Das Schöne in der Musik
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Manche meinen, über Musik könne man nicht reden. Das ist selbstverständlich falsch, denn erstens kann man über alles reden, was es gibt und was es nicht gibt, unsere Alltagssprache ist ein Universalmittel der Beschreibung der äußeren und der inneren Welt(en) und der Kommunikation/Verständigung darüber. Natürlich kann man nicht über alles gleich gut sprechen, über manches nur sehr indirekt. Und Wittgenstein hat insofern recht, als man nicht über Sinnloses sinnvoll sprechen kann, abgesehen von der Feststellung seiner Sinnlosigkeit, Selbstwidersprüchlichkeit.
Musik jedoch ist etwas sehr sinnvolles. Daher kann man zweitens unerschöpflich über Musik sprechen, angefangen mit einer basalen Funktionalität von Musik, im Ritus und in nonverbaler Kommunikation. Man kann nachzeichnen und analysieren, welche Rolle welche Musik in welchem Kontext spielt/gespielt hat, das ist Musiksoziologie. Man kann Musik klassifizieren, Formenlehre, Kunst- oder Musikgeschichte und viel mehr musikwissenschaftlich thematisieren. Auch in diesem Forum wird über Musik gesprochen.
Was mir bei alledem ein bißchen zu kurz kommt, obwohl es zumindest in der Musik als Kunstform, um die es mir hier gehen soll, das Wichtigste, das Entscheidende ist. Seit der Aufklärung huldigt man dem Wahren, Guten, Schönen, dem Logos, der Ethik und der Ästhetik, der Wahrheit, dem guten Leben und der Schönheit (selbstverständlich dem, was man dafür hält). Kunst, hier die musikalische, beschäftigt sich primär mit dem Schönen, auch wenn sie viele weitere Funktionen erfüllt, sich engagiert, den sozialen Zusammenhalt fördert, eine sehr geeignete Expressionsmöglichkeit bietet, Motorik anregt und koordiniert, usw. Sprechen wir also über die Schönheit in der Musik. Und da kommen wir auf den Ausgangspunkt dieser kleinen Überlegung zurück: Können wir darüber reden?
Manche meinen, daß Musik nicht rational ist, folglich nur ein nicht weiter begründbares Geschmacksurteil abgegeben werden kann. Das ist insofern richtig, als es Musik aus eben diesem Grund gibt, daß man nicht gut genug durch die natürliche Sprache oder andere Ausdrucksformen ersetzen kann, was Musik tut. Es ist jedoch auch falsch, weil die analytisch-rationale Sprache Aspekte explizit hervorheben kann (was der Musik nicht möglich ist) und damit Einblicke in das opake Kunstgebilde ermöglicht, die den Genuß der Musik auch da noch steigern, wo man meint, sie intuitiv vollkommen verstanden zu haben. Die rationale Analyse ersetzt nicht das Kunsterlebnis, aber sie tötet es nicht und kann es bereichern. In diesem Sinn würde ich hier gern über Musik sprechen, bevorzugt über klassische, da sie besonders ergiebig ist, aber gern auch über andere.
Bevor ich ein Beispiel gebe, wie ich mir dieses Reden vorstelle, wüßte ich gerne, was man hier im Forum darüber denkt. Hält man das für eine Schnapsidee?
Musik jedoch ist etwas sehr sinnvolles. Daher kann man zweitens unerschöpflich über Musik sprechen, angefangen mit einer basalen Funktionalität von Musik, im Ritus und in nonverbaler Kommunikation. Man kann nachzeichnen und analysieren, welche Rolle welche Musik in welchem Kontext spielt/gespielt hat, das ist Musiksoziologie. Man kann Musik klassifizieren, Formenlehre, Kunst- oder Musikgeschichte und viel mehr musikwissenschaftlich thematisieren. Auch in diesem Forum wird über Musik gesprochen.
Was mir bei alledem ein bißchen zu kurz kommt, obwohl es zumindest in der Musik als Kunstform, um die es mir hier gehen soll, das Wichtigste, das Entscheidende ist. Seit der Aufklärung huldigt man dem Wahren, Guten, Schönen, dem Logos, der Ethik und der Ästhetik, der Wahrheit, dem guten Leben und der Schönheit (selbstverständlich dem, was man dafür hält). Kunst, hier die musikalische, beschäftigt sich primär mit dem Schönen, auch wenn sie viele weitere Funktionen erfüllt, sich engagiert, den sozialen Zusammenhalt fördert, eine sehr geeignete Expressionsmöglichkeit bietet, Motorik anregt und koordiniert, usw. Sprechen wir also über die Schönheit in der Musik. Und da kommen wir auf den Ausgangspunkt dieser kleinen Überlegung zurück: Können wir darüber reden?
Manche meinen, daß Musik nicht rational ist, folglich nur ein nicht weiter begründbares Geschmacksurteil abgegeben werden kann. Das ist insofern richtig, als es Musik aus eben diesem Grund gibt, daß man nicht gut genug durch die natürliche Sprache oder andere Ausdrucksformen ersetzen kann, was Musik tut. Es ist jedoch auch falsch, weil die analytisch-rationale Sprache Aspekte explizit hervorheben kann (was der Musik nicht möglich ist) und damit Einblicke in das opake Kunstgebilde ermöglicht, die den Genuß der Musik auch da noch steigern, wo man meint, sie intuitiv vollkommen verstanden zu haben. Die rationale Analyse ersetzt nicht das Kunsterlebnis, aber sie tötet es nicht und kann es bereichern. In diesem Sinn würde ich hier gern über Musik sprechen, bevorzugt über klassische, da sie besonders ergiebig ist, aber gern auch über andere.
Bevor ich ein Beispiel gebe, wie ich mir dieses Reden vorstelle, wüßte ich gerne, was man hier im Forum darüber denkt. Hält man das für eine Schnapsidee?
Wenn ich alle Sätze richtig verstanden habe, stimme ich Deinem Kommentar vollständig zu.
Sehr gutes Thema. Ich war früher beruflich Tontechniker und Musiker, und philosophisch interessiert war ich schon immer. Also was akustische Gestaltung und Ausdrucksmöglichkeiten betrifft, bin ich an all ihren Aspekten und Zusammenhängen interessiert :-)
Sehr gutes Thema. Ich war früher beruflich Tontechniker und Musiker, und philosophisch interessiert war ich schon immer. Also was akustische Gestaltung und Ausdrucksmöglichkeiten betrifft, bin ich an all ihren Aspekten und Zusammenhängen interessiert :-)
- Jörn Budesheim
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Nein. Ich freue mich über jeden Faden, der sich der Kunst widmet. Leider habe ich von Musik gar keine Ahnung, ich bin natürlich dennoch gespannt.
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Danke (@ Quk, @ Jörn) für das Interesse, ich hoffe, es gibt noch zusätzliche Leser.
Das Wahre, Gute, Schöne. Zu viel verlangt? Nur, wenn man nach dem Absoluten strebt. Aber wir können immer etwas dafür tun, wenn wir dem Kompass des Gradienten des W-G-S folgen.
Das Gute am musikalisch Schönen ist, daß es dank youtube von jederman (der einen Computer besitzt) angeeignet werden kann, und das W-G-S ist ein Komplex, jedes Schöne ist ein kleines Stück Wahres.
Ich habe in derFreitag-Community, deren Mitglied ich ein Jahrzehnt lang war, als ich noch nicht von Zensur behelligt war, mich öfters - mit bescheidener Resonanz - dem musikalisch Schönen gewidmet, ich setze das hier mit der Hoffnung auf größere Beachtung fort mit der Analyse musikalischer Edelsteine, möge sich mancher daran bereichern, es ist ein kollektiver Reichtum, der umsonst ist und niemandem schadet.
Alexander Skriabin: Prélude op. 11 / Nr. 10
Der russische Komponist beginnt nicht als Revolutionär, der er werden wird, sondern tief in der Tradition verwurzelt, allerdings in ihrer modischsten Gestalt, sein jugendliches Vorbild ist Chopin, und es ist verblüffend, wie gut er dessen romantische Tonsprache verinnerlicht hat. Und noch erstaunlicher, wie konsequent er das Chopin-Idiom in eine eigene Sprache verdichtet, die sehr schnell mehr Skriabin als Chopin ist. Skriabin befreit sich schon in dieser Phase von der Gefahr, die die gesamte romantische Kunst bedroht, besonders (obwohl er ein guter Kontrapunktiker ist) auch Chopin. Die auch beim frühen Skriabin reichlich vorhandenen süßlichen Momente, ein nicht generell zu verachtendes Gewürz musikalischer Speisen, werden so streng musikalisch begründet, in das Menü integriert (ab der mittleren Periode seines Schaffens wird jede Kreation einsätzig), daß die Musik frei von Kitsch bleibt.
Es ist das Einfache, das kitschgefährdet ist, also simplifizierend, banalisierend, statt schön beschönigend, statt tief oberflächlich, ornamental, usw. Einfachsein ist aber auch ein starkes Potential, und sogar eine künstlerische Maxime, das Gegenteil von Kitsch, wenn es das Prinzip ist, etwas so einfach wie möglich, ohne ausschmückenden Ballast zu sagen. Es war glaube ich Eisler (oder war es Brecht?), der von dem Einfachen, das so schwer zu machen ist, geredet hat. Eisler ist selbst ein fantastisches Beispiel dafür, das gilt auch für Skriabin.
Die eine Seite Noten, fast durchwegs in Achteln mit der Tempobezeichnung Andante geschrieben*, ist im Grunde ein einziger Seufzer, der in einer Kadenz aufgelöst, versöhnt wird. Die Verdichtung wird erreicht durch die reflexive Verknüpfung der drei musikalischen Ebenen, Melodik, Harmonik und Rhythmus. Beginnen wir mit der Rhythmik. Der Seufzer ist einen Takt lang, und so soll, muß er auch (rubato) gespielt werden. So reiht sich Seufzerwelle an Seufzerwelle, bis die Wellenbewegung am Ende aufgehalten wird durch den nachgehaltenen Orgelpunkt Cis auf der Tonika. Das Stück steht in cis-Moll, beginnt auch mit Cis', aber dieser Baßton ist nur der Auftakt für den Seufzerbeginn gis'. Das Stück endet, wie gesagt mit dem Orgelpunkt Cis'' und einem Arpeggio, das die Beruhigung wieder in die Schwebe bringt, und folgerichtig auf der Dominante gis endet, immerhin eine Oktave tiefer als der Anfang. Rhythmisch muß dieses Arpeggio so gespielt werden, daß zunächst die Achtel beschleunigt werden und dann verlangsamt, zur Ruhe kommen. Der rubato-Spielweise entspricht das hoch-runter in jedem Seufzer (Takt), denn obwohl das klassische Seufzermotiv ja eine Abwärtsbewegung einer kleinen Sekunde beinhaltet, muß der jeweilige auftaktige Taktbeginn im Baß mitgedacht (er ist nicht zu überhören) werden. So haben wir also eine rhythmische, melodische und harmonische Wellenbewegung.
Nun zur Melodie. Das Seufzermotiv ist eines der am häufigsten benutzten Motive, minimal (zweitönig und im kleinsten Tonabstand), es wird offensichtlich als sehr "schön" empfunden, woraus sich seine Beliebtheit bei Komponisten und Musikhörern ergibt. Ich will dem hier nicht auf den Grund gehen, weil das das Thema zu sehr ausweiten würde, also begnüge ich mich mit der Feststellung. Nun kann man das Motiv variieren, im Urmotiv der Toteninsel von Rachmaninoff, auch einem großen Meisterwerk, wird das Seufzermotiv C-H' eingebettet in A'-C-H'-E-A, hier bei Skriabin wird es als gis'-fisis' eingebettet in: (Cis'-)gis'- e'-fisis'-dis'-dis; im Echo bemerkenswert transformiert in (Dis'-)h-gis-(Dis'-)a-e, statt h-ais h-a, aber auch die Umkehrung gis-a des Seufzermotivs. Der 3. Takt in gis-Moll spiegelt den ersten in cis-Moll mit h-gis-a-e, also mit der Auseinanderziehung von kleiner Sekunde + großer Terz in große Sekunde + Quarte unter der kontrapunktischen Baßbewegung Cis' → Dis', die auf Gis''-gis endet. Ein bemerkenswerter Ansatz einer entwickelten Variation, den man hören sollte, ein starker ästhetischer Reiz.
Nach der Wiederholung der viertaktigen Phrase kommt die wunderbare Aufhellung ins Dur, die parallele Tonart E-Dur. Wenn man komplexer hört, kann man bemerken, daß die Dur-Phrase gis'-cis'-e'-cis'-h eine raffinierte Verwandlung des Themas gis'-e'-fisis'-dis'-dis ist (eine Fortsetzung der entwickelten Variation), die sich nach Wiederholung zurückwendet in eine emphatische Affirmation des Themas in fff, die aber sogleich wieder aufgebrochen wird mit dem in pp nachhallenden Schlußarpeggio, das wie der nachauftaktige Beginn wie oben erwähnt mit der Quinte auf der Tonika endet. Das Stückchen ist ein rekursives Kunststück.
Nun zur in der klassischen Musik immer wichtiger werdenden vertikalen Dimension, der Harmonik. Ich hatte schon erwähnt, daß das Seufzermotiv melodisch gar nicht unmittelbar auftritt, nur in seiner Umkehrung akzentuiert(!) dis-e. Wenn man jedoch in harmonischen Blöcken denkt/hört, ist es die Akkordfolge (E-A-cis-gis-cis'-e'-gis') und (Dis-A-cis-fisis-cis'-dis'-fisis'), wobei im ersten Block der unüberhörbare Reibeton A die Schönheit dieses süßen Schmerzes aufblitzen läßt und in einer Mikrobinnenbewegung nach Gis auflöst. Solche Reibetöne sind die scharfen Gewürze, die die spätromantische Musik so schmackhaft machen. Abgesehen von dem Reibeton wird (ich ignoriere hier die weite Akkordlage) der Vierklang gis-cis'-e'-gis' zu a-cis'-dis'-fisis' zusammengezogen, harmonisch pendelt die Musik zwischen reinem (Moll-)Dreiklang, Bestimmtheit, und völliger Unaufgelöstheit in der Ganztonleiter. Das geschieht in den zwei ersten Takten, wird dann allerdings gemildert in der schon erwähnten Variation durch den Harmoniewechsel gis-Moll → A-Dur → gis-Moll (darin steckt die Krebsumkehrung des Sufzermotivs von gis→fisis nach a→gis).
Daran schließt sich wie oben melodisch beschrieben die viertaktige Phrase in der Dominante an, dann die viertaktige Variation in der E-Dur-Parallele zwischen cis und gis, und dann kommt die magische Wendung zurück zum Thema über den unaufgelösten Akkord Gis-d-fis-gis (wiederum die Ganztonleiter), der den Baß zur Korrektur H''-H' → His''-His' zwingt und über Gis''-Gis' in die schon erwähnte fff-Affirmation Cis''-Cis' führt.
Selbst ungeübte, intuitiv hörende Musikliebhaber werden sich der Magie dieser rauschhaften, betörenden wie verstörenden Musik, die ich mit nüchternen, nein: allzu trockenen Worten zu beschreiben versucht habe, nicht entziehen können und mir zustimmen, es ist ein kleines musikalisches Meisterwerk.
* Ich habe mir gründlich überlegt, welche Musik von Skriabin ich hier vorstellen soll, meine Lieblingskompositionen sind die zwei letzten Sonaten, aber ich wollte nicht etwas auswählen, das zu voraussetzungsvoll ist und daher für viele nicht analytisch nachvollziehbar. Das Gute an Skriabin ist, daß man den genialen Künstler schon in seinen Miniaturen in seinem wesentlichen Kern begreifen kann. Vielleicht gibt es auch Foristen, die ein wenig Klavier spielen. Ich selbst bin ein Amateur an dem Klavier, aber die zahlreichen leichten Stücke dieses sehr klavieristisch denkenden Komponisten, der selbst ein herausragender Pianist, und dem jede unbegründete Virtuosität zuwider war, sind leicht zu meistern. Also konnte ich aus dem vollen schöpfen, in die engere Auswahl kamen drei Stücke aus der frühen, mittleren und späten Phase, neben diesem frühen Prélude das Poème op. 32/2 aus der mittleren Schaffensperiode und das ganz späte Prélude op. 74/3. Ich habe mich für das am leichtesten zugängliche entschieden. Wem das nicht gefällt, der muß noch ein bißchen hören üben. Mit Mozart und Beethoven schafft man auch Skriabin.
Eine ganz gute die Einspielung: https://music.youtube.com/watch?v=JCqbF96b30A, die auch die Noten liefert.
Das Wahre, Gute, Schöne. Zu viel verlangt? Nur, wenn man nach dem Absoluten strebt. Aber wir können immer etwas dafür tun, wenn wir dem Kompass des Gradienten des W-G-S folgen.
Das Gute am musikalisch Schönen ist, daß es dank youtube von jederman (der einen Computer besitzt) angeeignet werden kann, und das W-G-S ist ein Komplex, jedes Schöne ist ein kleines Stück Wahres.
Ich habe in derFreitag-Community, deren Mitglied ich ein Jahrzehnt lang war, als ich noch nicht von Zensur behelligt war, mich öfters - mit bescheidener Resonanz - dem musikalisch Schönen gewidmet, ich setze das hier mit der Hoffnung auf größere Beachtung fort mit der Analyse musikalischer Edelsteine, möge sich mancher daran bereichern, es ist ein kollektiver Reichtum, der umsonst ist und niemandem schadet.
Alexander Skriabin: Prélude op. 11 / Nr. 10
Der russische Komponist beginnt nicht als Revolutionär, der er werden wird, sondern tief in der Tradition verwurzelt, allerdings in ihrer modischsten Gestalt, sein jugendliches Vorbild ist Chopin, und es ist verblüffend, wie gut er dessen romantische Tonsprache verinnerlicht hat. Und noch erstaunlicher, wie konsequent er das Chopin-Idiom in eine eigene Sprache verdichtet, die sehr schnell mehr Skriabin als Chopin ist. Skriabin befreit sich schon in dieser Phase von der Gefahr, die die gesamte romantische Kunst bedroht, besonders (obwohl er ein guter Kontrapunktiker ist) auch Chopin. Die auch beim frühen Skriabin reichlich vorhandenen süßlichen Momente, ein nicht generell zu verachtendes Gewürz musikalischer Speisen, werden so streng musikalisch begründet, in das Menü integriert (ab der mittleren Periode seines Schaffens wird jede Kreation einsätzig), daß die Musik frei von Kitsch bleibt.
Es ist das Einfache, das kitschgefährdet ist, also simplifizierend, banalisierend, statt schön beschönigend, statt tief oberflächlich, ornamental, usw. Einfachsein ist aber auch ein starkes Potential, und sogar eine künstlerische Maxime, das Gegenteil von Kitsch, wenn es das Prinzip ist, etwas so einfach wie möglich, ohne ausschmückenden Ballast zu sagen. Es war glaube ich Eisler (oder war es Brecht?), der von dem Einfachen, das so schwer zu machen ist, geredet hat. Eisler ist selbst ein fantastisches Beispiel dafür, das gilt auch für Skriabin.
Die eine Seite Noten, fast durchwegs in Achteln mit der Tempobezeichnung Andante geschrieben*, ist im Grunde ein einziger Seufzer, der in einer Kadenz aufgelöst, versöhnt wird. Die Verdichtung wird erreicht durch die reflexive Verknüpfung der drei musikalischen Ebenen, Melodik, Harmonik und Rhythmus. Beginnen wir mit der Rhythmik. Der Seufzer ist einen Takt lang, und so soll, muß er auch (rubato) gespielt werden. So reiht sich Seufzerwelle an Seufzerwelle, bis die Wellenbewegung am Ende aufgehalten wird durch den nachgehaltenen Orgelpunkt Cis auf der Tonika. Das Stück steht in cis-Moll, beginnt auch mit Cis', aber dieser Baßton ist nur der Auftakt für den Seufzerbeginn gis'. Das Stück endet, wie gesagt mit dem Orgelpunkt Cis'' und einem Arpeggio, das die Beruhigung wieder in die Schwebe bringt, und folgerichtig auf der Dominante gis endet, immerhin eine Oktave tiefer als der Anfang. Rhythmisch muß dieses Arpeggio so gespielt werden, daß zunächst die Achtel beschleunigt werden und dann verlangsamt, zur Ruhe kommen. Der rubato-Spielweise entspricht das hoch-runter in jedem Seufzer (Takt), denn obwohl das klassische Seufzermotiv ja eine Abwärtsbewegung einer kleinen Sekunde beinhaltet, muß der jeweilige auftaktige Taktbeginn im Baß mitgedacht (er ist nicht zu überhören) werden. So haben wir also eine rhythmische, melodische und harmonische Wellenbewegung.
Nun zur Melodie. Das Seufzermotiv ist eines der am häufigsten benutzten Motive, minimal (zweitönig und im kleinsten Tonabstand), es wird offensichtlich als sehr "schön" empfunden, woraus sich seine Beliebtheit bei Komponisten und Musikhörern ergibt. Ich will dem hier nicht auf den Grund gehen, weil das das Thema zu sehr ausweiten würde, also begnüge ich mich mit der Feststellung. Nun kann man das Motiv variieren, im Urmotiv der Toteninsel von Rachmaninoff, auch einem großen Meisterwerk, wird das Seufzermotiv C-H' eingebettet in A'-C-H'-E-A, hier bei Skriabin wird es als gis'-fisis' eingebettet in: (Cis'-)gis'- e'-fisis'-dis'-dis; im Echo bemerkenswert transformiert in (Dis'-)h-gis-(Dis'-)a-e, statt h-ais h-a, aber auch die Umkehrung gis-a des Seufzermotivs. Der 3. Takt in gis-Moll spiegelt den ersten in cis-Moll mit h-gis-a-e, also mit der Auseinanderziehung von kleiner Sekunde + großer Terz in große Sekunde + Quarte unter der kontrapunktischen Baßbewegung Cis' → Dis', die auf Gis''-gis endet. Ein bemerkenswerter Ansatz einer entwickelten Variation, den man hören sollte, ein starker ästhetischer Reiz.
Nach der Wiederholung der viertaktigen Phrase kommt die wunderbare Aufhellung ins Dur, die parallele Tonart E-Dur. Wenn man komplexer hört, kann man bemerken, daß die Dur-Phrase gis'-cis'-e'-cis'-h eine raffinierte Verwandlung des Themas gis'-e'-fisis'-dis'-dis ist (eine Fortsetzung der entwickelten Variation), die sich nach Wiederholung zurückwendet in eine emphatische Affirmation des Themas in fff, die aber sogleich wieder aufgebrochen wird mit dem in pp nachhallenden Schlußarpeggio, das wie der nachauftaktige Beginn wie oben erwähnt mit der Quinte auf der Tonika endet. Das Stückchen ist ein rekursives Kunststück.
Nun zur in der klassischen Musik immer wichtiger werdenden vertikalen Dimension, der Harmonik. Ich hatte schon erwähnt, daß das Seufzermotiv melodisch gar nicht unmittelbar auftritt, nur in seiner Umkehrung akzentuiert(!) dis-e. Wenn man jedoch in harmonischen Blöcken denkt/hört, ist es die Akkordfolge (E-A-cis-gis-cis'-e'-gis') und (Dis-A-cis-fisis-cis'-dis'-fisis'), wobei im ersten Block der unüberhörbare Reibeton A die Schönheit dieses süßen Schmerzes aufblitzen läßt und in einer Mikrobinnenbewegung nach Gis auflöst. Solche Reibetöne sind die scharfen Gewürze, die die spätromantische Musik so schmackhaft machen. Abgesehen von dem Reibeton wird (ich ignoriere hier die weite Akkordlage) der Vierklang gis-cis'-e'-gis' zu a-cis'-dis'-fisis' zusammengezogen, harmonisch pendelt die Musik zwischen reinem (Moll-)Dreiklang, Bestimmtheit, und völliger Unaufgelöstheit in der Ganztonleiter. Das geschieht in den zwei ersten Takten, wird dann allerdings gemildert in der schon erwähnten Variation durch den Harmoniewechsel gis-Moll → A-Dur → gis-Moll (darin steckt die Krebsumkehrung des Sufzermotivs von gis→fisis nach a→gis).
Daran schließt sich wie oben melodisch beschrieben die viertaktige Phrase in der Dominante an, dann die viertaktige Variation in der E-Dur-Parallele zwischen cis und gis, und dann kommt die magische Wendung zurück zum Thema über den unaufgelösten Akkord Gis-d-fis-gis (wiederum die Ganztonleiter), der den Baß zur Korrektur H''-H' → His''-His' zwingt und über Gis''-Gis' in die schon erwähnte fff-Affirmation Cis''-Cis' führt.
Selbst ungeübte, intuitiv hörende Musikliebhaber werden sich der Magie dieser rauschhaften, betörenden wie verstörenden Musik, die ich mit nüchternen, nein: allzu trockenen Worten zu beschreiben versucht habe, nicht entziehen können und mir zustimmen, es ist ein kleines musikalisches Meisterwerk.
* Ich habe mir gründlich überlegt, welche Musik von Skriabin ich hier vorstellen soll, meine Lieblingskompositionen sind die zwei letzten Sonaten, aber ich wollte nicht etwas auswählen, das zu voraussetzungsvoll ist und daher für viele nicht analytisch nachvollziehbar. Das Gute an Skriabin ist, daß man den genialen Künstler schon in seinen Miniaturen in seinem wesentlichen Kern begreifen kann. Vielleicht gibt es auch Foristen, die ein wenig Klavier spielen. Ich selbst bin ein Amateur an dem Klavier, aber die zahlreichen leichten Stücke dieses sehr klavieristisch denkenden Komponisten, der selbst ein herausragender Pianist, und dem jede unbegründete Virtuosität zuwider war, sind leicht zu meistern. Also konnte ich aus dem vollen schöpfen, in die engere Auswahl kamen drei Stücke aus der frühen, mittleren und späten Phase, neben diesem frühen Prélude das Poème op. 32/2 aus der mittleren Schaffensperiode und das ganz späte Prélude op. 74/3. Ich habe mich für das am leichtesten zugängliche entschieden. Wem das nicht gefällt, der muß noch ein bißchen hören üben. Mit Mozart und Beethoven schafft man auch Skriabin.
Eine ganz gute die Einspielung: https://music.youtube.com/watch?v=JCqbF96b30A, die auch die Noten liefert.
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Ein langes Stück. Am Anfang dachte ich, es plätschert so dahin und es passiert nicht viel, aber dann wurde es über weite Strecken ziemlich dramatisch, finde ich. Manchmal kam es mir sogar wie Filmmusik vor, auf jeden Fall sehr erzählerisch - auch wenn ich natürlich nicht weiß, welche Geschichten da genau erzählt werden. Habe ich mir gerne angehört, parallel dazu habe ich ein wenig gezeichnet.
Beim Thema "Seufzermotiv" muss ich leider wieder daran denken, dass Schönheit nicht durchweg objektiv sein kann :-) Wenn ich beispielsweise stundenlang Beethoven genieße, und es ertönt plötzlich ein "Seufzermotiv", dann verkneift sich meine Gesichtsmuskulatur, als hätte ich in eine Zitrone gebissen :-) Beethoven nenne ich in diesem Zusammenhang, weil sein Gesamtwerk für mich der Inbegriff des Nichtseufzens ist. Und dann bringt er doch an dieser einen Stelle einen Seufzer, aus heiterem Himmel! Neiiin! Ich nenne das immer den neckischen, biederen Mauerblümchen-Halbton. Ich fühle dabei die Stimmung eines deutschen Heimatfilms aus den 1950ern. An selbiger zeitlicher Stelle, in den 1950ern, schlägt mein Herz eher für den damals aufkommenden Rock'n'Roll, der doch viel frecher und mutiger war und die Furcht des Mauerblümchens gerade überwinden wollte. Und deshalb war in meinen Ohren gerade auch Beethoven ein Pionier der Rockmusik.
Kurze technische Frage: Wie soll dieser Faden organisatorisch weitergehen? Ist er eher als Vortrag gemeint? Oder eher als Gespräch?
Kurze technische Frage: Wie soll dieser Faden organisatorisch weitergehen? Ist er eher als Vortrag gemeint? Oder eher als Gespräch?
Ich glaube, ich habe da etwas missverstanden. Meinst Du den 3. Takt von Anfang an gezählt? Ich sehe auf dem Notenblatt im Video kein gis-Moll. Ich höre auch in den ersten Minuten nicht so etwas, was ich als Seufzermotiv verstehen würde. Auf welche Stellen im Video (Minuten:Sekunden) beziehen sich Deine Erläuterungen?Wolfgang Endemann hat geschrieben : ↑Do 2. Mai 2024, 11:48Nun kann man das Motiv variieren, im Urmotiv der Toteninsel von Rachmaninoff, auch einem großen Meisterwerk, wird das Seufzermotiv C-H' eingebettet in A'-C-H'-E-A, hier bei Skriabin wird es als gis'-fisis' eingebettet in: (Cis'-)gis'- e'-fisis'-dis'-dis; im Echo bemerkenswert transformiert in (Dis'-)h-gis-(Dis'-)a-e, statt h-ais h-a, aber auch die Umkehrung gis-a des Seufzermotivs. Der 3. Takt in gis-Moll spiegelt den ersten in cis-Moll mit h-gis-a-e, also mit der Auseinanderziehung von kleiner Sekunde + großer Terz in große Sekunde + Quarte unter der kontrapunktischen Baßbewegung Cis' → Dis', die auf Gis''-gis endet.
Vielleicht habe ich auch den Begriff "Seufzermotiv" falsch verstanden. An manchen Stellen höre schon gewisse Motive mit originellen Halbtonschritten, aber die erinnern mich eher an den "Devil's Interval" als an einen romantischen Seufzer:
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Das zeigt sehr schön, wie subjektiv das Musikempfinden ist. Man kann das Stück als extrem kurz hören, was es objektiv ist, es ist aber auch durchaus richtig, es als "lang" zu empfinden. Intensives Zuhören läßt es als länger erscheinen. Chapeau, Du hast richtig gehört: es ist ein extrem dramatischer Bogen, wie aus dem zarten pp-Anfang über den immer noch pp gehaltenen Dur-Teil der dramatische Höhepunkt in fff erreicht wird, um sogleich wieder durch sff-Töne gebrochen in piano zu enden. So macht es Filmmusik, es ist erzählerisch. Allerdings erzählt Musik keine konkreten Geschichten, sondern abstrakte. Selbst Wagner sowie der vom Kollegen Quk erwähnte Ludwig van in seiner wundervollen VI. Sinfonie hat keine platte Programmmusik geschrieben, oder Ravel in La Valse, das ist nicht (nur, denn Ballettmusik ist es schon) Tanzmusik, sondern die Apotheose des Tanzes.
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Schönheit ist ganz sicher nicht völlig objektivierbar. Aber sie liegt auch keineswegs nur im Auge des Betrachters. Nicht objektivierbar heißt, man kann das subjektive Moment nicht eliminieren, aber es gibt doch die objektive Ebene, auf der man ästhetische Urteile fällen kann.
Deine Bewunderung von Beethoven kann ich absolut nachvollziehen, allerdings scheinst Du etwas einseitig auf Musik zu blicken. Beethoven ist hauptsächlich Klassiker in der Nachfolge Bachs, aber er ist auch schon Frühromantiker. Der erste Satz der Mondscheinsonate, das zweite Rasumowsky-Quartett, der zweite Satz der 7. Sinfonie sind reine Romantik. Tatsächlich ist Musik die Sprache des Gefühls, in diesem Sinne ist alle Musik romantisch, selbst noch der Neoklassizismus, die neue Sachlichkeit, extremes Beispiel: Strawinskys Geschichte vom Soldaten. Das Seufzermotiv, wie Du richtig schreibst, eigentlich nur der kleine Sekundschritt abwärts aus der Tonart, aus der Musik auszuschließen ist wie die Schlußkadenz zu verbannen. Einer der schönsten Seufzer in der klassischen Musik ist Schuberts "Leiermann", wenn Dir das nicht gefällt, gehörst Du zu einer winzigen Minderheit. Oder der Scherzosatz aus Mahlers IV. Sinfonie.
Deine Vorliebe für Jazz (auch ich mag Jazz sehr) könnte mit dieser Überempfindlichkeit gegenüber Sentimentalität zusammenhängen, ich stimme ja durchaus zu bei der Aversion gegen Gefühlsduselei. Auch ich reagiere sehr empfindlich auf Kitsch. Aber ich setze Kitsch nicht mit großen Gefühlen gleich. Große Gefühle, das ist zB der zwölftönige Todesschrei-Akkord der Lulu, und die Wendung in Dur-Tonalität beim Tod Woyzecks. Diese großen Gefühle sind alles andere als Biedermeier.
Übrigens: die schönste Rock-Musik steht auch überwiegend in Moll. Unsentimentale Gefühlsmusik. Ein doppelter Pleonasmus (im Falle der klassischen Musik).
Mooooment ... :-) Was meine Denkweise und meinen Geschmack betrifft, ziehst Du gerade allzu viele voreilige Schlüsse.
Gefühlsduselei gefällt mir sehr wohl. Es gibt tausend verschiedene Gefühle. Ich mag nur jenes schüchtern-biedere Mauerblümchengefühl nicht. Das heißt nicht, dass ich die anderen 999 Gefühle nicht mag.
Jazz höre ich selten. Wie kommst Du darauf, ich hätte eine Vorliebe für Jazz?
Einseitiger Blick auf die Musik? Nur weil ich Beethoven als Einzelbeispiel nannte? Ich liebe unzählig viele Stile. Meine Palette reicht sowohl durch die Jahrhunderte hindurch als auch über alle Kontinente. Rockmusik ist zwar mein Hauptfach, aber das ist nur ein kleiner Teil des ganzen.
Meinst Du dieses Motiv zwischen 1:41 - 1:43 ? Das wird später noch ein paar Mal wiederholt. Jedenfalls finde ich dieses Stück und speziell dieses Motiv keinesfalls bieder oder kitschig.
Gefühlsduselei gefällt mir sehr wohl. Es gibt tausend verschiedene Gefühle. Ich mag nur jenes schüchtern-biedere Mauerblümchengefühl nicht. Das heißt nicht, dass ich die anderen 999 Gefühle nicht mag.
Jazz höre ich selten. Wie kommst Du darauf, ich hätte eine Vorliebe für Jazz?
Einseitiger Blick auf die Musik? Nur weil ich Beethoven als Einzelbeispiel nannte? Ich liebe unzählig viele Stile. Meine Palette reicht sowohl durch die Jahrhunderte hindurch als auch über alle Kontinente. Rockmusik ist zwar mein Hauptfach, aber das ist nur ein kleiner Teil des ganzen.
Doch, das gefällt mir. Aber mit dem "Seufzer" habe ich Dich wahrscheinlich begrifflich missverstanden. Ich höre hier keinen:Wolfgang Endemann hat geschrieben : ↑Fr 3. Mai 2024, 10:50Einer der schönsten Seufzer in der klassischen Musik ist Schuberts "Leiermann", wenn Dir das nicht gefällt, gehörst Du zu einer winzigen Minderheit.
Meinst Du dieses Motiv zwischen 1:41 - 1:43 ? Das wird später noch ein paar Mal wiederholt. Jedenfalls finde ich dieses Stück und speziell dieses Motiv keinesfalls bieder oder kitschig.
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Zielt Deine Frage auf Rachmaniniff oder auf Skriabin? Ich meine bei Rachmaninoff das in Takt 5 beginnende Celloostinato, das Motiv A'-C-H'-E-A, das das Seufzermotiv C-H' enthält und später zB variert wird in c-e-H-e-a mit dem gleichen Seufzermotiv c-H. Der dritte Takt bei Skriabin steht in der Dominante gis-Moll zum anfänglichen cis-Moll.
Nun, vielleicht bin ich betriebsblind, vielleicht muß man das von mir Analysierte nicht als Seufzermotiv hören, wie aber hört man es dann? Man könnte die große Terz in der Molltonart nach unten als das generierende Motiv des Stückes sehen, die wird dann einen Halbton tiefer gespielt und später in der Durvariante als kleine Terz variierend wiederholt. Was für meine Hörart spricht, ist das emphatische dis-e, das in der Wellenbewegung in der Umkehrung des Seufzermotivs selbiges zurücknimmt. Aber das tiefe Schöne in der Musik ist genau diese Mehrdeutigkeit, die in guten Kompositionen mitgedacht und von sensiblen Hörern mitgehört wird.
Ja, es gibt eine enge Verwandtschaft von kleiner Sekunde und Tritonus.
Skriabin.Wolfgang Endemann hat geschrieben : ↑Fr 3. Mai 2024, 11:58Zielt Deine Frage auf Rachmaniniff oder auf Skriabin?
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Da bin ich sofort dabei!Wolfgang Endemann hat geschrieben : ↑Fr 3. Mai 2024, 10:50[Schönheit liegt] keineswegs nur im Auge des Betrachters.
Nur meine zwei Cent: Schönheit liegt nicht in unseren Augen, aber unsere Augen (und natürlich unser Denken - im Zusammenspiel) sind die einzigen Instrumente, die objektive Schönheit erfassen können, denke ich. Die ontologische Subjektivität (im Sinne von Searle im Gegensatz zur epistemischen Subjektivität) ist die Bühne (vielleicht à la Quk), auf der die Stücke gespielt werden. Allerdings kann keine Notation, keine Aufführung im Konzertsaal, kein YouTube-Video die Aufführung auf der Bühne der ontologischen Subjektivität vollständig determinieren, sodass auch Raum für die Individualität der Zuschauerin bleibt. Das gehört dazu, ist vielleicht ein Teil der Freiheit, die Kunst bietet.
Und auch die epistemische Subjektivität hat ihren Platz. Ein Stück kann objektiv noch so gut sein, aber wenn ich keine Antennen dafür habe und mein Geschmack streikt, dann ist das eben so. ("Geschmack" ist hier in dem Sinne gemeint, wie der Begriff heute im Alltag meist verwendet wird. Für viele Philosophinnen bedeutet er aber genau das Gegenteil: Geschmack ist die Fähigkeit, in der Kunst angemessen zu urteilen).
Das Betrachten ist selbst eine Kunst, die natürlich auch gelernt werden will.
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Da habe ich Dich wohl zu wörtlich gelesen und zu viel hineininterpretiert.
Aber Gefühlsduselei mag ich nicht, denn darin kommt doch zum Ausdruck, daß es keine echten Gefühle, sondern Sentimentalitäten sind. Es gibt einige wenige echte tiefe Grundgefühle, aber die können ganz unterschiedlich kontextualisiert sein und so ein Spektrum von meinetwegen 999 Gefühlen darstellen. Man könnte auch sagen, jedes Kunstwerk ist einmalig, stellt eine einmalige Gefühlskonstellation dar.
Das schüchtern-biedere Mauerblümchengefühl? Darunter stelle ich mir ein schlichtes, kaum realitätshaltiges Gefühl einer unreifen, naiven Person vor, für sich betrachtet nicht sehr attraktiv. Allerdings kann gerade ein solches als Kontrast in einem Musikstück oder in einer Oper höchst sinnvoll sein. Und ganz unpretentiös präsentiert sogar sehr schön sein. Als Beispiel hier manche Lieder von Hugo Wolf, aber auch Schubert. Als problematische Beispiele fallen mir ein, das überbewertete Stückchen Träumerei von Schumann oder auch Debussys clair de lune, kein Mißgriff, aber unter Debussy-Niveau, vielleicht darum so beliebt.
Eine Quasthoff-Perle. Der Leiermann ist aus dem (seufzermotivischen) kleinen Sekundschritt nach unten und seiner Krebsgestalt konstruiert. Das ist im vierten Takt das c'-(betont)h, welches wiederholt wird und im 7. Takt zwar mit (betont)gis(-h)-e beantwortet wird, jedoch den Rückgang zur Tonika a mit der Terz c vollzieht. Dabei wird nicht unterschieden zwischen der Motivgestalt c'-h, a-gis und e-dis bzw e'-dis'. Gesungen wird a-gis-h-e, dann c'-h-e-h ("er,was er kann" und "er hin und her"). Das ist die Substanz des Stückes, die Kreisbewegung von Seufzermotiv und Kadenz, die Leier. Dann kommen noch faszinierend die klammen Finger des Leiermanns in der Winterkälte, oder auch das altersschwache Versagen der Motorik in der rhythmischen Figur Achtel-Sechzehntel-Pause-Halbe ins Spiel. Man kann diese Stimmung nicht eindrucksvoller vertonen als es hier geschehen ist, und auch poetisch nicht so suggestiv. Das Stück endet im Gesang mit f'-e', in der Klavierstimme mit a-c'-(betont)h-a.
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Schön gesagt. Das Ganze muß ich zwar noch genauer durchdenken, aber es scheint mir richtig zu sein. Das ästhetische Objekt ist ja vor allem in seiner integralen Ganzheit (Komplexität) schön, es muß intuitiv erfaßt werden, allerdings kann man sich ihm rational nähern, und das ist, was ich hier vorschlage als Form des Sprechens über die Kunst der Musik, musikalische Schönheit.Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑Fr 3. Mai 2024, 12:24Schönheit liegt nicht in unseren Augen, aber unsere Augen (und natürlich unser Denken - im Zusammenspiel) sind die einzigen Instrumente, die objektive Schönheit erfassen können, denke ich.
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Ich hoffe, daß ich hier nicht gegen ein großes Desinteresse anschreibe, daß sich kaum jemand zu Wort melden würde, habe ich nach meinen Anfangsüberlegungen schon selbst erwartet. Ich baue jedoch darauf, daß ich Anregungen geben kann, Musik besser zu verstehen. In diesem Sinne möchte ich meine Überlegungen fortsetzen und hoffe auf nachdenklichen Respons.
Dazu komme ich nochmal auf die vorgestellte Musik zurück, die wie alle sorgfältig komponierte Musik integral gehört werden will/sollte. Kunst zielt wie nichts sonst (außer der Philosophie) aufs Ganze, das war mit der kathartischen Wirkung gemeint, damit, daß die Kunst den Menschen zu einem besseren macht, oder ihn in eine neue Welt führt. Daher ist Kunst nicht einfach eine Art des Machens, sondern kulminiert im Kunstwerk, einem komplexen Ding aus einem Guß, oder ein ständiger Quell. Und so setzt sich die Idee der Einheit/Ganzheit fort in dem Konzept des Gesamtkunstwerks, das mehrere oder alle Künste im Kunstwerk zu integrieren trachtet, oder dem work in progress, das alle zeitlichen Grenzen sprengt. Die Wagner-Opern werden immer länger und setzen sich zu Zyklen zusammen. Der späte Scriabin setzt zu einem Mammutkunstwerk an, und die Idee endet keineswegs mit der in die Gegenrichtung pendelnden neuen Sachlichkeit und exzessiver Strenge der Ordnung, der Opernzyklus von Stockhausen setzt noch eines drauf (auch Cages Europeras, die freilich die Dekonstruktion des Gesamtkunstwerks sein wollen).
Bleiben wir bei Scriabin und seinen Préludes. Hier übt, dh trainiert er das Unikat im Kleinen, den beiläufigen Aphorismus, und da ergeben sich öfters solche Edelsteine wie das op. 11/10. Ich möchte an eine Analogie aus der literarischen Kunst erinnern: Die ganz großen Schriftsteller erreichen ebenfalls die überwältigende Wirkung eines suggestiv Absoluten, bei Kafke sind es nicht die konkreten Geschichten, sondern es ist der albtraumhafte, klaustrophobische Ton, bei Thomas Mann der ironische, bei Lawrence Durrell und James Joyce ist das Ganze und das darin disparate Einzelne das explizite Thema, Samuel Beckett abstrahiert den geistigen Raum schon lange, bevor er für den SDR geometrisches Aktionstheater schreibt, schon in Murphy. Damit kommt Beckett der Musik am nächsten.
Das bis zur romantischen Epoche beherrschende Ganze ist die Tonalität des Quintenzirkels, alle in ihrem Sinn verfaßte Musik ist ein Kreisen um das harmonische Gleichgewicht, jeder Zeitpunkt in der Entfaltung des Kunstwerks ist definiert durch die organische oder kontrastive Abweichung oder Rückführung auf das harmonische Gleichgewicht. Das bestimmt die Qualität einer "guten" Melodie wie einer "guten" harmonischen Fortsetzung. Genau das wird musiktheoretisch in Kontrapunkt und Harmonielehre gelehrt. Kontrapunkt und harmonische Engführung sind die zentralen Kriterien.
Das kann man in nuce bei Scriabin studieren. Ich habe schon von den harmonischen Blöcken gesprochen, die in den Oberstimmen das Seufzermotiv zitieren. In ihnen kann man den Kontrapunkt zweidimensional verfolgen, einerseits in der Gegenbewegung von Oberstimme und (Kontra-)Baßstimme, letztere trägt auch den tonalen Bezugspunkt, andrerseits im Zusammenziehen und Spreizen des Harmoniesatzes. Einerseits also Cis'-gis'-fisis'-dis-e-(e'+E)-cis'-(as+Fisis)-(gis+Gis) (ich breche hier ab und habe Fülltöne in dieser Bewegung weggelassen), andrerseits den Übergang zu engeren Akkorden: (Fisis+cis+e+as)→(Gis+cis+e+gis), dann gespreizt as+As' und Dis'-h-gis, usw. Bemerkenswert auch die Entwicklung cis-Moll→gis-Moll und dann über den schon erwähnten seltsamen über Dis gelegten A-Dur Dreiklang, der jedoch unentschieden auf dis-Moll oder auf gis-Moll zu beziehen ist. So mehrdeutig er ist, so ist doch die naheliegendste Lesart: Dis-G-cis-e-a als dis-Moll mit verminderter Quinte G statt Gis, kleiner Septime, verminderter None e (statt eis) und verminderter Duodezime a statt as zu interpretieren, ein Akkord, der statt auf gis-Moll zurückzuführen in Gis-Dur mündet. Die Wiederholung der Phrase in der Subdominante endet allerdings wieder in cis-Moll, der Grund ist die anschließende, das Stück aufhellende Dur-Episode in der Parallelen E-Dur, die schließlich in der Wiederholung mit einem dem obigen seltsamen dis-Moll-A-Dur entsprechenden Modulationsakkord in der Ganztonleiter logisch-stingent in die Mollparallele überführt, die sich noch einmal dramatisch mit dem Kopfthema zur Geltung bringt.
Wunderbar.
Dazu komme ich nochmal auf die vorgestellte Musik zurück, die wie alle sorgfältig komponierte Musik integral gehört werden will/sollte. Kunst zielt wie nichts sonst (außer der Philosophie) aufs Ganze, das war mit der kathartischen Wirkung gemeint, damit, daß die Kunst den Menschen zu einem besseren macht, oder ihn in eine neue Welt führt. Daher ist Kunst nicht einfach eine Art des Machens, sondern kulminiert im Kunstwerk, einem komplexen Ding aus einem Guß, oder ein ständiger Quell. Und so setzt sich die Idee der Einheit/Ganzheit fort in dem Konzept des Gesamtkunstwerks, das mehrere oder alle Künste im Kunstwerk zu integrieren trachtet, oder dem work in progress, das alle zeitlichen Grenzen sprengt. Die Wagner-Opern werden immer länger und setzen sich zu Zyklen zusammen. Der späte Scriabin setzt zu einem Mammutkunstwerk an, und die Idee endet keineswegs mit der in die Gegenrichtung pendelnden neuen Sachlichkeit und exzessiver Strenge der Ordnung, der Opernzyklus von Stockhausen setzt noch eines drauf (auch Cages Europeras, die freilich die Dekonstruktion des Gesamtkunstwerks sein wollen).
Bleiben wir bei Scriabin und seinen Préludes. Hier übt, dh trainiert er das Unikat im Kleinen, den beiläufigen Aphorismus, und da ergeben sich öfters solche Edelsteine wie das op. 11/10. Ich möchte an eine Analogie aus der literarischen Kunst erinnern: Die ganz großen Schriftsteller erreichen ebenfalls die überwältigende Wirkung eines suggestiv Absoluten, bei Kafke sind es nicht die konkreten Geschichten, sondern es ist der albtraumhafte, klaustrophobische Ton, bei Thomas Mann der ironische, bei Lawrence Durrell und James Joyce ist das Ganze und das darin disparate Einzelne das explizite Thema, Samuel Beckett abstrahiert den geistigen Raum schon lange, bevor er für den SDR geometrisches Aktionstheater schreibt, schon in Murphy. Damit kommt Beckett der Musik am nächsten.
Das bis zur romantischen Epoche beherrschende Ganze ist die Tonalität des Quintenzirkels, alle in ihrem Sinn verfaßte Musik ist ein Kreisen um das harmonische Gleichgewicht, jeder Zeitpunkt in der Entfaltung des Kunstwerks ist definiert durch die organische oder kontrastive Abweichung oder Rückführung auf das harmonische Gleichgewicht. Das bestimmt die Qualität einer "guten" Melodie wie einer "guten" harmonischen Fortsetzung. Genau das wird musiktheoretisch in Kontrapunkt und Harmonielehre gelehrt. Kontrapunkt und harmonische Engführung sind die zentralen Kriterien.
Das kann man in nuce bei Scriabin studieren. Ich habe schon von den harmonischen Blöcken gesprochen, die in den Oberstimmen das Seufzermotiv zitieren. In ihnen kann man den Kontrapunkt zweidimensional verfolgen, einerseits in der Gegenbewegung von Oberstimme und (Kontra-)Baßstimme, letztere trägt auch den tonalen Bezugspunkt, andrerseits im Zusammenziehen und Spreizen des Harmoniesatzes. Einerseits also Cis'-gis'-fisis'-dis-e-(e'+E)-cis'-(as+Fisis)-(gis+Gis) (ich breche hier ab und habe Fülltöne in dieser Bewegung weggelassen), andrerseits den Übergang zu engeren Akkorden: (Fisis+cis+e+as)→(Gis+cis+e+gis), dann gespreizt as+As' und Dis'-h-gis, usw. Bemerkenswert auch die Entwicklung cis-Moll→gis-Moll und dann über den schon erwähnten seltsamen über Dis gelegten A-Dur Dreiklang, der jedoch unentschieden auf dis-Moll oder auf gis-Moll zu beziehen ist. So mehrdeutig er ist, so ist doch die naheliegendste Lesart: Dis-G-cis-e-a als dis-Moll mit verminderter Quinte G statt Gis, kleiner Septime, verminderter None e (statt eis) und verminderter Duodezime a statt as zu interpretieren, ein Akkord, der statt auf gis-Moll zurückzuführen in Gis-Dur mündet. Die Wiederholung der Phrase in der Subdominante endet allerdings wieder in cis-Moll, der Grund ist die anschließende, das Stück aufhellende Dur-Episode in der Parallelen E-Dur, die schließlich in der Wiederholung mit einem dem obigen seltsamen dis-Moll-A-Dur entsprechenden Modulationsakkord in der Ganztonleiter logisch-stingent in die Mollparallele überführt, die sich noch einmal dramatisch mit dem Kopfthema zur Geltung bringt.
Wunderbar.
Kurze technische Zwischenbemerkung:
Da hier wahrscheinlich einige Mitlesende mit den Noten nichts anfangen können, wäre es vielleicht hilfreich, auf ein Beispiel-Video zu verweisen und die genannten Stellen mit "Minuten:Sekunden"-Positionen anzumerken?
Noch etwas kosmetisches: Zwecks Leserlichkeit fände ich es einladender, wenn nach Absätzen eine Leerzeile folgte :-)
Da hier wahrscheinlich einige Mitlesende mit den Noten nichts anfangen können, wäre es vielleicht hilfreich, auf ein Beispiel-Video zu verweisen und die genannten Stellen mit "Minuten:Sekunden"-Positionen anzumerken?
Noch etwas kosmetisches: Zwecks Leserlichkeit fände ich es einladender, wenn nach Absätzen eine Leerzeile folgte :-)
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Ich bin leider (oder auch glücklicherweise) kein digital native, ich weiß nicht, wie man Notentext eingeben kann. Ich finde schon nicht die benötigten Sonderzeichen, wenn sie nicht standardmäßig zur Verfügung gestellt werden. Meine Musikbeispiele suche ich in youtube, möglichst mit Notentext, und integriere sie in den Kommentar. Vielleicht wäre es besser gewesen, statt mit konkreten Notenwerten mit Verweis auf den Notentext zu operieren, von Takt x, rechte Hand Ober-, Unter-, obere, untere Mittelstimme usw zu sprechen. Ich greife den Vorschlag gerne auf, ab nächstem Musiktitel wird zwar nicht alles anders, aber in diesem Punkt versuche ich es einmal anders.
Beim Einstellen von Beispielvideos muß ich passen, ich surfe so gut wie nicht im Netz, ich weiß einfach nicht, was es da gibt. Da bin ich auf Mitarbeit der Foristen angewiesen. Es gibt sehr viele kommentierte Einspielungen von Glen Gould im Netz, vielleicht ist Scriabin dabei, das kann ich einmal überprüfen.
- Jörn Budesheim
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Dem würde ich mich anschließen. Der Text ist für mich ohnehin zu großen Teilen unverständlich durch die vielen Fachbegriffe. Wenn nach Absätzen eine Leerzeile folgte, würde das für mich eine große Erleichterung bedeuten. Wenn du willst, kann ich das im vorhergehenden Text für dich noch nachholen.