Was ist Gesellschaft? I
Faszinierend auf jeden Fall. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob die Faszination nicht eher im Unlogischen liegt, vorzugsweise in der Paradoxie:
"Wir erkennen die Außenwelt nur, weil der Zugang zu ihr blockiert ist. (..) Wir erkennen die Realität, weil wir aus ihr ausgesperrt sind - wie aus dem Paradies." (Niklas Luhmann)
Die Lust an der Paradoxie zeigt sich bei Luhmann auch in einer Passion für Poesie:
"Ich denke manchmal, es fehlt uns nicht an gelehrter Prosa, sondern an gelehrter Poesie. (...) Vielleicht sollte es statt dessen für anspruchsvolle Theorieleistungen Paralellpoesie geben, die alles noch einmal anders sagt ..." (Niklas Luhmann; Unverständliche Wissenschaft; S. 200f)
Der Maler Frederick Bunsen über seine Begegnung mit Niklas Luhmann:
https://www.kunstportal-bw.de/2022/09/1 ... kuenstler/
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- Jörn Budesheim
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Ein Bild des Künstlers findet sich auf dem Buch von Luhmann zur Einführung in seine Systemtheorie :)
Denken in Differenzen:
"Ehen werden im Himmel geschlossen, im Auto gehen sie auseinander. Denn derjenige, der am Steuer sitzt, richtet sich nach der Situation und fährt, wie er meint, auf Grund seines besten Könnens; aber der, der mitfährt und ihn beobachtet, fühlt sich durch die Fahrweise behandelt, führt sie auf Eigenschaften des Fahrers zurück. Er kann nur in einer Weise handeln, nämlich kommentieren und kritisieren; und es ist wenig wahrscheinlich, daß er dabei die Zustimmung des Fahrers findet." (Niklas Luhmann)
"Ehen werden im Himmel geschlossen, im Auto gehen sie auseinander. Denn derjenige, der am Steuer sitzt, richtet sich nach der Situation und fährt, wie er meint, auf Grund seines besten Könnens; aber der, der mitfährt und ihn beobachtet, fühlt sich durch die Fahrweise behandelt, führt sie auf Eigenschaften des Fahrers zurück. Er kann nur in einer Weise handeln, nämlich kommentieren und kritisieren; und es ist wenig wahrscheinlich, daß er dabei die Zustimmung des Fahrers findet." (Niklas Luhmann)
Bei Intimsystemen sind ja insbesondere Anfangs- und Endpunkte systembildend. Wann fängt ein solches System an, bildet sich eine System/Umwelt-Differenz? Und wann endet es?
Der Beginn der Liebe wird gerne mit dem ersten Blick konnotiert. Es war Liebe auf den ersten Blick. Dieser Blick durchschneidet das Liebesgeschehen wie der Blitz die dunkle Nacht. Ein solcher Anfang kann nur im Nachhinein gesetzt werden. Der Anfang selbst liegt in der Schwellengegend zwischen dem ersten und dem zweiten Blick und kann nur post festum markiert werden. Er wird dann als Fixpunkt hochgerechnet und in die Chronologie des Intimsystems eingespeist: "Weißt du noch als wir uns damals am Kiosk trafen? Du hattest dein Geld vergessen und sahst so hilflos aus und wolltest schon umkehren; da nahm ich all meinen Mut zusammen und spendierte dir ein Bier und du erzähltest mir, daß deine Frau dich verlassen habe."
Wann hört die Liebe auf? - Auch dieser Zeitpunkt liegt im Dunklen. Es ist ein schleichender Prozeß, an dessen Ende man erst seinen Anfang setzen kann. Dann müssen Geschichten umgeschrieben werden:
"Ach, dabei hätte ich es wissen müssen. Gleich beim ersten Zusammentreffen am Kiosk warst du schon ein mittelloser Alkoholiker, der keinen Cent in der Tasche hatte. Kein Wunder, daß deine Frau dich verlassen hat!"
Der Beginn der Liebe wird gerne mit dem ersten Blick konnotiert. Es war Liebe auf den ersten Blick. Dieser Blick durchschneidet das Liebesgeschehen wie der Blitz die dunkle Nacht. Ein solcher Anfang kann nur im Nachhinein gesetzt werden. Der Anfang selbst liegt in der Schwellengegend zwischen dem ersten und dem zweiten Blick und kann nur post festum markiert werden. Er wird dann als Fixpunkt hochgerechnet und in die Chronologie des Intimsystems eingespeist: "Weißt du noch als wir uns damals am Kiosk trafen? Du hattest dein Geld vergessen und sahst so hilflos aus und wolltest schon umkehren; da nahm ich all meinen Mut zusammen und spendierte dir ein Bier und du erzähltest mir, daß deine Frau dich verlassen habe."
Wann hört die Liebe auf? - Auch dieser Zeitpunkt liegt im Dunklen. Es ist ein schleichender Prozeß, an dessen Ende man erst seinen Anfang setzen kann. Dann müssen Geschichten umgeschrieben werden:
"Ach, dabei hätte ich es wissen müssen. Gleich beim ersten Zusammentreffen am Kiosk warst du schon ein mittelloser Alkoholiker, der keinen Cent in der Tasche hatte. Kein Wunder, daß deine Frau dich verlassen hat!"
Die Liebe zu definieren als ein ontologisches Substrat, um etwa ihr Wesen zu bestimmen, ihren Gehalt u.ä., entspräche nicht dem Erkenntnisinteresse der Systemtheorie. Außerdem verfügen ja die Philosophie, die Literatur, die Poesie und auch die Kunst bereits über einen üppigen Reichtum an virtuosen Beschreibungsversuchen der Liebe. Wer sich dafür interessiert, was die Liebe ist, kann hier mit einem breit gefächerten Bildervorrat und ästhetischen Ausgestaltungen rechnen.
An diesen Beschreibungen bedient sich auch die Systemtheorie. Mehr als dieser Pool von philosophischen Abhandlungen und Traktaten, Romanen, Briefen, Gedichten usw. steht auch der Systemtheorie nicht zur Verfügung.
Nur ihr Erkenntnisinteresse als eine soziologische Theorie ist ein anderes. Sie fragt nicht danach, was die Liebe ist, sondern wie sie funktioniert. Es geht ihr nicht um die Essenz dessen, was die Liebe im Kern ist, sondern um die Liebe als soziales Phänomen. Die Systemtheorie schreibt am Wesentlichen grundsätzlich vorbei. Das hängt damit zusammen, daß sie nicht auf Einheit aus ist, sondern auf Differenz. Sie beginnt mit einer Differenz, mit der von System und Umwelt. Diese Unterscheidung wird so abstrakt konzipiert, daß sie damit sämtliche soziale Phänomene in ihren Funktionsweisen beschreiben kann. Das betrifft Konzerne, Organisationen, Schulklassen, Massenmedien, Familien, Seminare, Gespräche im Beichtstuhl, Institutionen, Parteien, Recht, Talkshows, Pädagogik, Kunst, Religion, Moral, Nachbarschaften, Beziehungen aller Art und eben auch Intimbeziehungen.
Bei all dem geht es nie darum, das Wesen einer Sache zu bestimmen (Was macht eine gute Erziehung aus? Was ist Gerechtigkeit? Was ist Wahrheit? Was ist Kunst? Was ist Liebe?), sondern immer darum, wie all das als soziales Phänomen funktioniert.
Deshalb hat kaum ein anderes Buch von Luhmann die Leser*innen so enttäuscht wie Liebe als Passion. Denn darin wird keine überraschende Neubeschreibung der Liebe als Substanz geliefert, die man vorher nicht gehabt hätte; über die Liebe selbst erfährt man nichts, was man nicht ohnehin schon gewußt hätte. Man erfährt etwas über die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation, aus der heraus sich die System/Umwelt-Differenz eines Intimsystems bildet, welche Codes dabei gebildet werden usw.
Danke für die Tipps, hab das Interview geschaut und die Warnung ist spätestens dann angekommen . Spencer-Brown ging mir beim Schreiben des letzten Posts auch durch den Kopf, fand ich ganz besonders spannend, dass das angesprochen wurde.Nauplios hat geschrieben : ↑Fr 3. Nov 2023, 19:47Es gibt natürlich eine Fülle von Einführungsschriften, aber vielleicht ist es ganz gut, die komplexen Theorieeinheiten fürs erste auf sich beruhen zu lassen und entspannt und zurückgelehnt die Bekanntschaft mit Luhmann bei einer Tasse Kaffee zu machen. Möglich wird dies durch das oben erwähnte Gespräch zwischen Alexander Kluge und Niklas Luhmann. Es gibt bei Youtube auch etliche Videos, in denen die Systemtheorie "erklärt" wird, aber das Lesen wird dadurch nicht erspart. Eine Einführungsvorlesung von Luhmann (12 × 90 Minuten) ist dort ebenfalls zu hören.
Dann werd ich heute mal mit der Vorlesung beginnen, also diese Reihe Niklas Luhmann - Theorie der Gesellschaft 1/13 (youtube) war gemeint, oder?
- Jörn Budesheim
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Gleich zu Beginn der Vorlesung sagt Luhmann etwas, was für unseren Faden von Bedeutung ist, sein Ziel ist, eine Theorie der modernen Gesellschaft vorzulegen. Unsere Fragestellung ist jedoch anders: wir fragen, was Gesellschaft überhaupt ist.
Ich meine, die Gesellschaft trägt in sich eine grundlegende Eigenschaft: Sie ist gesellig.
Tautologie?
Wie hochauflösend sollen die Das-Antworten in diesem Was-Faden ausfallen?
Eine Was-Frage kann eine kurze Antwort verlangen -- die dann meist eine Tautologie ist -- oder eine lange Antwort verlangen, die viele Funktionen erklärt; die kann dann eine Bedienungsanleitung sein oder eine Theorie und so weiter.
Tautologie?
Wie hochauflösend sollen die Das-Antworten in diesem Was-Faden ausfallen?
Eine Was-Frage kann eine kurze Antwort verlangen -- die dann meist eine Tautologie ist -- oder eine lange Antwort verlangen, die viele Funktionen erklärt; die kann dann eine Bedienungsanleitung sein oder eine Theorie und so weiter.
- Jörn Budesheim
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Gesellig? Die Gesellschaft, in der wir heute leben, ist oft nicht sehr gesellig. Hier eine kleine Szene: Wenn ich morgens zur Arbeit fahre und abends mit der Straßenbahn zurück, dann bin ich auf der Fahrt mit Leuten zusammen, von denen ich die allermeisten noch nie gesehen habe, mit denen ich nicht spreche, die ich kaum anschaue, die mir fremd sind. Die Straßenbahn wird von einer Fahrerin gelenkt, die ich vielleicht kurz sehe, wenn ich einsteige, die ich danach aber womöglich nie wieder sehe, von der ich nicht weiß, wer sie ist, der ich aber im Grunde mein Leben anvertraue, denn wenn sie ihren Job nicht richtig macht und uns in einen Unfall verwickelt, kann das schlimm enden.
Ich beschreibe das nicht, um mich darüber zu beschweren, dass es in der Straßenbahn oft nicht gesellig zugeht, sondern um darauf hinzuweisen, dass solche ungeselligen Momente, in denen man es überwiegend mit Fremden, völlig Unbekannten zu tun hat, in einer Gesellschaft wie der unsrigen sehr häufig vorkommen. Wie gesagt, das ist keine Kritik, sondern bei modernen, arbeitsteiligen Gesellschaften, wie der unsrigen sicherlich unvermeidlich
Wenn ich mich in dem Raum umsehe, in dem ich gerade sitze, dann ist er voll von Dingen, die andere, anonyme Menschen in Prozessen hergestellt haben oder bereit streiten, Prozesse von denen ich in der Regel so gut wie nichts weiß, weder wie sie funktionieren, noch wo sie stattfinden: der Tisch, das Regal, der Stuhl, auf dem ich sitze, der nicht mehr funktionstüchtigte Laptop, die Säge die an der Wand hält, die Fenster die mich schützen, die Heizung, die die Zimmertemperatur erträglich macht.
Jetzt schreibe ich gerade einen Text für diesen Thread, und auch das funktioniert nur, weil ich auf die Leistung von Menschen und Strukturen zurückgreifen kann, die sozusagen im Verborgenen arbeiten, wie Heinzelmännchen, ohne die ein solch einfach wirkender Vorgang überhaupt nicht möglich wäre.
Ich beschreibe das nicht, um mich darüber zu beschweren, dass es in der Straßenbahn oft nicht gesellig zugeht, sondern um darauf hinzuweisen, dass solche ungeselligen Momente, in denen man es überwiegend mit Fremden, völlig Unbekannten zu tun hat, in einer Gesellschaft wie der unsrigen sehr häufig vorkommen. Wie gesagt, das ist keine Kritik, sondern bei modernen, arbeitsteiligen Gesellschaften, wie der unsrigen sicherlich unvermeidlich
Wenn ich mich in dem Raum umsehe, in dem ich gerade sitze, dann ist er voll von Dingen, die andere, anonyme Menschen in Prozessen hergestellt haben oder bereit streiten, Prozesse von denen ich in der Regel so gut wie nichts weiß, weder wie sie funktionieren, noch wo sie stattfinden: der Tisch, das Regal, der Stuhl, auf dem ich sitze, der nicht mehr funktionstüchtigte Laptop, die Säge die an der Wand hält, die Fenster die mich schützen, die Heizung, die die Zimmertemperatur erträglich macht.
Jetzt schreibe ich gerade einen Text für diesen Thread, und auch das funktioniert nur, weil ich auf die Leistung von Menschen und Strukturen zurückgreifen kann, die sozusagen im Verborgenen arbeiten, wie Heinzelmännchen, ohne die ein solch einfach wirkender Vorgang überhaupt nicht möglich wäre.
Naja, ich finde das schon gesellig, wenn sich Leute in engem Raum aufhalten ohne sich gegenseitig zu zerfleischen :-) Ich kenne Menschen, die wollen sich in solchen öffentlichen Verkehrsvehikeln nicht hinzugesellen. -- Also kurz gesagt: Eigenschaften wie "gesellig" sind natürlich skalierbar.
Eine Gesellschaft, deren Insassen sich gegenseitig zerstören, zerstört sich und ist dann eine Ex-Gesellschaft.
Eine Gesellschaft, deren Insassen sich gegenseitig zerstören, zerstört sich und ist dann eine Ex-Gesellschaft.
Ja, es sind 13 Vorlesungen, ich glaube, es handelt sich um Luhmanns letzte Vorlesung in Bielefeld.sybok hat geschrieben : ↑So 5. Nov 2023, 09:23
Dann werd ich heute mal mit der Vorlesung beginnen, also diese Reihe Niklas Luhmann - Theorie der Gesellschaft 1/13 (youtube) war gemeint, oder?
Hier ist noch mal ein anderer Link, der alle 13 Vorlesungen bündelt.
https://m.youtube.com/playlist?list=PLe ... ZJJRd0LZE
p.s.: Wenn Du magst, Sybok, dann können wir zur Besprechung der Vorlesung und einiger Schlüsselbegriffe der Systemtheorie auch einen eigenen Faden aufmachen.
Super, natürlich, je mehr umso besser!
Ich hab mal jetzt einfach ganz naiv einen Thread eröffnet, aber gebe die Urheberschaft auch gerne ab:
zum Thread: Vorlesung: Luhmann - Theorie der Gesellschaft
Zeitliche Bedingungen würde ich dafür auch nicht haben wollen.
Ich hab mal jetzt einfach ganz naiv einen Thread eröffnet, aber gebe die Urheberschaft auch gerne ab:
zum Thread: Vorlesung: Luhmann - Theorie der Gesellschaft
Zeitliche Bedingungen würde ich dafür auch nicht haben wollen.