Ein paar kurze Bemerkungen zum Verzeihen
- Jörn Budesheim
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Tit for Tat ist doch die perfekte Analogie zu dem Beitrag, der wie folgt beginnt: "In diesem Artikel wird auch behandelt, wann Verzeihen nicht "gut" sein kann..."
Kooperativ sein wird empfohlen, aber man soll sich natürlich nicht alles gefallen lassen. Man entschuldigt zwar, aber wenn der andere nicht aufhört schuldig zu werden, dann hört der Spaß auf.
Kooperativ sein wird empfohlen, aber man soll sich natürlich nicht alles gefallen lassen. Man entschuldigt zwar, aber wenn der andere nicht aufhört schuldig zu werden, dann hört der Spaß auf.
Der "Spaß" kann auch schon dann aufhören, wenn es ein einmaliger schwerwiegender Übergriff war. Und kooperativ sollte man dann nur mit den Strafverfolgensbehörden sein.
Irgendwas stört mich an diesem Tit for Tat in solchen Situationen, in denen es um Sachverhalte geht, in der eine Person von einer anderen Person verletzt wird, verbal oder körperlich.
Es geht nicht um wie du mir so ich dir. Das wäre Rache.
Es ist auch kein Geschäft.
Irgendwas stört mich an diesem Tit for Tat in solchen Situationen, in denen es um Sachverhalte geht, in der eine Person von einer anderen Person verletzt wird, verbal oder körperlich.
Es geht nicht um wie du mir so ich dir. Das wäre Rache.
Es ist auch kein Geschäft.
Der, die, das.
Wer, wie, was?
Wieso, weshalb, warum?
Wer nicht fragt bleibt dumm!
(Sesamstraße)
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Ich finde es etwas schade, dass die Innenperspektive des Verzeihens immer noch mit der äußerlichen Reaktion gegenüber dem Übeltäter vermischt wird.
Man kann doch strafen, zurechtweisen, Grenzen setzen, sich trennen, schimpfen, streng sein, Wiedergutmachung verlangen und trotzdem innerlich verzeihen. Das hat nichts damit zu tun, dass man alles mit sich machen ließe oder seinen Selbstrespekt aufgeben würde. Innerlich gekränkt zu sein, einen Groll zu hegen, vielleicht sogar Rachegedanken nachzuhängen ist doch kein angenehmer innerlicher Zustand.
Man kann doch strafen, zurechtweisen, Grenzen setzen, sich trennen, schimpfen, streng sein, Wiedergutmachung verlangen und trotzdem innerlich verzeihen. Das hat nichts damit zu tun, dass man alles mit sich machen ließe oder seinen Selbstrespekt aufgeben würde. Innerlich gekränkt zu sein, einen Groll zu hegen, vielleicht sogar Rachegedanken nachzuhängen ist doch kein angenehmer innerlicher Zustand.
Woher kommt das, davon auszugehen, dass, wenn jemand nicht verzeiht, automatisch innerlich permanent Groll bis hin vielleicht zu Rache empfindet?
Das ist ein extrem Beispiel, und wollte ich eigentlich zitieren.
https://huschkemau.de/2020/10/31/warum- ... -verzeihe/ :
Manchmal, wenn ich über meine Geschichte spreche, über all die sexuelle Gewalt, die ich in meiner Kindheit und auch in der Prostitution erlebt habe, kommen Menschen auf mich zu und meinen, mir gute Ratschläge geben zu müssen. Aber Ratschläge sind manchmal auch Schläge. Vor allem, wenn der Ratschlag lautet: „Du musst den Tätern verzeihen, dann wird es Dir besser gehen.“Ich könnte kotzen, wenn ich das höre. Denn ich verzeihe nicht. Ich bin nicht Buddha.
(...)
Das erste ist: dazu, dass jemand verzeiht, gehört, dass jemand um Verzeihung BITTET. Wenn wir sagen „ich entschuldige mich“, dann ist das eigentlich grammatisch nicht korrekt. Man kann sich nicht entschuldigen. Man kann nur um Ent-Schuld-igung bitten. Darum, dass der oder die Geschädigte die Schuld von einem nimmt. Ohne Ent-Schuld-igung gibt es auch kein Verzeihen
(...)
All diese drei Ausssagen („du musst verzeihen“, „sei dankbar für die Gewalt“ und „für dich ist das Thema doch abgeschlossen“) bekomme ich immer wieder zu hören.
Es ist dies die typische Reaktion einer Gesellschaft, die Täter deckt. Indem sie Opfer statt Täter anspricht. Gesellschaften, die Täter decken, sagen nie zu Tätern: „DU! DEIN Verhalten ist das Problem! Änder das!“ Sondern sie gehen zu den Opfern und sagen: „Du musst damit abschließen, Du kannst nicht alles ändern, Dich geht es doch nichts mehr an, Du bist raus, und wenn Du verzeihst, dann wird es Dir besser gehen.“
Das ist ein extrem Beispiel, und wollte ich eigentlich zitieren.
https://huschkemau.de/2020/10/31/warum- ... -verzeihe/ :
Manchmal, wenn ich über meine Geschichte spreche, über all die sexuelle Gewalt, die ich in meiner Kindheit und auch in der Prostitution erlebt habe, kommen Menschen auf mich zu und meinen, mir gute Ratschläge geben zu müssen. Aber Ratschläge sind manchmal auch Schläge. Vor allem, wenn der Ratschlag lautet: „Du musst den Tätern verzeihen, dann wird es Dir besser gehen.“Ich könnte kotzen, wenn ich das höre. Denn ich verzeihe nicht. Ich bin nicht Buddha.
(...)
Das erste ist: dazu, dass jemand verzeiht, gehört, dass jemand um Verzeihung BITTET. Wenn wir sagen „ich entschuldige mich“, dann ist das eigentlich grammatisch nicht korrekt. Man kann sich nicht entschuldigen. Man kann nur um Ent-Schuld-igung bitten. Darum, dass der oder die Geschädigte die Schuld von einem nimmt. Ohne Ent-Schuld-igung gibt es auch kein Verzeihen
(...)
All diese drei Ausssagen („du musst verzeihen“, „sei dankbar für die Gewalt“ und „für dich ist das Thema doch abgeschlossen“) bekomme ich immer wieder zu hören.
Es ist dies die typische Reaktion einer Gesellschaft, die Täter deckt. Indem sie Opfer statt Täter anspricht. Gesellschaften, die Täter decken, sagen nie zu Tätern: „DU! DEIN Verhalten ist das Problem! Änder das!“ Sondern sie gehen zu den Opfern und sagen: „Du musst damit abschließen, Du kannst nicht alles ändern, Dich geht es doch nichts mehr an, Du bist raus, und wenn Du verzeihst, dann wird es Dir besser gehen.“
Der, die, das.
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Das habe ich nicht geschrieben, dass man automatisch permanent grollen würde. Es ist auch keine Forderung, dass jemand verzeihen sollte, und schon gar keine Täter-Opfer-Umkehr.
Zu verzeihen heißt nicht, etwas gutzuheißen oder sich zu versöhnen. Verzeihen bedeutet, negative Gefühle, negative Gedanken, Vorwürfe, Schuldzuweisungen innerlich loszulassen.
Der Übeltäter ist schuld, alle Vorwürfe ihm gegenüber sind gerechtfertigt und alle negativen Gedanken und Gefühle sind verständlich.
Trotzdem halte ich es für weise, innerlich diese Dinge aufzugeben. Nicht für den Täter, nicht für die Gesellschaft, sondern für sich selbst.
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.. das gilt auch für die Psychiatrie, wie ich durchaus aus eigener Erfahrung feststellen musste. Ich für mich , habe das damit mit begründet, dass sich Täter "naturgemäß" in der stärkeren Position befinden. Schließlich haben die Täter in einem Opfer -Täter -Verhältnis die Oberhoheit. Sie sind die Sieger und die Opfer die Verlierer und als solches befasst sich die Psychiatrie auch nicht mit den Tätern, sondern nahezu ausschließlich mit den Opfern. In dem die Gewalt von den Tätern ausgeht, gehörten eigentlich vielmehr sie in die Psychatrie.Stefanie hat geschrieben : ↑So 18. Feb 2024, 22:07
https://huschkemau.de/2020/10/31/warum- ... -verzeihe/ :
. Gesellschaften, die Täter decken, sagen nie zu Tätern: „DU! DEIN Verhalten ist das Problem! Änder das!“ Sondern sie gehen zu den Opfern und sagen: „Du musst damit abschließen, Du kannst nicht alles ändern, Dich geht es doch nichts mehr an, Du bist raus, und wenn Du verzeihst, dann wird es Dir besser gehen.“
"Daher " kommt das zumindest bei mir. Die Tatsache , dass ein Rechtsanwalt mir auf Nachfrage, zur Anklage der Täter , geantwortet hat , ich würde noch mal "froh" sein , es nicht zu tun, hat mir übrigens seiner Zeit vermutlich den Rest gegeben. Also auch von daher werden Täter offenbar gedeckt. Insofern ich durchaus Verständnis für "Toscas Kuss" habe ..
Zuletzt geändert von Timberlake am Mo 19. Feb 2024, 01:50, insgesamt 6-mal geändert.
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SCARPIA
Tosca, endlich mein!
TOSCA
Das ist Toscas Kuss!
SCARPIA
Verfluchte!
Hilfe ... ich sterbe ... helft mir ... ich sterbe ...
TOSCA
Erstickst du im Blut? Ah!
Und von einer Frau getötet ... Hast du mich genug
gequält?! Hörst du noch? ... Rede!
Sieh mich an! ...
Ich bin Tosca, o Scarpia!
SCARPIA
Helft mir! ... Hilfe!
TOSCA
Erstickst du im Blut? ...
Stirb, Verdammter! Stirb! Stirb!
Er ist tot ... Nun vergebe ich ihm! ...
- Jörn Budesheim
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Ich glaube nicht, dass man allein innerlich verzeihen kann. Man muss immer jemandem verzeihen: "Ich verzeihe dir." Die Person, der man verzeiht, muss in irgendeiner Weise angesprochen werden, erst dann ist es Verzeihung. Man kann versuchen, "innerlich" für sich so etwas wie einen Schlussstrich zu ziehen oder wie immer man das nennen will, aber verzeihen kann man immer nur der Person, die schuldig geworden ist.
Ich vermute, mit "innen" ist sowohl das Ich als auch die andere Person gemeint, aber dass das Gefühl sich halt nur "innen" im Verzeiher abspielt, während "außen" hingegen meinen soll, dass das Gefühl, die Verzeihung, äußerlich der anderen Person übermittelt wird, durch Mimik, Gestik, Rede, Schrift etc. -- Außensignale halt.Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑Mo 19. Feb 2024, 07:56Ich glaube nicht, dass man allein innerlich verzeihen kann. Man muss immer jemandem verzeihen: "Ich verzeihe dir." Die Person, der man verzeiht, muss in irgendeiner Weise angesprochen werden, erst dann ist es Verzeihung. Man kann versuchen, "innerlich" für sich so etwas wie einen Schlussstrich zu ziehen oder wie immer man das nennen will, aber verzeihen kann man immer nur der Person, die schuldig geworden ist.
- Jörn Budesheim
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Ich hatte es so verstanden, dass man "für sich" verzeiht. Die fragliche Person wird nicht "informiert".
Im Prinzip, so vermute ich, ist das Verzeihen keine große intellektuelle Leistung, sondern der Ausklang eines Schmerzes; und schmerzfähig ist meiner Ansicht nach nicht nur der Mensch, sondern jedes Lebewesen, dass seine Körperbewegung mittels Nervenbahnen steuert.
Wenn in einem Lebewesen ein Schmerz aufkommt an einer bestimmten Stelle, so reagiert es darauf. Je stärker der Schmerz, desto schneller die Abwehrreaktion. Die Intensität des Schmerzes geht meist, aber nicht immer, einher mit der Dringlichkeit der Abwehr. Feuer verbrennt die Haut, Stacheln könnten giftig sein, solche Sachen erfordern schnelle Maßnahmen; Zahnschmerz ist eine Ausnahme. Unterkühlung, leichte Kratzer und dergleichen sind weniger dringlich.
Beim Einsetzen des Schmerzes regt sich das Lebewesen auf. Ich denke, diese Aufregung ist eine Form der Wut. Die Wut kann sich gegen einen scharfen Stein richten, also gegen einen leblosen Gegenstand, der nichts dafür kann. Das Lebewesen kann dies einsehen und eventuell die Wut gegen sich selbst richten, gegen die eigene Unachtsamkeit. Und man kann natürlich auch von einem anderen Lebewesen Schmerz zugefügt bekommen. So kann es mindestens drei Arten von Schuldigen geben:
• Lebloser Gegenstand (vom Geschädigten personalisiert: "Verfluchte Tastatur!")
• Das Ich wegen eigener Unachtsamkeit
• Anderes Lebewesen
Der verfluchten Tastatur wird meist schnell verziehen. Falls der Abwehrimpuls ein paar Sekunden länger anhalten sollte, so mag der Geschädigte noch einige Male mit der Faust auf die Tastatur schlagen und diese anschließend an die Wand schmettern. Liegt das schädlich-nervende Problem allerdings in der gesamten Produktserie, so sei dieses Tastaturmodel verflucht bis in alle Ewigkeit: Man wird dieses Model nicht mehr kaufen, oder noch schlimmer: Man wird nichts mehr von dieser Firma kaufen.
Sich selbst zu verzeihen oder jemandem zu verzeihen, kann länger dauern. Während die Wut oder der Groll auf einen leblosen Gegenstand sinnlos ist, machen solche Gefühle gegenüber handlungsfähigen Lebewesen, einschließlich des Ichs, durchaus Sinn. Prinzipiell ist das meines Erachtens zunächst eine handlungsanweisende Alarmfunktion, später erfolgt eventuell die Alarmbeendigung.
Worauf ich hinaus will:
Ich möchte das archaische Prinzip der ganzen Sache betrachten:
Der "Schmerzschrei" signalisiert dem Schädiger, dass dieser soeben einen Schaden verursacht hat.
Der Sinn dieses Signals kann nur eines sein: Tu das nie wieder!
Das Signal dauert eine Weile, für Sekunden, oder Minuten, oder Jahrzehnte; das ist die Periode des Schmerzes.
Den Ausklang dieser Schmerzperiode könnte man als Verzeihperiode bezeichnen.
Die Frage ist, wie kann ich selbst diese gesamte Periode steuern? Buddhisten, insbesondere Kung-fu-Meister, können diese Periode offensichtlich sehr verkürzen, bisweilen auf Null verkürzen, so dass ein Schmerz erst gar nicht entsteht.
In diesem Text ist bisher nur von mechanischen Verletzungen die Rede. Aber bei seelischen Verletzungen, die im Lauf der Evolution möglich wurden, kommt das selbe Alarmsystem zum Zug, denke ich. Signalisiere, dass eine Verletzung geschah. Beende das Signal, wenn eine Wiederholung unwahrscheinlich ist.
Wenn in einem Lebewesen ein Schmerz aufkommt an einer bestimmten Stelle, so reagiert es darauf. Je stärker der Schmerz, desto schneller die Abwehrreaktion. Die Intensität des Schmerzes geht meist, aber nicht immer, einher mit der Dringlichkeit der Abwehr. Feuer verbrennt die Haut, Stacheln könnten giftig sein, solche Sachen erfordern schnelle Maßnahmen; Zahnschmerz ist eine Ausnahme. Unterkühlung, leichte Kratzer und dergleichen sind weniger dringlich.
Beim Einsetzen des Schmerzes regt sich das Lebewesen auf. Ich denke, diese Aufregung ist eine Form der Wut. Die Wut kann sich gegen einen scharfen Stein richten, also gegen einen leblosen Gegenstand, der nichts dafür kann. Das Lebewesen kann dies einsehen und eventuell die Wut gegen sich selbst richten, gegen die eigene Unachtsamkeit. Und man kann natürlich auch von einem anderen Lebewesen Schmerz zugefügt bekommen. So kann es mindestens drei Arten von Schuldigen geben:
• Lebloser Gegenstand (vom Geschädigten personalisiert: "Verfluchte Tastatur!")
• Das Ich wegen eigener Unachtsamkeit
• Anderes Lebewesen
Der verfluchten Tastatur wird meist schnell verziehen. Falls der Abwehrimpuls ein paar Sekunden länger anhalten sollte, so mag der Geschädigte noch einige Male mit der Faust auf die Tastatur schlagen und diese anschließend an die Wand schmettern. Liegt das schädlich-nervende Problem allerdings in der gesamten Produktserie, so sei dieses Tastaturmodel verflucht bis in alle Ewigkeit: Man wird dieses Model nicht mehr kaufen, oder noch schlimmer: Man wird nichts mehr von dieser Firma kaufen.
Sich selbst zu verzeihen oder jemandem zu verzeihen, kann länger dauern. Während die Wut oder der Groll auf einen leblosen Gegenstand sinnlos ist, machen solche Gefühle gegenüber handlungsfähigen Lebewesen, einschließlich des Ichs, durchaus Sinn. Prinzipiell ist das meines Erachtens zunächst eine handlungsanweisende Alarmfunktion, später erfolgt eventuell die Alarmbeendigung.
Worauf ich hinaus will:
Ich möchte das archaische Prinzip der ganzen Sache betrachten:
Der "Schmerzschrei" signalisiert dem Schädiger, dass dieser soeben einen Schaden verursacht hat.
Der Sinn dieses Signals kann nur eines sein: Tu das nie wieder!
Das Signal dauert eine Weile, für Sekunden, oder Minuten, oder Jahrzehnte; das ist die Periode des Schmerzes.
Den Ausklang dieser Schmerzperiode könnte man als Verzeihperiode bezeichnen.
Die Frage ist, wie kann ich selbst diese gesamte Periode steuern? Buddhisten, insbesondere Kung-fu-Meister, können diese Periode offensichtlich sehr verkürzen, bisweilen auf Null verkürzen, so dass ein Schmerz erst gar nicht entsteht.
In diesem Text ist bisher nur von mechanischen Verletzungen die Rede. Aber bei seelischen Verletzungen, die im Lauf der Evolution möglich wurden, kommt das selbe Alarmsystem zum Zug, denke ich. Signalisiere, dass eine Verletzung geschah. Beende das Signal, wenn eine Wiederholung unwahrscheinlich ist.
- Jörn Budesheim
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Vielleicht ist das nicht nur eine Parabel, sondern den Stachelschweinen ergeht es wirklich so.Arthur Schopenhauer, Die Stachelschweine hat geschrieben : Eine Gesellschaft Stachelschweine drängte sich an einem kalten Wintertage recht nah zusammen, um sich durch die gegenseitige Wärme vor dem Erfrieren zu schützen. Jedoch bald empfanden sie die gegenseitigen Stacheln, welches sie dann wieder von einander entfernte. Wann nun das Bedürfnis der Erwärmung sie wieder näher zusammenbrachte, wiederholte sich jenes zweite Übel, so daß sie zwischen beiden Leiden hin und her geworfen wurden, bis sie eine mäßige Entfernung voneinander herausgefunden hatten, in der sie es am besten aushalten konnten ...
Ich fand den Artikel vom Tagesspiegel auf der Suche nach anderen Tieren außer uns, die vergeben können. Hunde, Schimpansen, Elefanten und Raben könnten Kandidaten sein, aber ich habe nichts Konkretes gefunden. Wobei ich den Spuren von Hunden und Katzen nicht gefolgt bin, sie sind zu lange Teil der menschlichen Lebensform, das ist für mich dann nicht mehr aussagekräftig, wenn man wissen will, ob es Vergebung auch außerhalb unserer Lebenswelt gibt. Dass Stachelschweine verzeihen, lässt sich für mich aus dem kurzen Textausschnitt auch nicht ableiten, weil ja hier gar keine Verfehlung vorliegt.tagesspiegel.de/ hat geschrieben : Womöglich sind es die Stachelschweine, denen Christian Schwennen sein Thema verdankt. Der Sozialpsychologe von der Ruhr-Universität Bochum stieß bei der Lektüre der Fachzeitschrift „Personal Relations“ auf die Tiere. Dort berichtete sein US-Kollege Frank Fincham über den „Kuss der Stachelschweine“. Schwennen erzählt noch heute beeindruckt von dem Bild, das Fincham zeichnete: „In der eiskalten Nacht rücken die Tiere aneinander und können nicht anders, als sich mit ihren Stacheln zu pieksen. Dann rücken sie auseinander, weil sie verletzt sind. Doch sie müssen wieder zusammenkommen, um die Nacht überleben zu können. Sie müssen sich immer wieder verzeihen, weil sie die Wärme brauchen.“
https://www.tagesspiegel.de/wissen/befr ... 45909.html
Raben und Elefanten können sehr nachtragend sein ... aber ob sie verzeihen können, dazu hab ich nichts gefunden.
- Jörn Budesheim
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Wenig überraschend vermute ich genau das Gegenteil, Verzeihen ist eine sehr große intellektuelle Leistung, zu der wahrscheinlich nur sehr wenige Tiere fähig sind.
Tiere, die dazu in der Lage sind, müssen zwischen Gut und Böse unterscheiden können. Schon das dürfte die Auswahl erheblich einschränken. Sie brauchen dementsprechend eine Theorie des Geistes, d.h. sie müssen erkennen können, dass ihre Artgenossen ebenso wie sie selbst mentale Zustände und Perspektiven auf diese Welt haben. Andernfalls könnten sie nicht erkennen, dass ein anderes Wesen, in den meisten Fällen wahrscheinlich ein Artgenosse, absichtlich gehandelt hat. Sie könnten keine Begriffe von richtig und falsch haben.
Darüber hinaus bedarf es eines Äquivalents für die Institution der Bitte um Vergebung und der Gewährung von Vergebung. Sie müssen in der Lage sein zu beurteilen, ob die Bitte um Verzeihung aufrichtig ist und ob der Schuldige Reue zeigt, so dass eine Entschuldigung angemessen wäre.
Es würde mich nicht wundern, wenn ich einige Dinge vergessen hätte, die notwendig sind. Die obige kleine Aufzählung ist sicher nicht systematisch.
Nachtrag: Nach dem, was ich bei einer kurzen Google-Recherche herausgefunden habe, können sich Kinder frühestens ab 3 Jahren entschuldigen.
"Gut & Böse"-Moral bei Tieren:Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑Mo 19. Feb 2024, 18:08Tiere, die dazu in der Lage sind, müssen zwischen Gut und Böse unterscheiden können.
Herr Müller, der den Elefanten schlug, diesen Herr Müller wird der Elefant als etwas böses in Erinnerung behalten.
Herr Meier, der dem Pferd den Stein aus den Hufen zog, diesen Herr Meier wird das Pferd als etwas gutes in Erinnerung behalten.
Elefant und Pferd handeln entsprechend gegenüber Müller und Meier. Das ist empirisch nachweisbar. Andernfalls würde Dressur (Erziehung) nicht funktionieren.
Das ist der eine Punkt. Das ist nur meine Antwort auf eine "Moral"-basierte Argumentation; für meine These brauche ich keine Moral. Das ist Punkt zwei:
Mein zweiter Punkt ist, dass das Verzeihen, meiner Vermutung nach, überhaupt keine moralische "Gut & Böse"-Angelegenheit ist, weder beim Menschen noch bei anderen Tieren, sondern ein Phänomen der Gefühlswelt ist. Wenn eine Verletzung beginnt, beginnt mit ihr der Schmerzschrei; diesen kann man wörtlich nehmen oder als Metapher für allerlei Alarmformen auffassen. Damit beginnt eine Schmerzperiode. Sie hat nichts mit Moral zu tun. Der Schmerz kann ewig andauern oder auch abklingen. Wenn das Gefühl aufkommt, dass die Gefahr einer erneuten Schmerzzufuhr unwahrscheinlich ist, verwandelt sich die Schmerzperiode in eine Verzeihperiode, an deren Ende, so eins erfolgt, die Verzeihung vollständig ist.
Man kann schwerlich einem Mann verzeihen, von dem man wöchentlich vergewaltigt wird. Warum? Weil die Gefahr nicht vorüber ist. Wenn jetzt ein Buddhist es trotzdem schafft, seinem ständigen Vergewaltiger zu verzeihen, dann liegt das meiner neuesten Vermutung nach darin, dass der Buddhist durch Selbstsuggestion oder dergleichen bereits den Akt der Vergewaltigung an sich als etwas ungefährliches zu begreifen versucht. Das ist meine neue These. Wo keine Verletzung beginnt, da muss auch keine Verzeihung folgen.
Begriffe wie Reue oder ein Sehnen nach Vergebung etc. bezeichnen ja Gefühle und keine Rechenarten.
- Jörn Budesheim
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Wir haben gewissermaßen konträre Begriffe von Verzeihen. Verzeihen ist ein Begriff, den es meines Erachtens ohne Moral nicht gibt, dazu gehört notwendig Schuld, Vergehen, Reue und vermutlich noch einiges mehr. Schmerzen hingegen ist kein notwendiger begrifflicher Bestandteil. Diebstahl kann zum Beispiel zu moralischer Schuld führen, auch wenn dem Opfer kein körperlicher oder seelischer Schmerz zugefügt wurde. Nicht jeder Schaden, muss ein Schmerz sein.
So wird das traditionell verstanden. Ich sehe ein, dass es diese Tradition gibt.Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑Mo 19. Feb 2024, 19:02Verzeihen ist ein Begriff, den es meines Erachtens ohne Moral nicht gibt, dazu gehört notwendig Schuld, Vergehen, Reue und vermutlich noch einiges mehr.
- Jörn Budesheim
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Ich würde sagen, dass "um Verzeihung bitten/vergeben" ähnlich wie "Versprechen geben" eine (vage) geregelte soziale Institution ist, die eine wichtige soziale Funktion hat. Eine solche Institution "auszuüben" bedeutet, die für sie charakteristischen Begriffe und ihre Regeln zu verwenden und anzuerkennen, sich auf sie zu berufen. Und zu den charakteristischen Begriffen der Institution "Vergebung erbitten/gewähren" gehören meines Erachtens zentral die Begriffe der Schuld, der Reue und andere. Solche Institutionen werden tradiert, d.h. wir bringen unseren Kindern bei, wann es angemessen ist, sich zu entschuldigen, wann es angemessen ist, sich zu entschuldigen und in welcher Form dies geschehen kann.
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Danke für eure Hinweise. Dadurch konnte ich eine Präzisierung meiner Begrifflichkeit gewinnen.
Ich gebrauchte die Worte "Verzeihung" und "Vergebung" synonym, was alltagssprachlich auch statthaft ist. In der Psychologie wird allerdings ein feiner Unterschied darin gemacht, dass Vergebung vornehmlich der innere Prozess des Vergebens ist, hingegen die Verzeihung - wie Jörn richtig bemerkte - eine Miteinbeziehung des Täters in den Vergebungsprozess beinhaltet.
In meinen obigen Beiträgen meinte ich mit Verzeihung durchgehend nur Vergebung, also das innere Abstandnehmen von negativen Gedanken und Gefühlen.
Ich möchte hier den hervorragenden Wikipedia-Artikel empfehlen: https://de.wikipedia.org/wiki/Vergebung ... hgetragen.
Im Bezug auf Steffis Einwände folgendes Zitat daraus:
"Vergebung kann von niemandem gefordert werden. Sie erfolgt ausschließlich nach freier Entscheidung der Person in Opferposition. Die Bitte eines Täters um Vergebung ist in aller Regel hilfreich. Vergebung bedeutet nicht:
Vergessen – Die Verletzung wird nicht mehr erinnert.
Nachsicht – Die Verantwortlichkeit des Täters wird relativiert.
Akzeptanz – Die Verletzung bzw. deren Folgen werden akzeptiert.
Billigung – Die Person in Opferposition äußert Zustimmung oder Einwilligung.
Begnadigung – Eine vorgesehene/angedachte Strafe wird dem Täter erlassen.
Verleugnung – Unvermögen bzw. mangelnder Wille, eine Verletzung als solche wahrzunehmen.
Rechtfertigung – Die verletzende Handlung wird im Nachhinein durch Argumente gerechtfertigt.
Vergeben und Verzeihen sind nicht gleich Versöhnung. Versöhnung bedeutet zusätzlich zur Verzeihung, dass beide Seiten unbelastet von der Verletzung die vorbestehende Beziehung fortsetzen wollen. Nach der Vergebung kann eine Beziehung auch beendet werden; d. h. es kommt zu keiner Versöhnung, jedoch wird nichts nachgetragen. Eine Versöhnung ist nur sinnvoll, wenn der Täter Reue zeigt und Wiedergutmachung leistet. 'Versöhnung fordert, dass die Parteien ihr Vertrauen zueinander erneuern.' Bei Vergewaltigung oder physischer bzw. emotionaler Gewalt (z. B. in der Partnerschaft) kann das Opfer sich zur Vergebung entschließen. 'Wenn der Täter [jedoch] keinerlei Reue zeigt und sich nicht ändert, ist Versöhnung ausgeschlossen.'"
Ich gebrauchte die Worte "Verzeihung" und "Vergebung" synonym, was alltagssprachlich auch statthaft ist. In der Psychologie wird allerdings ein feiner Unterschied darin gemacht, dass Vergebung vornehmlich der innere Prozess des Vergebens ist, hingegen die Verzeihung - wie Jörn richtig bemerkte - eine Miteinbeziehung des Täters in den Vergebungsprozess beinhaltet.
In meinen obigen Beiträgen meinte ich mit Verzeihung durchgehend nur Vergebung, also das innere Abstandnehmen von negativen Gedanken und Gefühlen.
Ich möchte hier den hervorragenden Wikipedia-Artikel empfehlen: https://de.wikipedia.org/wiki/Vergebung ... hgetragen.
Im Bezug auf Steffis Einwände folgendes Zitat daraus:
"Vergebung kann von niemandem gefordert werden. Sie erfolgt ausschließlich nach freier Entscheidung der Person in Opferposition. Die Bitte eines Täters um Vergebung ist in aller Regel hilfreich. Vergebung bedeutet nicht:
Vergessen – Die Verletzung wird nicht mehr erinnert.
Nachsicht – Die Verantwortlichkeit des Täters wird relativiert.
Akzeptanz – Die Verletzung bzw. deren Folgen werden akzeptiert.
Billigung – Die Person in Opferposition äußert Zustimmung oder Einwilligung.
Begnadigung – Eine vorgesehene/angedachte Strafe wird dem Täter erlassen.
Verleugnung – Unvermögen bzw. mangelnder Wille, eine Verletzung als solche wahrzunehmen.
Rechtfertigung – Die verletzende Handlung wird im Nachhinein durch Argumente gerechtfertigt.
Vergeben und Verzeihen sind nicht gleich Versöhnung. Versöhnung bedeutet zusätzlich zur Verzeihung, dass beide Seiten unbelastet von der Verletzung die vorbestehende Beziehung fortsetzen wollen. Nach der Vergebung kann eine Beziehung auch beendet werden; d. h. es kommt zu keiner Versöhnung, jedoch wird nichts nachgetragen. Eine Versöhnung ist nur sinnvoll, wenn der Täter Reue zeigt und Wiedergutmachung leistet. 'Versöhnung fordert, dass die Parteien ihr Vertrauen zueinander erneuern.' Bei Vergewaltigung oder physischer bzw. emotionaler Gewalt (z. B. in der Partnerschaft) kann das Opfer sich zur Vergebung entschließen. 'Wenn der Täter [jedoch] keinerlei Reue zeigt und sich nicht ändert, ist Versöhnung ausgeschlossen.'"
Das ist für mich kein Leben, kein Gefühlsleben, sondern reine Rechnerei und Berechnung. Das können auch Algorithmen.Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑Mo 19. Feb 2024, 19:36Ich würde sagen, dass "um Verzeihung bitten/vergeben" ähnlich wie "Versprechen geben" eine (vage) geregelte soziale Institution ist, die eine wichtige soziale Funktion hat. Eine solche Institution "auszuüben" bedeutet, die für sie charakteristischen Begriffe und ihre Regeln zu verwenden und anzuerkennen, sich auf sie zu berufen. Und zu den charakteristischen Begriffen der Institution "Vergebung erbitten/gewähren" gehören meines Erachtens zentral die Begriffe der Schuld, der Reue und andere. Solche Institutionen werden tradiert, d.h. wir bringen unseren Kindern bei, wann es angemessen ist, sich zu entschuldigen, wann es angemessen ist, sich zu entschuldigen und in welcher Form dies geschehen kann.
Schuld ist, wenn sie rein quantitativ betrachtet wird, ziemlich flexibel auslegbar, schon allein deswegen, weil eine Tat multikausal ist und nicht monokausal. Wer ist wie viel an was schuld? Darüber gibt es selten universale Urteile. Schuld ist in meinen Augen in erster Linie ein Gefühl, nämlich das Schuldgefühl; man kann es auch "schlechtes Gewissen" nennen, das ist auch ein Gefühl. Reue und so weiter sind alles Begriffe in dieser Gefühlskategorie, denke ich. Das sind keine gefühlskalten, regelbasierte Maschinenzustände, sondern das Wesen unseres Lebens, unseres Erlebens überhaupt. Erlebnisse sind hauptsächlich sinnlicher und gefühliger Natur. Wie kann man das alles einfach so ausblenden? Das verstehe ich nicht.
Diese Gefühle werden kommuniziert und haben soziale Funktionen.
- Jörn Budesheim
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