Schlösser, die im Monde liegen

Philosophie Chat: Hier wird geplaudert über Gott und die Welt.
Timberlake
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Mo 29. Jan 2024, 21:34

Michael7Nigl hat geschrieben :
Mo 29. Jan 2024, 07:10

Schopenhauers Metaphysik des Willens ist für mich nicht nachvollziehbar.
. zumindest ist das für dich Metaphysik und das will ja schon mal was heißen. Hätte man schließlich dergleichen genau so gut mit dem Hinweis , auf "Schlösser, die im Monde liegen", als bloße Phantasterei abtun können.

  • "Das Resultat der französischen Philosophie ist, daß sie darauf drang, eine allgemeine Einheit zu erhalten, doch keine abstrakte, sondern eine konkrete. So setzte Robinet allgemeine organische Lebendigkeit, gleichförmige Weise des Entstehens. Dies Konkrete nannten sie Natur. Über diese wird Gott gesetzt, aber als das Unerkennbare; alle Prädikate, die von ihm ausgesprochen würden, enthielten Unpassendes."
    Hegel ... Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie

Einer Metaphysik, bei der nach meiner Ansicht nicht Gott , sondern der Wille über die Natur gesetzt wird . Wobei nun mehr deshalb auch nicht mehr Gott, sondern der Wille all das Unerkennbare und all das Unpassende an Prädikaten enthält, die von ihm , also den Willen , ausgesprochen würden. Nur um einmal an dieser Stelle mit dem Verweis auf Hegel Sicht , auf das Resultat der französischen Philosophie , zumindest meine Sicht , auf das Resultat von Schopenhauers Philosophie "nachvollziehbar" zu machen.
Zuletzt geändert von Timberlake am Mo 29. Jan 2024, 22:06, insgesamt 1-mal geändert.




Timberlake
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Mo 29. Jan 2024, 21:54

AufDerSonne hat geschrieben :
Mo 29. Jan 2024, 17:43
Nauplios hat geschrieben :
Mo 29. Jan 2024, 17:23
Dieses Vorfeld des Begriffs ist in seinem ‚Aggregatszustand‘ plastischer, sensibler für das Unausdrückliche, weniger beherrscht durch fixierte Traditionsformen. Hier hat sich oft Ausdruck verschafft, was in der starren Architektonik der Systeme kein Medium fand." (Hans Blumenberg; Arbeit am Mythos)
Wurden eigentlich nicht alle Wörter einmal einfach erfunden? Sie hatten also erst einmal überhaupt keine Bedeutung? Man könnte im Prinzip, wenn die Gewohnheit das zulassen würde, Apfel und Birne einfach vertauschen?
.. sicherlich könnte man das , wenn es denn bei allen zur Gewohnheit wird . Wenn nicht , so ergeht es einem wie dem alten Mann in der Geschichte "Ein Tisch ist ein Tisch" von Peter Bichsel. .....

"....
„Es muss sich etwas ändern.“ Und er hörte
den Wecker nicht mehr. Dann begannen seine
Hände zu schmerzen, seine Stimme versagte,
dann hörte er den Wecker wieder, und nichts
änderte sich.
„Immer derselbe Tisch“, sagte der Mann,
„dieselben Stühle, das Bett, das Bild. Und zu
dem Tisch sage ich Tisch, zu dem Bild sage ich
Bild, das Bett heißt Bett, und den Stuhl nennt
man Stuhl. Warum denn eigentlich?“ Die
Franzosen sagen zu dem Bett „li“ , zu dem Tisch
„tabl“, nennen das Bild „tablo“ und den Stuhl
„schäs“, und sie verstehen sich. Und die
Chinesen verstehen sich auch. „Warum heißt das
Bett nicht Bild“, dachte der Mann und lächelte,
dann lachte er, lachte, bis die Nachbarn an die
Wand klopften und „Ruhe“ riefen.
„Jetzt ändert es sich“, rief er, und er sagte von
nun an zu dem Bett „Bild“.
„Ich bin müde, ich will ins Bild“, sagte er,
und morgens blieb er oft lange im Bild liegen
und überlegte, wie er nun zu dem Stuhl sagen
wolle, und er nannte den Stuhl „Wecker“
... "


.. wenngleich sich auch all das nie ereignet hat ...
Nauplios hat geschrieben :
Fr 5. Jan 2024, 18:11

...
Paul Lincke hat mit "Frau Luna" ein Land des Lächelns und lustvoller Zügellosigkeit in Szene gesetzt, das die Träume des Menschen von fernen Welten, von Schlössern, die im Monde liegen, beflügelt. Steppke, Lämmermeier, Pannecke und Frau Pusebach gleiten zwar verklärt ins irdische Dasein zurück - genau genommen schlagen sie auf der Erde wieder auf - doch ihre Illusionen und Sehnsüchte bleiben.

All das hat sich nie ereignet. Durch Wahrheiten sind diese Phantasien nicht beeindruckbar. Sie sind Teil eines Arsenals des überbordenden Denkens, das sich für einen Moment der Disziplinierung durch Vernunft entzogen hat. - Es gibt darüber eine reiche Forschungsliteratur, aber hier sind wir ja in der Abteilung "Plauderei". Also faites vos jeux. ;)




Michael7Nigl
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Di 30. Jan 2024, 01:24

AufDerSonne hat geschrieben :
Mo 29. Jan 2024, 08:05
Michael7Nigl hat geschrieben :
Mo 29. Jan 2024, 01:04
@AufDerSonne: Das Komma in Deiner Signatur "Ohne Gehirn, kein Geist!" ist nicht ernst gemeint, oder?
Was gibt es an dem Komma auszusetzen? :shock:
Da Du Deine Signatur bereits angepasst hast, ist mein Hinweis wohl inzwischen klar geworden. Der Vollständigkeit halber noch die Antwort auf Deine Frage:

Das Komma macht aus den beiden Satzgliedern eine Aufzählung. Wie Jörn richtig bemerkt, könnte das als Selbstbeschreibung missverstanden werden.

Ohne Komma hast Du ein Präpositionalobjekt und ein Subjekt wie bspw. in "Ohne Fleiß kein Preis."


Nun gibt es ja Menschen, die an einen Gott glauben. Gilt die Aussage in Deiner Signatur auch für Gott, oder schließt Du die Existenz eines solchen aus?




Michael7Nigl
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Di 30. Jan 2024, 01:35

AufDerSonne hat geschrieben :
Mo 29. Jan 2024, 17:43
Wurden eigentlich nicht alle Wörter einmal einfach erfunden? Sie hatten also erst einmal überhaupt keine Bedeutung? Man könnte im Prinzip, wenn die Gewohnheit das zulassen würde, Apfel und Birne einfach vertauschen?
Vielleicht interessiert Dich ein Dialog von Markus Lanz und Richard Precht über dieses Thema:





Michael7Nigl
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Di 30. Jan 2024, 01:58

Timberlake hat geschrieben :
Mo 29. Jan 2024, 21:34
Michael7Nigl hat geschrieben :
Mo 29. Jan 2024, 07:10

Schopenhauers Metaphysik des Willens ist für mich nicht nachvollziehbar.
zumindest ist das für dich Metaphysik und das will ja schon mal was heißen. Hätte man schließlich dergleichen genau so gut mit dem Hinweis , auf "Schlösser, die im Monde liegen", als bloße Phantasterei abtun können.
"Metaphysik" ist für mich kein Schimpfwort, sondern ich gebrauche es alltagssprachlich, wie es im Wörterbuch steht:

Metaphysik = philosophische Disziplin oder Lehre, die das hinter der sinnlich erfahrbaren, natürlichen Welt Liegende, die letzten Gründe und Zusammenhänge des Seins behandelt

Schopenhauer lehnt sich, wie er selbst schreibt, stark an Kant an - sein erkenntnistheoretischer Ansatz ist transzendentalphilosophisch. Wie er aber dazu kommt, den Willen mit dem Ding an sich gleich zu setzen, ist mir rätselhaft. Vielleicht steckt die Annahme dahinter, dass der Wille als Grund der Erscheinungen die empirischen Dinge bestimmt, ob und wie sie sind.

Aber ich will mir gar kein Urteil über Schopenhauers Philosophie erlauben. Ich fand ihn früher recht interessant, bin aber nie über den ersten Teil ("Die Welt als Vorstellung") hinaus gekommen.




Nauplios

Di 30. Jan 2024, 11:39

AufDerSonne hat geschrieben :
Mo 29. Jan 2024, 17:43

Wurden eigentlich nicht alle Wörter einmal einfach erfunden? Sie hatten also erst einmal überhaupt keine Bedeutung?
Wie nahezu in allem wissen wir auch von den Anfängen der Sprache wenig bis gar nichts. Auch diese Anfänge liegen im Dunkeln. Es gibt nichts, was sie definitiv bezeugen könnte. Es gibt Mutmaßungen, Theorien, Simulationen, Hinweise aus diversen Wissenschaften, die sich vielleicht zu einem stimmigen Bild zusammensetzen lassen, aber deshalb nicht stimmen müssen. In dem oben verlinkten Podcast wird der Satz Robert Musils erwähnt: "Wir irren vorwärts."




Nauplios

Di 30. Jan 2024, 12:30

Timberlake hat geschrieben :
Mo 29. Jan 2024, 21:34

zumindest ist das für dich Metaphysik und das will ja schon mal was heißen. Hätte man schließlich dergleichen genau so gut mit dem Hinweis auf "Schlösser, die im Monde liegen" als bloße Phantasterei abtun können.
Phantasie hat nicht zwingend Phantasterei zur Folge, schon gar nicht "bloße Phantasterei", die sich "abtun" ließe. Ohne Schlösser, die im Monde liegen, wäre manches Schloß auf Erden nicht gebaut worden. Es gibt keine Wissenschaft ohne Phantasie.

Vielleicht leben wir in einem Schwellenübergang in eine Zeit, in der die Beweislagen des Wirklichen einen neuen Wirklichkeitsbegriff erfordern, der auf starre Zuordnungen zu verzichten lernt, der sich vom "Es gibt" zunehmend löst zugunsten eines "Es träumt" - Oneirologie statt Ontologie.




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Quk
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Di 30. Jan 2024, 13:04

Nauplios hat geschrieben :
Di 30. Jan 2024, 12:30
... in der die Beweislagen des Wirklichen einen neuen Wirklichkeitsbegriff erfordern, der auf starre Zuordnungen zu verzichten lernt, der sich vom "Es gibt" zunehmend löst zugunsten eines "Es träumt" - Oneirologie statt Ontologie.
Das ist interessant, da ich seit längerer Zeit vermute, dass der effektive Unterschied zwischen dem Tun namens "Träumen" und dem Tun namens "Wachen" geringer ist als bisher angenommen. Ich will damit auf die Quantenphysik hinweisen und die problematische Unterscheidung zwischen ungreifbarer Teilchensubstanz und reiner Information.

In diesem Kontext frage ich mich auch immer wieder, welches Tuende mit "es" eigentlich gemeint ist in Sätzen wie "es gibt Eis", "es träumt einen Berg", "es regnet". Was ist am regnen? Die Welt? Welt gibt Eis, Welt träumt Berg, Welt regnet.




Nauplios

Di 30. Jan 2024, 14:23

Quk hat geschrieben :
Di 30. Jan 2024, 13:04
Nauplios hat geschrieben :
Di 30. Jan 2024, 12:30
... in der die Beweislagen des Wirklichen einen neuen Wirklichkeitsbegriff erfordern, der auf starre Zuordnungen zu verzichten lernt, der sich vom "Es gibt" zunehmend löst zugunsten eines "Es träumt" - Oneirologie statt Ontologie.
Das ist interessant, da ich seit längerer Zeit vermute, dass der effektive Unterschied zwischen dem Tun namens "Träumen" und dem Tun namens "Wachen" geringer ist als bisher angenommen.
Gesetzt den Fall, eine künstliche Intelligenz würde eines Tages träumen, phantasieren, würde einen "Möglichkeitssinn" (Musil) entwickeln, dann könnte sich auch die Konstellation von Wirklichkeit und Möglichkeit anders konfigurieren als sie es unter einem modernen Wirklichkeitsbegriff tut. (Zu den Wirklichkeitsbegriffen s. Hans Blumenberg, Realität und Realismus)

"Wenn es einen Wirklichkeitssinn gibt, dann muss es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann. Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muss geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müsste geschehen; und wenn man ihm von irgendetwas erklärt, dass es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein." (Robert Musil; Der Mann ohne Eigenschaften)




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Jörn Budesheim
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Di 30. Jan 2024, 14:36

Nauplios hat geschrieben :
Di 30. Jan 2024, 12:30
Vielleicht leben wir in einem Schwellenübergang in eine Zeit, in der die Beweislagen des Wirklichen einen neuen Wirklichkeitsbegriff erfordern, der auf starre Zuordnungen zu verzichten lernt, der sich vom "Es gibt" zunehmend löst zugunsten eines "Es träumt" - Oneirologie statt Ontologie.
Nauplios hat geschrieben :
Di 30. Jan 2024, 14:23
Möglichkeitssinn
Es gibt Möglichkeiten. Möglichkeiten, die wir auch wahrnehmen können. Ich denke, es gibt eine sehr enge Verwandtschaft zwischen Fantasie und Möglichkeitssinn. Beide sind unentwegt im Wahrnehmen aktiviert. Wenn das volle Glas am Tischrand steht und zu fallen droht, sehen wir das, über den aktuellen Input hinaus.




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Quk
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Di 30. Jan 2024, 15:52

Nauplios hat geschrieben :
Di 30. Jan 2024, 14:23
Quk hat geschrieben :
Di 30. Jan 2024, 13:04
Nauplios hat geschrieben :
Di 30. Jan 2024, 12:30
... in der die Beweislagen des Wirklichen einen neuen Wirklichkeitsbegriff erfordern, der auf starre Zuordnungen zu verzichten lernt, der sich vom "Es gibt" zunehmend löst zugunsten eines "Es träumt" - Oneirologie statt Ontologie.
Das ist interessant, da ich seit längerer Zeit vermute, dass der effektive Unterschied zwischen dem Tun namens "Träumen" und dem Tun namens "Wachen" geringer ist als bisher angenommen.
Gesetzt den Fall, eine künstliche Intelligenz würde eines Tages träumen, phantasieren, würde einen "Möglichkeitssinn" (Musil) entwickeln ...
Ich hätte das gleich in meinem vorigen Kommentar verdeutlichen sollen: Mit "Träumen" meine ich in diesem Fall das Träumen im Schlaf, also das gegenwärtige Erleben, nicht das wache Wunschträumen.




Nauplios

Di 30. Jan 2024, 17:23

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 30. Jan 2024, 14:36

Es gibt Möglichkeiten. Möglichkeiten, die wir auch wahrnehmen können. Ich denke, es gibt eine sehr enge Verwandtschaft zwischen Fantasie und Möglichkeitssinn. Beide sind unentwegt im Wahrnehmen aktiviert.
Quk hat geschrieben :
Di 30. Jan 2024, 15:52

Ich hätte das gleich in meinem vorigen Kommentar verdeutlichen sollen: Mit "Träumen" meine ich in diesem Fall das Träumen im Schlaf, also das gegenwärtige Erleben ...
Im Allgemeinen geht man davon aus, daß die Wirklichkeit definitorisch in ihrer Endgültigkeit bestimmbar ist. Eine enge Verbindung zur Wahrheit legt den Erfolg einer solchen Definition nahe. Als wahr gilt, was durch die Wirklichkeit bestätigt wird. Endgültige Definitionen der Wirklichkeit sind auf die Immunisierung gegen alle Erreger des Skeptizismus angewiesen, seien es historische oder kulturelle Relativierungen, seien es dämonische Mächte, die die Wirklichkeit nur inszenieren.

In Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans hat Blumenberg vorgeschlagen, Wirklichkeit aus der implikativen Verwendung ihres Begriffs heraus zu verstehen, nicht als gnoseologisch-ontologische Kategorie, mit der etwas Objektives bezeichnet wird, was den Dingen gleichsam anhaftet. Damit würde Wirklichkeit von Wahrheit entkoppelt und wäre historisierbar.

(Wir haben das damals in der Blumenberg-Diskussion schon mal angesprochen.)

"Ist der ‚Wirklichkeitsbegriff‘ derart ein implikatives Prädikat, zu dessen Ausdrücklichkeit bestimmte ‚Erlebnisse‘ des platzgreifenden Realismus vonnöten sind, […] so schließt das die Möglichkeit nicht aus, es könnte eine Geschichte dieses eigenartigen Begriffs geben. Im Gegenteil: Die Bindung an ein Erlebnisrepertoire für den exzeptionellen Fall von Ausdrüchlichkeit läßt darauf schließen, daß nicht zu jeder Zeit gleichartige Erlebnisformen der ‚Enttäuschung‘ am Unwirklichen beherrschend oder sogar auch nur möglich sind." (Höhlenausgänge; S. 806f) –




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Jörn Budesheim
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Di 30. Jan 2024, 18:27

Was ist ein implikatives Prädikat und warum ist der Begriff Wirklichkeit eines?




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Jörn Budesheim
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Di 30. Jan 2024, 19:14

Nauplios hat geschrieben :
Di 30. Jan 2024, 17:23
Im Allgemeinen geht man davon aus, daß die Wirklichkeit definitorisch in ihrer Endgültigkeit bestimmbar ist.
Was heißt es, dass etwas definitorisch in seiner Endgültigkeit bestimmbar ist? Darunter kann ich mir nur schwer etwas vorstellen. Vielleicht hast du ein paar Beispiele.




Nauplios

Di 30. Jan 2024, 20:22

Ein implikatives Prädikat ist ein Prädikat ex negativo, ein Prädikat, das aus einer Verneinung erschlossen wird. Gesundheit kann als ein Zustand bestimmt werden, bei dem keine Krankheiten auftreten. Aus der Negation "keine Krankheiten" schließt man, daß jemand gesund ist. Der Befund "keine Krankheiten" impliziert Gesundheit.

Wenn ich sage: "Ich habe ein Auto", dann kommt die Wirklichkeit gar nicht ins Spiel; erst wenn das jemand bestreitet, sage ich: "Doch, ich habe wirklich ein Auto." Jetzt erst wird die Frage nach der Wirklichkeit von Bedeutung. Vorher war das Auto-Haben eine Selbstverständlichkeit. Die Wirklichkeit meines Besitzens ist im Satz "Ich habe ein Auto" so selbstverständlich, daß sie gar nicht mitbedacht wird; sie ist impliziert. Sie ist unterhalb der Schwelle der Wahrnehmung angesiedelt.

Ich sitze seit einer halben Stunde auf meinem Stuhl vor meinem Schreibtisch. Es ist selbstverständlich, daß der Stuhl immer noch da ist. Ich muß mich seiner Wirklichkeit nicht ständig bewußt werden. Sie ist selbstverständlich, unauffällig. Fragt meine Lebensgefährtin mich, was ich mache, antworte ich nicht: "Ich sitze auf meinem wirklichen Stuhl vor meinem wirklichen Schreibtisch." - Erst wenn sie fragt: "Warum sitzt du denn auf meinem Stuhl und nicht auf deinem eigenen?" gerät der Stuhl ins Zentrum meiner Aufmerksamkeit, wird Gegenstand einer Wahrnehmung: "Das glaub' ich nicht. Moment. Oh, entschuldige, das ist ja gar nicht mein Stuhl, das ist ja wirklich deiner."

Die Summe all dieser Selbstverständlichkeiten nennt Blumenberg die Lebenswelt. Die Lebenswelt ist gleichsam immer in unserem Rücken. Die Lebenswelt hört dann auf, Lebenswelt zu sein, wenn man sich ihr zuwendet. Sie ist das Selbstverständliche. (Das ist natürlich ein anderes Verständnis von Lebenswelt als das, was etwa in den Sozialwissenschaften gängig ist, welche unter Lebenswelt in der Regel die Alltagswelt verstehen.)

Würde bei mir heute Nacht eingebrochen und die Diebe würden sämtliche Bücher von Niklas Luhmann entwenden, gäbe ich der Kriminalpolizei eine Beschreibung, die vielleicht so aussehen könnte: "Es handelt sich um insgesamt 12 Bücher im Taschenbuchformat; in einigen sind mit einem Bleistift Randnotizen hinzugefügt." Aber ich würde nicht sagen: "Es handelt sich um insgesamt 12 wirkliche Bücher ..." - Daß die Bücher wirklich sind, ist ein implikatives Prädikat.

Dieses Implikationsverhältnis wird immer erst ex negativo erschlossen, etwa dann, wenn man an der Wirklichkeit scheitert:

https://m.youtube.com/shorts/svPUO0GRONE




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Stefanie
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Di 30. Jan 2024, 20:56

Autsch.

Danke für die Erklärung.



Der, die, das.
Wer, wie, was?
Wieso, weshalb, warum?
Wer nicht fragt bleibt dumm!
(Sesamstraße)

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AufDerSonne
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Di 30. Jan 2024, 22:30

Wieso nicht die Wirklichkeit direkt erfassen? Wieso irgendetwas ausschliessen oder einbinden oder was auch immer?

Es kommt doch auch auf den Zusammenhang an, ob, "Ich habe ein Fahrrad", heisst, ich habe wirklich ein Fahrrad. Je nach Situation ist es nicht nötig zu sagen, dass das jetzt besonders wirklich sein muss. Und bei diesem Beispiel auch auf den Ton. Wenn jemand weiss, was er sagt, wenn er sagt, ich habe ein Fahrrad, dann wird man ihm das auch glauben. Also da kann doch ganz viel anderes eine Rolle spielen, wie wirklich das am Schluss ist, dass ich ein Fahrrad habe. Wenn jemand sagt, ich habe wirklich ein Fahrrad, dann tönt das für mich nach mangelndem Selbstvertrauen.

Auch das Beispiel mit dem verwechselten Stuhl hinkt für mich. Da ist doch eine Vorgeschichte, wieso diese beiden Stühle nicht dort waren, wo sonst. Das macht den Satz, doch, das ist wirklich dein Stuhl, nicht glaubhafter oder unglaubhafter.

Vielleicht habe ich das Gefühl, dass du mehr von der Überzeugungskraft einer Aussage sprichst als von der Wirklichkeit. Von der Wirklichkeit muss man niemanden überzeugen.
Und irgendwie hat alles was du sagst nur indirekt mit der Wirklichkeit zu tun. Man macht einen Umweg. Also das so mein Gefühl.

Und dieser Begriff der Lebenswelt als das Selbstverständliche braucht ganz krass einen Vorstellung von Normalität. Gibt es die Lebenswelt nur für normale Menschen?



Ohne Gehirn kein Geist!

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Jörn Budesheim
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Mi 31. Jan 2024, 08:22

Nauplios hat geschrieben :
Di 30. Jan 2024, 20:22
Ich sitze seit einer halben Stunde auf meinem Stuhl vor meinem Schreibtisch. Es ist selbstverständlich, daß der Stuhl immer noch da ist. Ich muß mich seiner Wirklichkeit nicht ständig bewußt werden. Sie ist selbstverständlich, unauffällig. Fragt meine Lebensgefährtin mich, was ich mache, antworte ich nicht: "Ich sitze auf meinem wirklichen Stuhl vor meinem wirklichen Schreibtisch." - Erst wenn sie fragt: "Warum sitzt du denn auf meinem Stuhl und nicht auf deinem eigenen?" gerät der Stuhl ins Zentrum meiner Aufmerksamkeit, wird Gegenstand einer Wahrnehmung: "Das glaub' ich nicht. Moment. Oh, entschuldige, das ist ja gar nicht mein Stuhl, das ist ja wirklich deiner."
Geht es in diesem Beispiel wirklich um die Wirklichkeit des Stuhls? Oder eher um die Überraschung der Verwechslung?
Nauplios hat geschrieben :
Di 30. Jan 2024, 20:22
Wenn ich sage: "Ich habe ein Auto", dann kommt die Wirklichkeit gar nicht ins Spiel; erst wenn das jemand bestreitet, sage ich: "Doch, ich habe wirklich ein Auto."
Hier genau so: Geht es hier um die Wirklichkeit des Autos? Oder eher um die Tatsache, dass man es bestreitet oder dass man es nicht glaubt oder dass man sich wundert, dass du eines hast?

Ein weiterer Punkt: Sagt die Tatsache, dass die Wirklichkeit von etwas für uns ggf. nicht immer (explizit) thematisch ist, etwas über die Wirklichkeit aus? Oder sagt es eher etwas über unser Verhältnis zu ihr aus? (Welches natürlich Teil der Wirklichkeit ist.) Zugleich sagst du, es ginge darum, die "Wirklichkeit aus der implikativen Verwendung ihres Begriffs heraus zu verstehen". Bevor Menschen verschiedene Begriffe von Wirklichkeit hatten, war doch auch schon vieles wirklich.




Nauplios

Mi 31. Jan 2024, 11:27

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 31. Jan 2024, 08:22
Nauplios hat geschrieben :
Di 30. Jan 2024, 20:22
Ich sitze seit einer halben Stunde auf meinem Stuhl vor meinem Schreibtisch. Es ist selbstverständlich, daß der Stuhl immer noch da ist. Ich muß mich seiner Wirklichkeit nicht ständig bewußt werden. Sie ist selbstverständlich, unauffällig. Fragt meine Lebensgefährtin mich, was ich mache, antworte ich nicht: "Ich sitze auf meinem wirklichen Stuhl vor meinem wirklichen Schreibtisch." - Erst wenn sie fragt: "Warum sitzt du denn auf meinem Stuhl und nicht auf deinem eigenen?" gerät der Stuhl ins Zentrum meiner Aufmerksamkeit, wird Gegenstand einer Wahrnehmung: "Das glaub' ich nicht. Moment. Oh, entschuldige, das ist ja gar nicht mein Stuhl, das ist ja wirklich deiner."
Geht es in diesem Beispiel wirklich um die Wirklichkeit des Stuhls? Oder eher um die Überraschung der Verwechslung?
Nauplios hat geschrieben :
Di 30. Jan 2024, 20:22
Wenn ich sage: "Ich habe ein Auto", dann kommt die Wirklichkeit gar nicht ins Spiel; erst wenn das jemand bestreitet, sage ich: "Doch, ich habe wirklich ein Auto."
Hier genau so: Geht es hier um die Wirklichkeit des Autos? Oder eher um die Tatsache, dass man es bestreitet oder dass man es nicht glaubt oder dass man sich wundert, dass du eines hast?
Das "implikative Prädikat" ex negativo - es läßt sich an diesen Sätzen beispielhaft veranschaulichen:

- "Geht es in diesem Beispiel wirklich um die Wirklichkeit des Stuhls? Oder eher um die Überraschung der Verwechslung?"

- "Geht es hier um die Wirklichkeit des Autos? Oder eher um die Tatsache, dass man es bestreitet oder dass man es nicht glaubt oder dass man sich wundert, dass du eines hast?"

Ich habe das ex negativo mal hervorgehoben. Die "Verwechslung" der Mauer mit dem Weg in dem kleinen Video oben, daß der Weg in Wirklichkeit nicht weiterführt, sondern als gemalter Weg nur weiterzuführen scheint, diese "Verwechslung" belegt das ex negativo.

Im Falle des "Bestreitens", des "Nicht-Glaubens", des "Sich-Wunderns" wird das ex negativo sogar ausdrücklich vorgeführt. Daß man etwas "bestreitet", es "nicht glaubt" bringt die Wirklichkeit erst ins Spiel.

Am deutlichsten wird das ex negativo in dem Satz:

"Geht es in diesem Beispiel wirklich um die Wirklichkeit des Stuhls?" -

Natürlich sind andere semantische Verwendungsweisen für das Wort "wirklich" denkbar: "Also das finde ich jetzt wirklich nicht nett von dir." - In diesem Satz fungiert das "wirklich" als eine Bestärkung des "Nicht-nett-Findens". Oder: "Das hat er wirklich gut gemacht." - Auch hier ist "wirklich" bloß ein Verstärker von "gut". In beiden Fällen geht es aber nicht um die Wirklichkeit als solche.




Nauplios

Mi 31. Jan 2024, 11:50

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 31. Jan 2024, 08:22

Ein weiterer Punkt: Sagt die Tatsache, dass die Wirklichkeit von etwas für uns ggf. nicht immer (explizit) thematisch ist, etwas über die Wirklichkeit aus? Oder sagt es eher etwas über unser Verhältnis zu ihr aus? (Welches natürlich Teil der Wirklichkeit ist.) Zugleich sagst du, es ginge darum, die "Wirklichkeit aus der implikativen Verwendung ihres Begriffs heraus zu verstehen". Bevor Menschen verschiedene Begriffe von Wirklichkeit hatten, war doch auch schon vieles wirklich.
Ja gut, das entspricht jetzt dem allgemeinen Verständnis von Wirklichkeit als einer Summe von Objekten, Tatsachen, Sachverhalten ... , die ontologisch dingfest gemacht werden können, denen man das Attribut "wirklich" zuweist. "Wirklich" gilt so gesehen als eine Eigenschaftskategorie. Daß etwas wirklich ist, haftet diesem gleichsam an. Das Subjekt wird mit der Wirklichkeit "konfrontiert", steht ihm gegenüber. Und jetzt kann man überlegen, wie diese Wirklichkeit in den Kopf kommt oder der Kopf in die Wirklichkeit und kann sich für eine Seite entscheiden. Die Wirklichkeit gibt es dann entweder, weil es den Wirklichkeitsbegriff des Subjekts gibt oder die Wirklichkeit gibt es unabhängig von ihrem Begriff.




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