Freiheit

Ethische Fragen und ihre rationale Begründbarkeit bewegen das philosophische Denken in einer Zeit, in der die Politik wieder über "Werte" debattiert und vertraute Grundlagen des politischen Handelns zur Disposition stehen.
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Jörn Budesheim
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Di 13. Aug 2024, 13:52

Stefanie hat geschrieben :
Di 13. Aug 2024, 13:50
Mir sind beide Positionen nicht klar geworden.
Welche? Jörn Budesheim, Quk, 1+1=3




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Stefanie
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Di 13. Aug 2024, 14:09

Alle die genannten.
Schwerpunktmäßig die Diskussion zwischen Jörn und Quk. Ich verstehe Euch beide einfach manchmal nicht.
Ouk meint es gibt keine "vollständige" Freiheit (?) und Jörn zum Determinismus verstehe ich nicht.

Mir ist nicht klar, bei welcher Freiheit wir sind. Handlungsfreiheit, Willensfreiheit, politische Freiheit usw.? Oder ist das egal.
Negative Freiheit oder positive Freiheit?
Ist Freiheit ausschließlich die Abwesenheit von Zwang?
Ist der Mensch frei geboren, oder nicht (ich bin Arendt nicht bei Rousseau)?



Der, die, das.
Wer, wie, was?
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Jörn Budesheim
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Di 13. Aug 2024, 14:11

Stefanie hat geschrieben :
Di 13. Aug 2024, 14:09
Jörn zum Determinismus verstehe ich nicht
Damit ich dazu etwas sagen kann, wäre es hilfreich, wenn du Passagen aus dem Beitrag zitierst, die unverständlich sind.




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Stefanie
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Di 13. Aug 2024, 14:35

Jörn
Aus meiner Sicht sind Freiheit und Determinismus ja kompatibel. In einer gewissen Weise stimme ich zu: Man kann vielleicht sagen, dass der Determinismus verwandelt wird. Aber eigentlich ist der Determinismus kein Ding, was verwandelt werden kann, sondern der Umstand, dass alles, was geschieht, aufgrund verschiedener Ursachen/Gründe oder was auch immer geschieht und somit etwas Bestimmtes ist. Was sich ändert, ist die Art und Weise, wie Dinge bestimmt sind, nämlich auf eine andere, subtilere, weitaus komplexere und vielschichtigere Art und Weise.
?
Welche Vorstellung von Determinismus liegt dem zu Grunde? Determinismus bedeutet erstmal einfach gesagt, vorherbestimmt. "etwas Bestimmtes" ist was anderes als vorherbestimmt. Ich verstehe das so, dass Gründe deterministisch sind, besser eine deterministisch Wirkung haben. Also vorherbestimmt, dass etwas anderes erst gar nicht möglich ist, als das was ich dann tue, aufgrund des Grundes XYZ. Echt?

Edit: Das ist irgendwie widersprüchlich zu dem, was Du weiter oben geschrieben hast.

Das hier meine ich:
E
in wesentlicher Aspekt unserer Freiheit sind Gründe. Wir können unser Handeln und Denken an Gründen ausrichten, also rational handeln und denken. Zwar täuschen wir uns manchmal über die Gründe unseres Handelns (z.B. aus Gewohnheit, Neid, Gier, Verblendung...), doch dies bedeutet nicht, dass wir systematisch nichtrational denken und handeln. Wer behauptet, wir würden uns nicht von Gründen leiten lassen, gerät in einen Selbstwiderspruch, denn er muss Gründe dafür anführen, dass es keine Gründe gibt
Und dann kommt noch der Satz:
Was wir tun, mag bestimmt sein, aber wir bestimmen es teilweise selbst, z.B. wenn wir uns an Gründen orientieren. Auch unser "Sosein" gehört zu den Determinanten.
Bestimmt sein, durch wen oder was?



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Jörn Budesheim
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Di 13. Aug 2024, 15:20

Stefanie hat geschrieben :
Di 13. Aug 2024, 14:35
Determinismus bedeutet erstmal einfach gesagt, vorherbestimmt.
Meines Erachtens bedeutet es das nicht. Darüber hab ich im ersten Beitrag geschrieben und zu erklären versucht, wie ich das sehe.

Determinismus bedeutet, aus meiner Sicht, dass alles, was geschieht, durch Gründe, Ursachen, irgendwelche Ereignisse und was auch immer bestimmt ist. Gründe sind keine Ursachen, das ist wichtig zu sehen. Bei Gründen geht es um das, was für uns als Menschen von Bedeutung ist. Das heißt aber, wir selbst können Teil dieser Bestimmung sein, zum Beispiel, wenn es um uns selbst geht. Wenn ich diese Zeilen schreibe, dann ist das nicht vollständig durch eine anonyme Kausalkette "vorherbestimmt". Ich selbst komme in der Bestimmung dieses Moments vor, denn ich kann mich zum Beispiel in einem gewissen Rahmen selbst bestimmen. Teil meiner Selbstbestimmung ist, dass ich mich für philosophische Fragen interessiere, und das ist ein Teil der Bestimmung dieses Moments, wenn auch natürlich nicht der Einzige. (Man wird kaum alles aufzählen können, was zu dieser Bestimmung gehört.)

Die Frage ist nicht, ob die Handlung oder der Gedanke bestimmt ist, sondern, wie beide bestimmt sind.

Unsere Selbstbestimmung kann eine Rolle in der Bestimmung/Determinierung des Moments spielen, wir können das. Jede kann das. Können heißt hier, dass es möglich ist und dass man die Fähigkeit dazu hat. Dazu gehört auch unsere Rationalität, also unsere Fähigkeit, uns an Gründen zu orientieren. Weiter oben habe ich dazu geschrieben: "Ein wesentlicher Aspekt unserer Freiheit sind Gründe. Wir können unser Handeln und Denken an Gründen ausrichten, also rational handeln und denken. Zwar täuschen wir uns manchmal über die Gründe unseres Handelns (z.B. aus Gewohnheit, Neid, Gier, Verblendung...), doch dies bedeutet nicht, dass wir systematisch nichtrational denken und handeln." Das ist ein bekanntes Phänomen, man tut etwas, um es später (gleichsam rückwirkend) zu "rationalisieren", die Gründe sind dann nur "vorgeschoben". Ich gehe aber nicht davon aus, dass dies grundsätzlich so ist. Meines Erachtens ist unser Leben von kleinen wie großen Gründen durchwoben, weil die meisten Tatsachen, die uns begegnen, für uns irgendeine Bedeutung haben können.

Sartre meint in einem berühmten Bonmot, dass wir zur Freiheit verurteilt sind. Ich finde, da ist was dran. Jede kann/muss ein Leben führen. Jede ist ihre eigene Aufgabe :-) Das bedeutet das Zitat meines Erachtens. Freiheit ist auch eine Herausforderung. Jede kann ein Leben führen. Auch hier wieder: können als Möglichkeit, können als Fähigkeit. Es ist grundsätzlich möglich, dass wir unser Leben führen; die Fähigkeit dazu muss man wohl teilweise erwerben. Und (beides gehört zum politischen Aspekt) sie muss uns natürlich auch eingeräumt werden. Ein Leben zu führen, bedeutet natürlich nicht, jedes Detail vorherbestimmen zu können, jeden Tag kann ein Unfall passieren. Aber wir können unser Leben im Lichte der verschiedensten Vorstellungen von ihm führen. (Können= es ist möglich und in einem gewissen Rahmen können wir es, wir haben die Fähigkeit dazu.)

Es gibt natürlich auch die Vorstellung, dass Determinismus etwas anders bedeutet. Deswegen habe ich den ersten Beitrag von gestern genau mit diesem Punkt begonnen, um das zurückzuweisen, am Grunde der Frage lauert gewissermaßen ein Weltbild, was eine Antwort nahelegt:

"Der Determinismus wirkt "gefährlich", wenn er in seiner materialistischen Version unser Freiheitsverständnis bedroht, indem er unser Handeln und Denken als vollständig kausal determiniert darstellt, als wären wir Teil eines "Räderwerks" oder einer strengen Kausalkette. In dieser Sichtweise bestimmen anonyme Prozesse unser Denken und Tun. Die zugrunde liegende Ontologie oder Metaphysik spielt dabei eine entscheidende Rolle. In einer Welt, die nur aus Materie, Energie, Raum und Zeit (MERZ) besteht, gibt es keinen Platz für Freiheit. Dies ist jedoch unbewiesene und unbeweisbare Metaphysik: "Mit irgendeiner spekulativen Metaphysik lässt sich der Determinismus immer retten. Dies zeigt ja letztlich nur, dass er keine empirisch testbare wissenschaftliche Hypothese ist, sondern eine blanke Glaubensangelegenheit." (Brigitte Falkenburg, Mythos Determinismus)"




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Quk
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Di 13. Aug 2024, 20:36

Stefanie hat geschrieben :
Di 13. Aug 2024, 14:09
Ouk meint es gibt keine "vollständige" Freiheit (?)
Meine Ansicht ist ganz einfach. Ich sage, das Wort "frei" ist nur sinnvoll, wenn es sich auf etwas bezieht. Frei wovon? Ohne Bezug bedeutet "frei" entweder gar nichts oder eben "vollständig frei". Aber "vollständig frei" kann nicht einmal ein Gott sein, denn er ist nicht frei von Göttlichkeit. Also bleibt nur ersteres: Ohne Bezug bedeutet "frei" gar nichts. -- An einigen Stellen bin ich frei: Beispielsweise bin ich frei von Rechtschreibschwäche, daher habe ich die Freiheit, diesen Text richtig zu schreiben. Ich bin nicht frei von Haarausfall, daher bin ich gezwungen, meinen Schädel vor Sonnenbrand zu schützen. Angesichts dieser Vielgestaltigkeit kann ich nicht pauschal behaupten, ich sei frei oder ich sei unfrei. Ohne Bezug ergeben die beiden Wörter "frei" und "unfrei" keinen Sinn. Frei, groß, hell etc. sind Eigenschaften, die ohne Bezug sinnlos sind. Die Laterne ist hell in Bezug auf das Glühwürmchen, aber unhell bezüglich der Sonne. Der Baum ist groß in Bezug auf die Laus, aber ungroß bezüglich der Alpen. Der Gefangene ist frei in Bezug auf seine Bücherwahl, aber unfrei bezüglich seiner Zellentür.

Wenn eine spezielle Freiheit zielgerichtet ist, mag manch einer sagen, hier ginge es nicht um ein "frei wovon", sondern um ein "frei wozu". Das ist aber das gleiche Prinzip. Denn das "wozu" ist ja auch ein Bezug. Bedeutungsschwanger wirkende Pauschalsätze wie "Wir sind frei" oder "Wir sind unfrei" sind bezuglose Sätze und damit sinnlos. -- Das ist meine Ansicht.




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Consul
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Mi 14. Aug 2024, 00:44

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 13. Aug 2024, 15:20
Es gibt natürlich auch die Vorstellung, dass Determinismus etwas anders bedeutet. Deswegen habe ich den ersten Beitrag von gestern genau mit diesem Punkt begonnen, um das zurückzuweisen, am Grunde der Frage lauert gewissermaßen ein Weltbild, was eine Antwort nahelegt:

"Der Determinismus wirkt "gefährlich", wenn er in seiner materialistischen Version unser Freiheitsverständnis bedroht, indem er unser Handeln und Denken als vollständig kausal determiniert darstellt, als wären wir Teil eines "Räderwerks" oder einer strengen Kausalkette. In dieser Sichtweise bestimmen anonyme Prozesse unser Denken und Tun. Die zugrunde liegende Ontologie oder Metaphysik spielt dabei eine entscheidende Rolle. In einer Welt, die nur aus Materie, Energie, Raum und Zeit (MERZ) besteht, gibt es keinen Platz für Freiheit. Dies ist jedoch unbewiesene und unbeweisbare Metaphysik: "Mit irgendeiner spekulativen Metaphysik lässt sich der Determinismus immer retten. Dies zeigt ja letztlich nur, dass er keine empirisch testbare wissenschaftliche Hypothese ist, sondern eine blanke Glaubensangelegenheit." (Brigitte Falkenburg, Mythos Determinismus)"
Falkenburg hat unrecht, weil der Materialismus nicht notwendigerweise deterministisch ist. Aus der Falschheit des Determinismus würde also nicht die Falschheit des Materialismus folgen.
Außerdem gibt es in der Debatte über die Willens- bzw. Handlungsfreiheit einen Standpunkt namens Kompatibilismus, dem nach aus der Wahrheit des (kausalen) Determinismus nicht folgt, dass es in der Welt keinen Platz für Freiheit gibt.



"Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst." – Juliane Werding

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Jörn Budesheim
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Mi 14. Aug 2024, 07:20

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 12. Aug 2024, 10:49
Der Kompatibilismus ist richtig
Consul hat geschrieben :
Mi 14. Aug 2024, 00:44
Außerdem gibt es in der Debatte über die Willens- bzw. Handlungsfreiheit einen Standpunkt namens Kompatibilismus, dem nach aus der Wahrheit des (kausalen) Determinismus nicht folgt, dass es in der Welt keinen Platz für Freiheit gibt.
Tatsächlich, diese Position gibt es und in einer gewissen Hinsicht vertrete ich sie.




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Jörn Budesheim
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Mi 14. Aug 2024, 08:16

Consul hat geschrieben :
Mi 14. Aug 2024, 00:44
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 13. Aug 2024, 15:20
"Mit irgendeiner spekulativen Metaphysik lässt sich der Determinismus immer retten. Dies zeigt ja letztlich nur, dass er keine empirisch testbare wissenschaftliche Hypothese ist, sondern eine blanke Glaubensangelegenheit." (Brigitte Falkenburg, Mythos Determinismus)"
Falkenburg hat unrecht...
Durch die Verschachtelung der Zitate war an dieser Stelle vielleicht nicht ganz klar, wer was gesagt hat. An dieser Stelle hat Brigitte Falkenburg sicher Recht.

Und auch der Rest des Zitats war meines Erachtens richtig, zwar gibt es auch nichtdeterministische Versionen des Materialismus, sprich probabilistische, aber Zufall rettet die Freiheit sicher nicht und die Bestimmung eines Gedankens oder einer Handlung ist im Materialismus immer "anonym", denn beispielsweise Gründe sind nichts Materielles.

Viele kompatibilistische Positionen setzen in diesem Zusammenhang zwar auf Gründe; wir sind frei, weil wir uns an Gründen orientieren können. Aber meines Erachtens hat eine materialistische Ontologie einfach keinen Platz für Gründe.




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Mi 14. Aug 2024, 09:21

Der letzte Satz klingt für mich so, wie "Im Materialismus ist kein Platz für Form". Form "an sich" ist ebenfalls "immateriell", da grundsätzlich etwas "Abgeleitetes" und vom Materiellem Abhängiges. Dennoch ist "sie" real. "Real 2.0 (oder zweiter Ordnung usw.)", wenn man so will.




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Jörn Budesheim
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Mi 14. Aug 2024, 09:26

Im Materialismus ist kein Platz für Gründe; Gründe sind etwas genuin normatives. Die Normativität der Gründe ist für den Materialismus das Problem.




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Mi 14. Aug 2024, 10:53

Normatives verhält sich zum Materialismus wie Final- zu Wirkursachen. D.h. je ersteres "besteht" aus je letzterem (oder verhält sich zumindest analog zu Software, die "auf" Hardware "läuft") bzw. benutzen es regelrecht (eben für eigene [!] Zwecke).




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Jörn Budesheim
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Mi 14. Aug 2024, 12:12

Gründe sind nicht völlig von der materiellen Welt getrennt; sie können sich aus materiellen Bedingungen ableiten. Beispielsweise kann starker Regen ein Grund sein, einen Regenschirm mitzunehmen, oder eine Allergie kann einen Grund liefern, bestimmte Nahrungsmittel zu meiden. Dennoch sind Gründe selbst nicht materiell, sondern besitzen eine normative Dimension, die nicht reduzierbar ist. Diese normativen Aspekte sind ein integraler Bestandteil unseres Lebens und Handelns.

Dies verdeutlicht, dass, obwohl materielle Umstände und unsere Reaktionen auf diese eng miteinander verknüpft sind, die normativen und rationalen Aspekte unseres Lebens eine eigene, nicht-materielle Dimension darstellen - unsere Freiheit - die in den Materialismus nicht vollständig integriert werden kann, wie ich finde.




Wolfgang Endemann
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Mi 14. Aug 2024, 12:28

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 14. Aug 2024, 09:26
Im Materialismus ist kein Platz für Gründe; Gründe sind etwas genuin normatives. Die Normativität der Gründe ist für den Materialismus das Problem.
Im Determinismus bzw dem erweiterten Determinismus, der determinierte Wahrscheinlichkeit, also Determiniertheit nur in der Masse, nicht im Individuellen vorsieht, und Kontingenz sowie reinen Zufall zuläßt (dieser letztgenannte Unterschied ist der zwischen einer nicht notwendigen Bestimmtheit und einer temporären Bestimmtheit, die unbestimmt fortgesetzt und/oder beendet wird), "ist kein Platz für Gründe; Gründe sind etwas genuin normatives. Die Normativität der Gründe ist für den" Determinismus "das Problem". Ich habe Materialismus durch Determinismus substituiert.

Die physikalische Welt des rein Objekthaften kennt keine Gründe und braucht keine Gründe. Wenn man an den (physikalischen) Reduktionismus glaubt, ist man im (erweiterten) Determinismus. Wenn man Metaphysiker ist, kann man, muß man aber nicht Determinist sein. Aber es gibt auch einen materialistischen Indeterminismus (den btw ich vertrete), wenn man die Entstehung komplexer Sachverhalte nicht deterministisch versteht, denn dann könnten sie deterministisch zurückgeführt werden, sondern wenn sie spontan entstehen oder aus Gründen eines setzenden Subjekts. Schon im ersten Fall des spontanen Entstehens wird die Notwendigkeit des Objektivismus aufgehoben, es ist dann aber der Fall einer kontingenten komplexen Objektivität. Das Gründe setzende Subjekt dagegen macht die komplexen Dinge, sie hängen von den Gründen ab, man versteht sie nur, wenn man die Gründe kennt, und sie verändern sich und sie verändern die subjekthaltige Welt nur, wo sie verstanden sind. Wer die Gründe nicht kennt, erlebt die Entwicklung der komplexen Dinge als kontingent, aber sie sind es nicht. Kommt die Entwicklung zustande, kann sie verstanden werden, als eine subjektive Notwendigkeit, und wir können von einer subjektiven Wahrheit sprechen, es ist eine Selbstorganisation. Daß diese Dinge entstehen, ist nicht determiniert, aber wenn sie entstehen, sind sie aufgrund der Gründe notwendig, nicht zufällig oder willkürlich. Freilich ist das nicht die feste, unumstößliche objektive Wahrheit, die wir in der natürlichen Materialität unterstellen.

Eine Folgerung davon ist ein kritischer Freiheitsbegriff, die Hegelsche "Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit", das kann ich aber hier nur andeuten, das wäre an anderer Stelle zu besprechen.




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Mi 14. Aug 2024, 13:00

Was ist ein Gründe setzendes Subjekt? Ich kann mir darunter nichts vorstellen. Statt irgendeiner abstrakten Erläuterung, würde ich ein paar Beispiele bevorzugen.




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Quk
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Mi 14. Aug 2024, 13:08

Wolfgang Endemann hat geschrieben :
Mi 14. Aug 2024, 12:28
... die Hegelsche "Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit" ...
Meiner Ansicht nach ist dieser erhaben-poetische Satz kürzbar zu: "Es gibt Versteh-Freiheiten." (Einsehen als Verstehen, nicht als sozialpsychologisches Zugeben). Zugleich ist er, um überhaupt Sinn zu ergeben, beispielsweise so zu präzisieren:

Es gibt Versteh-Freiheiten; sie sind je nach Intelligenz begrenzt und sie umfassen vielerlei Felder, etwa bestimmte Notwendigkeiten, Empfindungen, Logiken, Geometrien, Kausalitäten und so weiter. Notwendigkeiten sind also nur ein Feld von mehreren.




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Jörn Budesheim
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Mi 14. Aug 2024, 14:15

Ich bin kein Hegel-Experte, ich würde das Zitat aus dem Stegreif - gemäß meiner lange zurückliegenden Sekundär- und Tertiärlektüren - grob vereinfacht so verstehen: Für Hegel ist die Wirklichkeit selbst eine rationale Ordnung; was geschieht, geschieht aus Notwendigkeit. Wahre Freiheit ist für Hegel nicht bloß Willkür-Freiheit, sondern vollzieht sich aus der Einsicht in die objektive Notwendigkeit der Wirklichkeit selbst: Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit.




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Jörn Budesheim
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Mi 14. Aug 2024, 15:03

Ein sehr gutes Synonym für Freiheit ist Selbstbestimmung. Mir gefällt es besonders, weil es eine doppelte Bedeutung hat: Zum einen bedeutet es, dass man selbst entscheidet/bestimmt, was man denkt, tut oder lässt. Zum anderen bedeutet es, dass man sich selbst definiert/bestimmt – ähnlich wie man die Art eines Pilzes bestimmt. Man bestimmt, wer man ist, aber auch, wer man sein möchte. „Selbstbestimmt leben“ ist für viele Menschen ein Synonym für Freiheit, schätze ich, und das deckt auch die politische Dimension des Begriffs ab.

Autonomie ist ein weiteres passendes Wort, das eng mit Selbstbestimmung verwandt ist. Es bedeutet, nach den Gesetzen zu leben, die man sich selbst gegeben hat und auch die Verantwortung dafür zu übernehmen.

Diese verschiedenen Begriffe zeigen die vielen Facetten von Freiheit, die miteinander verbunden sind. Um Aufruhr zu vermeiden, habe ich moralische Aspekte bewusst ausgeklammert. Ich glaube, dass Freiheit wesentlich für die Bestimmung des Menschen ist und nicht ersetzt werden kann.

Ob und in welchem Sinne auch andere Lebewesen frei sind, lasse ich zunächst mal offen.




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Stefanie
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Mi 14. Aug 2024, 15:48

Irgendwie bin ich wohl bei einem anderen Verständnis von Freiheit.

Freiheit ist meiner Meinung nach ein Grundbedürfnis von uns Menschen. Wer will schon durch eine Herrschaft gegängelt werden, oder gar unterdrückt, verfolgt werden, Denk- Sag- und Handlungsverboten unterliegen, in völliger Abhängigkeit zu den totalitär Regierenden leben müssen. Unterdrückt werden. Ausgebeutet werden.
Keiner, oder?
Wir hier in unserem Land leben in Freiheit und zwar in vollständiger Freiheit, andere Menschen auf der Welt nicht.

Zwei Ansätze erstmal, ohne Arendt:
Ist die Freiheit aller wichtiger als die des Einzelnen?
Judith Shklar
(1928 – 1992)
Ja, weil die Freiheit von Furcht und Grausamkeit allen Menschen ein Grundbedürfnis ist. Was ist für uns als Menschen
wesentlicher: die Möglichkeit zur individuellen Selbstverwirklichung und zur Steigerung des Lebensstandards? Oder die Freiheit von Furcht und Grausamkeit? Für Judith Shklar ist die Antwort eindeutig die letztere. Angst, Verletzung und Beschämung sind für sie die größten Widersacher der Freiheit. Im Verlauf der Geschichte hatte stets eine Masse machtloser Menschen unter ihnen zu leiden. Shklar selbst musste 1939 mit ihrer jüdischen Familie aus Riga in die USA fliehen. Wer politisch verfolgt wird, hungern muss oder gar gefoltert wird, wird schlimmstenfalls zum bloß noch reagierenden Wesen, ohne jede Freiheit. Das oberste Ziel des „Liberalismus der Furcht“ ist deshalb die Vermeidung und Verminderung dieser Übel: Die „Freiheit, die dieser Liberalismus sichern will, ist die Freiheit von Machtmissbrauch und der Einschüchterung Wehrloser“. Demgegenüber ist die Sicherung eines hohen Lebensstandards Einzelner zweitrangig. Während aus Sicht anderer Liberaler der Schutz der Freiheit des Individuums und insbesondere sein Recht auf Privateigentum im Vordergrund stehen, geht es Shklar darum, die Schwachen vor der Gewalt von Regierungen und Wirtschaftsunternehmen zu bewahren. Um den Machtmissbrauch zu verhindern, sind institutionelle Vorkehrungen wesentlich – unter anderem Rechtsstaat, Demokratie, Gewaltenteilung sowie soziale Sicherungssysteme und Arbeitsverhältnisse, die den Lebensunterhalt sichern. Da Shklar im Streben nach Freiheit von Furcht eine anthropologische Grundbedingung sieht, haben ihre Überlegungen eine universelle Perspektive: „Es war einst das Merkmal des Liberalismus, kosmopolitisch zu sein und die Verletzung von Leben und Freiheit jedweder Rasse oder Gruppe überall auf der Erde zu seiner ureigenen Angelegenheit zu erheben. Es ist ein empörendes Paradox, dass gerade der Erfolg des Liberalismus in manchen Ländern das politische Einfühlungsvermögen seiner Bürger hat verkümmern lassen.“
Ich habe leider den Link zur Quelle verlegt.

Und diesen längeren Artikel:
https://philosophie-indebate.de/grenzen-der-freiheit/



Der, die, das.
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Wieso, weshalb, warum?
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Jörn Budesheim
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Mi 14. Aug 2024, 16:30

Stefanie hat geschrieben :
Mi 14. Aug 2024, 15:48
Irgendwie bin ich wohl bei einem anderen Verständnis von Freiheit.

Freiheit ist meiner Meinung nach ein Grundbedürfnis von uns Menschen. Wer will schon durch eine Herrschaft gegängelt werden, oder gar unterdrückt, verfolgt werden, Denk- Sag- und Handlungsverboten unterliegen, in völliger Abhängigkeit zu den totalitär Regierenden leben müssen. Unterdrückt werden. Ausgebeutet werden.
Keiner, oder?
Inwiefern ist das anders, da sehe ich jetzt keinen sooo großen Unterschied zu dem, was ich oben geschrieben habe. Dass jede selbstbestimmt leben will, heißt doch nichts anderes, als dass man nicht gegängelt werden will. Bei dir ist es ein Grundbedürfnis, bei mir eine Grundbestimmung, das sind unterschiedliche Akzente, aber nicht etwas völlig anderes.




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