sie unlogisch. »Zu den Dingen«, sagt Nietzsche, »welche einen Denker zur Verzweiflung bringen können, gehört die Erkenntnis, daß das Unlogische für den Menschen nötig ist« (Menschliches, Allzumenschliches I, 1).

... Experimentell gesehen sind sie unlogisch. »Zu den Dingen«, sagt Nietzsche, »welche einen Denker zur Verzweiflung bringen können, gehört die Erkenntnis, daß das Unlogische für den Menschen nötig ist« (Menschliches, Allzumenschliches I, 1). Insofern man möglicherweise zumindest das , also das das Unlogische für den Menschen nötig ist. über Homos sapiens lernen kann.




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Quk
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Do 28. Nov 2024, 19:00

Ich denke, man braucht beides: Realitätssinn und Fantasie. Vor allem Forschende brauchen beides. Wenn sie keine Fantasie hätten, könnten sie keine Fragen formulieren und keine Forschungsaufgaben gestalten. Und wenn sie keinen Realitätssinn hätten, würden sie die Erdkugel für eine Scheibe halten.

Die eine Hand wäscht die andere.




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Jörn Budesheim
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Do 28. Nov 2024, 19:11

Unsere Realitätssinn sagt uns eher, dass die Erde eine Scheibe ist. Man muss ziemlich viel Fantasie aufbringen, um sich vorzustellen, dass sie eine Kugel ist :)




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Quk
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Do 28. Nov 2024, 19:19

Genau, ich wollte noch hinzufügen: Der Realitätssinn ist fehlbar. Manches mag ihm zunächst absurd erscheinen, was nach genauerem Hinsehen einleuchtet. Zum Beispiel die Krümmung des Horizonts, das "Einsinken" weit entfernter Schiffe etc. -- Er sollte robust sein, der Realitätssinn. Aber unfehlbar ist er nicht.




Timberlake
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Quk hat geschrieben :
Do 28. Nov 2024, 19:00
Ich denke, man braucht beides: Realitätssinn und Fantasie.
.... ganz meiner Meinung ...
  • "Es ist übrigens nicht schwer, zu sehen, daß unsre Zeit eine Zeit der Geburt und des Übergangs zu einer neuen Periode ist. Der Geist hat mit der bisherigen Welt seines Daseins und Vorstellens gebrochen und steht im Begriffe, es in die Vergangenheit hinab zu versenken, und in der Arbeit seiner Umgestaltung. Zwar ist er nie in Ruhe, sondern in immer fortschreitender Bewegung begriffen. Aber wie beim Kinde nach langer stiller Ernährung der erste Atemzug jene Allmählichkeit des nur vermehrenden Fortgangs abbricht – ein qualitativer Sprung – und jetzt das Kind geboren ist, so reift der sich bildende Geist langsam und stille der neuen Gestalt entgegen,
    Hegel ... Phänomenologie des Geistes
.. insbesondere in einer Zeit , die eine Zeit der Geburt und des Übergangs zu einer neuen Periode ist. Nur frage ich mich schon , ob denn so eine Zeit die unsere ist. Sehe ich doch nicht , dass der Geist mit der bisherigen Welt seines Daseins und Vorstellens tatsächlich gebrochen hat. So das beides : Realitätssinn und Fantasie von daher überhaupt im Begriffe stehen kann , die bisherige Welt in die Vergangenheit hinab zu versenken und sich in die Arbeit seiner Umgestaltung machen kann. Um es mal mit den Worten Hegels zu formulieren. Es sei denn , man macht dergleichen tatsächlich an der s.g. Zeitenwende fest. Einer Zeitenwende , bei der wie beim Kinde nach langer stiller Ernährung der erste Atemzug jene Allmählichkeit des nur vermehrenden Fortgangs abbricht – ein qualitativer Sprung – und jetzt das Kind geboren ist. Nur frage ich mich allerdings schon , ob das , was da durch den Gebrauch von Realitätssinn und Fantasie an neuer Gestalt entgegenreift , tatsächlich wünschenswert ist. Kommt mir doch dergleichen wie ein Rückfall , in eine bisherige Welt des Daseins und Vorstellens vor, die lange Zeit selbst , als in die Vergangenheit hinab versenkt galt.




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Thomas
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Do 28. Nov 2024, 20:46

Wenn Gehlen schreibt, dass sich der Mensch zunächst einmal weigert, mit seinen Überzeugungen und Gewißheiten zu experimentieren - also mit der Möglichkeit zu spielen, diese könnten falsch sein - so scheint mir das eine sehr treffende Auffassung zu sein. Menschen haben ja alle ihre nach und nach mühsam erworbenen und verinnerlichten Prägungen, die ihre Persönlichkeit ausmachen; und diese machen es dem Menschen sehr schwer, alternative Lebensmöglichkeiten oder Weltdeutungen überhaupt nur nachvollziehen zu können. Im Laufe der Bildungsgeschichte bilden sich einem Haltungen ein, mit denen man dann wie selbstverständlich lebt im Glauben (!), dass es sich so verhält, wie man meint (!). Dass es neben diesem Glauben und seinen Gewissheiten auch noch objektiven Wissen gibt, ist jedenfalls eine Vorstellung, die es, gemessen an der Kraft von Gewohnheiten, Traditionen usw., nicht gerade leicht hat. Und vor allem hat auch diese Vorstellung - also die Idee objektiver Rationalität und Vorurteilsfreiheit - selbst eine Tradition, der sich die entsprechenden Anhänger ganz selbstverständlich verpflichtet fühlen. Ohne Einbildungen geht es für den Menschen laut Gehlen nicht. Und die Idee, dass das doch ginge, ist naiv, da sie ihren eigenen blinden Fleck nicht erkennt.

Objektivität und Realitätssinn stehen dieser Deutung zufolge nicht neben Phantasie, sondern sie sind eine Form der Phantasie unter vielen anderen. Es geht Gehlen nicht um Wahrheit, sondern seine Anthropologie beruht auf dem Leitmotiv der Lebbarkeit und der Lebensfunktionalität. Und die These ist, dass die Phantasie dafür grundlegend ist - ganz gleich in welcher konkreten Ausprägung.




Timberlake
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Do 28. Nov 2024, 21:39

Als ich das von Gehlens Anthropologie gelesen habe , also die , die auf dem Leitmotiv der Lebbarkeit und der Lebensfunktionalität beruht , da musste ich unmittebar an Lenins Defintion einer revolutioären Sitution denken , die da bekanntlich lautet


«wenn die oben nicht mehr können und die unten nicht mehr wollen».

Lebbarkeit und der Lebensfunktionalität muss danach gekonnt und gewollt werden. Hat sich denn Gehlen auch dazu geäußert , wenn dergleichen nicht mehr gewährleistet ist und welche Rolle dabei der Phanatsie zu kommt.
wirtschaftslexikon.co hat geschrieben : Revolutionäre Situation

In der sozialistischen Wirtschaftslehre: Eine gesellschaftliche Situation ist dann revolutionär, wenn es für die herrschenden Klassen unmöglich ist, ihre Herrschaft unverändert aufrecht zu erhalten, weil sich Not und Elend der unterdrückten Klassen verschärfen und sich die Aktivitäten der Massen steigern, die „zu selbständigem historischen Handeln gedrängt werden.“ (Lenin, Der Zusammenbruch der II. Internationale, Werke, Band 21, Seite 206)
. ich frage das vor dem Hintergrund , dass die Phantasie dieser Massen , zur Wiederherstellung der Lebbarkeit und Lebensfunktionalität , mitunter doch recht seltsame Blüten treibt , gelinde gesagt.
Quk hat geschrieben :
Do 28. Nov 2024, 19:00

Ich denke, man braucht beides: Realitätssinn und Fantasie. Vor allem Forschende brauchen beides. Wenn sie keine Fantasie hätten, könnten sie keine Fragen formulieren und keine Forschungsaufgaben gestalten. Und wenn sie keinen Realitätssinn hätten, würden sie die Erdkugel für eine Scheibe halten.
.. angeführt natürlich von "Forschenden" , im Ge - oder sollte man besser sagen Missbrauch von beidem: Realitätssinn und Fantasie. In diesem Zusammenhang finde ich es übrigens immer wieder bemerkenswert , wie denn "Forschende" , durch die Wahl ihrer Beispiele , zu was auch immer , es erst gar nicht auf solche Diskussionen ankommen lassen. Ich denke , ein möglicher Grund ..
Thomas hat geschrieben :
Do 28. Nov 2024, 20:46

Menschen haben ja alle ihre nach und nach mühsam erworbenen und verinnerlichten Prägungen, die ihre Persönlichkeit ausmachen; und diese machen es dem Menschen sehr schwer, alternative Lebensmöglichkeiten oder Weltdeutungen überhaupt nur nachvollziehen zu können. Im Laufe der Bildungsgeschichte bilden sich einem Haltungen ein, mit denen man dann wie selbstverständlich lebt im Glauben (!), dass es sich so verhält, wie man meint (!). Dass es neben diesem Glauben und seinen Gewissheiten auch noch objektiven Wissen gibt, ist jedenfalls eine Vorstellung, die es, gemessen an der Kraft von Gewohnheiten, Traditionen usw., nicht gerade leicht hat. Und vor allem hat auch diese Vorstellung - also die Idee objektiver Rationalität und Vorurteilsfreiheit - selbst eine Tradition, der sich die entsprechenden Anhänger ganz selbstverständlich verpflichtet fühlen. Ohne Einbildungen geht es für den Menschen laut Gehlen nicht. Und die Idee, dass das doch ginge, ist naiv, da sie ihren eigenen blinden Fleck nicht erkennt.





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