Heraklit und einige seiner Zeitgenossen

Aspekte metaphysischer Systementwürfe und der Ontologie als einer Grunddisziplin der theoretischen Philosophie können hier diskutiert werden.
Nauplios

Di 31. Okt 2023, 11:47

Das Ganze durch eine geheime und gewissermaßen unbekannte Kette zu verbinden.

(Wieland; Aristipp und einige seiner Zeitgenossen)

In diesem Thread geht es nicht nur um Heraklit. So wie es in Wielands Briefroman nicht nur um Aristipp geht. Es gibt eine Zeitgenossenschaft ohne historische Eingrenzung, ohne die festen Daten der Geschichte. Bei dem Sokrates-Schüler Aristipp ist es die ins Lustvolle driftende Verfassung seines Philosophierens, die Wieland in seinem Briefroman über Aristipp - über einen Aristipp - in die Zeitgenossenschaft zur Epoche der Aufklärung und des eigenen Altershedonismus setzt. Zeitgenosse zu sein in diesem Sinne heißt, daß weniger die "Zeit" den Bogen spannt, als mehr das Gefährte-Sein. ("Genosse" war ursprünglich jemand, der das gleiche Vieh hatte.) - Gemeinsam auf einer "Fährte" zu sein, auf einer Denk-Spur, das ist im Grunde das, worum es geht. Epochen sind nichts, was zwangsläufig trennen muß.

Die Zeitgenossenschaft mit Heraklit geht in eine andere Richtung. Bei dem "Dunklen", wie man Heraklit schon im Altertum nannte, hat sich, insbesondere in seinen Logos-Fragmenten ein Raunen eingeschliffen, was ihn in eine Zeitgenossenschaft mit dem Denker des Seins und dessen Vergessenheit setzt. Es wundert nicht, daß Heidegger in Heraklit einen Geistesverwandten sieht. Das Bild für epochenübergreifende Zeitgenossenschaft ist der Ein-fluß, die Beein-flussung, das, was sich vom Früheren auf's Spätere niederschlägt, die Quellen, aus denen dieses Spätere schöpft. Alles fließt. Um zum Ursprung zurück zu gelangen, schwimmt man gegen den Strom. Benjamins Engel der Geschichte hat diese Blickrichtung des Zurück.

"Daß man die Wirklichkeit nicht festhalten kann, weil sie nicht das ist, als was sie uns erscheint", (Blumenberg), denn alles fließt, läßt sich epistemologisch mißverstehen. Auf die Kurzformel "Dieses ist in Wirklichkeit jenes" hatte es der spätraunende Wittgenstein gebracht; aber daß alles fließt, bedeutet noch keineswegs, daß wir nichts erkennen können. Heraklit war kein Erkenntnistheoretiker im modernen Sinne. Seine Fragmente sind auch deshalb "dunkel", weil sie die Stellung des Menschen zur Welt metaphysisch aufspannen.

Die Wirklichkeit nicht "festhalten" zu können, hat Rilke so ausgedrückt:

"Und wir: Zuschauer, immer, überall,
dem allen zugewandt und nie hinaus!
Uns überfüllts. Wir ordnens. Es zerfällt.
Wir ordnens wieder und zerfallen selbst.
Wer hat uns also umgedreht, daß wir,
was wir auch tun, in jener Haltung sind
von einem, welcher fortgeht? Wie er auf
dem letzten Hügel, der ihm ganz sein Tal
noch einmal zeigt, sich wendet, anhält, weilt -,
so leben wir und nehmen immer Abschied."
(Achte Duineser Elegie)

Leben heißt Abschied nehmen. So darf es hier auch um den Tod gehen und um seine philosophische Einfriedung. Auch der Tod hat ja seine aquametaphorische Bildlichkeit als ein Zurücksinken ins Nichts, als Wechsel der Topographie. So wie die Oberfläche des großen Lebensozeans sich wieder glättet als wäre nichts geschehen.




Nauplios

Di 31. Okt 2023, 17:53

"Wir steigen in denselben Fluß und doch nicht in denselben, wir sind es und wir sind es nicht." (Heraklit; 49a)

"Wir sind es und wir sind es nicht." Zweieinhalb Jahrtausende später begibt sich Paul Ricœur auf die Suche nach dem "Ort" der Metapher und kommt zu dem Ergebnis, daß "ihr innerster und letzter Sinn weder das Nomen noch der Satz oder selbst die Rede, sondern die Kopula des Verbums (ist). Das metaphorische 'ist' bedeutet zugleich 'ist nicht' und 'ist wie'." (Paul Ricœur; Die lebendige Metapher; S. 10)

Das Verb "sein" (εἶναι) braucht im Griechischen nicht zwangsläufig ein Akkusativobjekt, als Ergänzung kann auch ein weiterer Nominativ stehen: ὁ ξένος δοῦλος ἐστιν - Der Fremde ist ein Sklave. ὁ ξένος (Der Fremde) und δοῦλος (Sklave) stehen beide im Nominativ, ἐστιν (er sie es "ist") ist die 3. Person Singular von εἶναι (sein). Die Metapher verortet Ricœur in eben dieser Kopula und bestimmt als den eigentlichen Ort der Metapher damit das Gleichheitszeichen, das in die "Übertragung" (μεταφορά) eingeschlossen ist.

Das Leben ist eine Seefahrt. Das ist es und ist es zugleich nicht. Metaphorisch ist es das, jenseits dieser Übertragung ist es das nicht.

Die Anwendung von Ricœurs Ortsbestimmung der Metapher auf Heraklit 49a hellt das dunkle Fragment womöglich auf, vorausgesetzt, man nimmt es überhaupt als Metapher.




Nauplios

Di 31. Okt 2023, 18:32

Nun steht die Metapher im Verdacht einer wenig edlen Abstammung. Aristoteles behandelt sie in der Rhetorik und in der Poetik. Vor allem die Kunst der Rede wird seit Platon beargwöhnt, sich der philosophischen Verpflichtung "Wahres zu sagen" lustvoll zu entziehen. Damit gerät aber auch die Metapher unter Druck. Aristoteles immerhin gesteht der Rhetorik zu, "das Überzeugende wie das scheinbar Glaubwürdige zu erkennen." (Rhetorik; 1355b).

Die Frage liegt in der Luft: Besitzt das Überzeugende, das scheinbar Glaubwürdige ausreichend Dignität, um für die Philosoph*innen von Belang zu sein?




Nauplios

Di 31. Okt 2023, 18:55

Dazu noch einmal Paul Ricœur:

"Wenn es sich wirklich so verhält [s.o. zum Ort der Metapher], dürfen wir von einer metaphorischen Wahrheit sprechen, jedoch in einem wiederum 'spannungshaften' Sinn des Wortes 'Wahrheit'." (Paul Ricœur; Die lebendige Metapher; S. 10)

Ich denke, daß dieser spannungshafte Sinn in Heraklit 49b beschlossen ist und seine Entschlüsselung u.a. davon abhängt, das "Aufgespannte" zwischen dem "ist" und "ist nicht" zu entfalten.




Nauplios

Di 31. Okt 2023, 19:15

Die zweite Heimat der Metapher ist die Poetik (s. Aristoteles). Auch hier ist das Verhältnis zur Wahrheit "spannungsgeladen", denn in der Dichtung wird ja nichts bewiesen. "Ihre Absicht ist mimetisch, besteht also (...) darin, eine wesentliche Darstellung der menschlichen Handlungen hervorzubringen; die ihr eigentümliche Darstellungsweise ist es, die Wahrheit vermittels der Fiktion, der Fabel, des tragischen Mythos zu sagen." (Paul Ricœur; Die lebendigeMetapher; S. 19)

Damit liegt die nächste Frage in der Luft: Wie ist Heraklit zu lesen? Als Dichter? Als Mythologe?




Nauplios

Di 31. Okt 2023, 23:15

"Dieses heißt Schicksal: gegenüber sein / und nichts als das und immer gegenüber" heißt es in der achten Duineser Elegie. Der Gedanke des Gegenüber durchweht diese Elegie. Umgekehrt, umgedreht, umgewendet ...

Im Kratylos berichtet Platon:

"Heraklit sagt an einer Stelle, dass alles im Gang ist, und nichts verharrt; und indem er das Seiende mit dem Strom eines Flusses vergleicht, sagt er, dass man wohl nicht zweimal in denselben Fluss steigen könne." (402a)

(λέγει που Ἡράκλειτος, ὅτι πάντα χωρεῖ, καὶ οὐδὲν μένει· καὶ ποταμοῦ ῥοῇ ἀπεικάζων τὰ ὄντα λέγει, ὡς δὶς ἐς τὸν αὐτὸν ποταμὸν οὐκ ἂν ἐμβαίης.)

Doch wie kommt es überhaupt dazu, daß alles im Gang ist (πάντα χωρε) und nichts verharrt (οὐδὲν μένει)? - Das Movens dieses Werdens ist die Kraft der Gegensätze. Wenn Rilke das Gegenüber-Sein poetisch darstellt, dann wirkt dabei u.a. die heraklitische Lehre der Gegensätze mit.




Nauplios

Di 31. Okt 2023, 23:52

1903 feiert Wilhelm Dilthey seinen 70. Geburtstag. In seiner Dankesrede heißt es:

"Ich genoss an jenem Abend ganz besonders, wie der harmonische Geist des göttlichen Raphael den Streit der auf Leben und Tod sich bekämpfenden Systeme besänftigt hat zu einem friedlichen Gespräch. Schlafmüde legte ich mich nieder. Und alsbald bemächtigte sich ein geschäftiges Traumleben des Raphaelschen Bildes. Die Gestalten der Philosophen wurden zu Wirklichkeiten. Aus weiter, weiter Ferne sah ich eine lange Reihe von Männern in den Trachten der folgenden Jahrhunderte sich nähern. So oft einer bei mir vorüberging, mühte ich mich, ihn zu erkennen."

Das philosophische Gespräch ist ein unendliches, das durch alle Zeiten hindurch geführt wird. Die Zeit kann ihm nichts anhaben. Für einen, der 70 wird, ist das ein wunderbarer Traum. Nicht, daß es nicht auch andere wunderbare Träume gäbe, doch für den Hermeneuten Dilthey konnte er die geheime Kette des Heraklit symbolisieren. Dilthey schließt denn auch seine Rede mit:

"Was der Mensch sei, sagt ihm nur seine Geschichte. Die Melodie unseres Lebens ist bedingt durch die begleitenden Stimmen der Vergangenheit."




Nauplios

Mi 1. Nov 2023, 01:01

ἀθάνατοι θνητοί, θνητοὶ ἀθάνατοι. ζῶντες τὸν ἐκείνων θάνατον, τὸν δὲ ἐκείνων βίον τεθνεῶτες. (Heraklit, 62)

"Unsterbliche sterblich, Sterbliche unsterblich: sie leben gegenseitig ihren Tod und sterben ihr Leben."

Eines der befremdlichsten Fragmente Heraklits. Ist ein transitives Sterben überhaupt denkbar? - Man hat auch hier wieder diese Verschränkung von Gegensätzen, jetzt sogar in vierfacher Anordnung: ἀθάνατοι θνητοί, θνητοὶ ἀθάνατοι. Aber steckt darin eine Symmetrie?




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Jörn Budesheim
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Nauplios hat geschrieben :
Di 31. Okt 2023, 19:15
... in der Dichtung wird ja nichts bewiesen
Dichtung ist Kunst. Kunst und Philosophie haben ein gemeinsames Thema: den Menschen. Aber sie stellen ihn unterschiedlich dar. Die Philosophie sagt, die Kunst zeigt. Luhmann hat einmal erklärt, man dürfe sich Systeme nicht wie Fettaugen auf der Suppe vorstellen. Das gilt auch für die Bereiche Philosophie und Kunst. Ich denke, sie sind - mal mehr, mal weniger - immer miteinander verwoben/vermischt, welche Metapher hier auch immer passen mag. Rilke zum Beispiel ist ein philosophischer Dichter, denke ich.




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Jörn Budesheim
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Nauplios hat geschrieben :
Di 31. Okt 2023, 19:15
... ihr eigentümliche Darstellungsweise ist es, die Wahrheit vermittels der Fiktion, der Fabel, des tragischen Mythos zu sagen." (Paul Ricœur; Die lebendigeMetapher; S. 19)
Ich erinnere mich ganz vage an ein Kinderbuch - von Michael Ende oder Erich Kästner, ich weiß es nicht mehr - da hat Michael Kästner im Vor- oder Nachwort ungefähr das Gleiche gesagt, sinngemäß: Um die Wahrheit zu zeigen, musste ich diese Geschichte von Anfang bis Ende erfinden, das hat mich damals sehr beeindruckt :-).

Ich meine, in Tegtmeyers "Kunst" hätte ich das in Bezug auf Aristoteles ähnlich gelesen, aber das müsste ich erst einmal nachschlagen: Dichter:innen stellen (im Unterschied zum Beispiel zu Historiker:innen) nicht zwingend dar, was wirklich geschehen ist, sondern was geschehen könnte (oder sollte). Während Historiker:innen das Besondere, die Details, die Datenlage erfassen, versuchen Dichter:innen das Allgemeine, eine Art Gesamtbild zu zeigen.




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Mi 1. Nov 2023, 07:54

Nauplios, Wilhelm Dilthey zitierend hat geschrieben :
Di 31. Okt 2023, 23:52
"Ich genoss an jenem Abend ganz besonders, wie der harmonische Geist des göttlichen Raphael den Streit der auf Leben und Tod sich bekämpfenden Systeme besänftigt hat zu einem friedlichen Gespräch ...
Bild
Damit sich jede:r ein Bild machen kann, worum es da vermutlich geht. In der Mitte des Freskos sind Aristoteles und Platon abgebildet, die die zentrale Debatte zwischen den philosophischen Schulen der Antike repräsentieren. Die träumerische Figur im Vordergrund ist wohl Heraklit. Frauen gibt es abgesehen von den Statuen wohl nicht zu sehen.




Nauplios

Mi 1. Nov 2023, 11:43

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 1. Nov 2023, 07:47

Dichtung ist Kunst. Kunst und Philosophie haben ein gemeinsames Thema: den Menschen. Aber sie stellen ihn unterschiedlich dar. Die Philosophie sagt, die Kunst zeigt.
Diese Unterscheidung von Sagen und Zeigen, die auf Wittgenstein zurückgeht, hat eine Tücke, die darin besteht, daß die Metapher ein zeigendes Verfahren ist, das die Form des Sagens hat. Die Metapher bringt etwas zum Ausdruck, indem sie Ungesagtes zur Sprache bringt. Ihr Zeigen besteht gleichsam in der Indirektheit ihres Zugriffs. "Etwas als etwas zu begreifen, unterscheidet sich radikal von dem Verfahren, etwas durch etwas anderes zu begreifen." (Hans Blumenberg; Ästhetische und metaphorologische Schriften; S. 415)

Die Kunst der Beredsamkeit hat schon sehr früh den Argwohn der Philosophie geweckt. Dieses Schicksal teilt die Rhetorik mit der Poetik. Beide "rächen" sich durch die Unhintergehbarkeit der Metapher. Sie ist das trojanische Pferd, von dem die Philosophie glaubte, es verschwände indem man es ignorierte.




Nauplios

Mi 1. Nov 2023, 12:07

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 1. Nov 2023, 07:51
Nauplios hat geschrieben :
Di 31. Okt 2023, 19:15
... ihr eigentümliche Darstellungsweise ist es, die Wahrheit vermittels der Fiktion, der Fabel, des tragischen Mythos zu sagen." (Paul Ricœur; Die lebendigeMetapher; S. 19)
Ich erinnere mich ganz vage an ein Kinderbuch - von Michael Ende oder Erich Kästner, ich weiß es nicht mehr - da hat Michael Kästner im Vor- oder Nachwort ungefähr das Gleiche gesagt, sinngemäß: Um die Wahrheit zu zeigen, musste ich diese Geschichte von Anfang bis Ende erfinden, das hat mich damals sehr beeindruckt :-).
Wenn die Wahrheit das Ergebnis eines Zeigens sein kann und "die Kunst zeigt", ist die Kunst damit auch wahrheitsfähig. Sie kann die Wahrheit zeigen, aber auch die Wahrheit kann sich zeigen. Auch darin liegt eine Art Umkehrung, eine Verneinung. Das Sich-Zeigende ist nämlich das, was sich nicht verbirgt, was sich von sich aus zeigt. Die Lethe ist einer der Flüsse der Unterwelt. Sie ist dort verborgen und das Negationspräfix bedeutet, daß das a-lethes unverborgen ist. Es zeigt sich.




Nauplios

Mi 1. Nov 2023, 13:13

Ein kleines Fundstück aus Die lebendige Metapher:

"Das 'Mehr' des dichterischen Ausdrucks bewirkt, daß jedes Glied des Gegensatzes am anderen teilhat, sich ins andere verwandelt; durch den Übergang, den die Sprache zwischen zwei Bedeutungen herstellt, evoziert sie somit 'etwas von einem metaphorischen Charakter der Welt selbst, den [das Gedicht] willkommen heißt'. Schließlich evoziert der 'perspektivische' Charakter der dichterischen Sprache das Mehr, das den Blickwinkel überschreitet; wird das nicht auch von Heraklit angedeutet, wenn er sagt, daß 'der Herr, dem das Orakel zu Delphi gehört, weder behauptet noch verbirgt, sondern bedeutet'?" (Paul Ricœur; Die lebendigeMetapher; S. 244f)




Nauplios

Mi 1. Nov 2023, 15:00

Heraklit: ἀθάνατοι θνητοί, θνητοὶ ἀθάνατοι. ("Unsterbliche sterblich, Sterbliche unsterblich") Fr. 62

Heidegger als Heraklit: "Das Denken hörend blickt und blickend hört." (Der Satz vom Grund; S. 89)

Der Heraklit von Meßkirch auf den Spuren des Heraklit von Ephesos.

Wäre Raffael 500 Jahre später geboren, hätte Heraklit vermutlich nicht die Gesichtszüge Michelangelos getragen, sondern die Heideggers. ;)




Nauplios

Mi 1. Nov 2023, 18:57

"Die Sprache ist die Blume des Mundes. In ihr erblüht die Erde der Blüte des Himmels entgegen." (Hölderlin - Der Gang aufs Land)

1971 erscheint ein Aufsatz von Jacques Derrida, La mythologie blanche (Weiße Mythlogie), in dem sich Derrida u.a. mit Heideggers These auseinandersetzt "Das Metaphorische gibt es nur in der Metaphysik". - Derrida kommentiert Heidegger, der seinerseits Hölderlin kommentiert, mit einem bemerkenswerten Satz:

"Die Metaphysik hat in ihr selbst die mythische Szene ausgelöscht, die sie hervorbrachte und die doch wirksam, regsam, mit weißer Tinte geschrieben, als unsichtbare, im Palimpsest verdeckte Zeichnung erhalten bleibt." (Jacques Derrida; Weiße Mythlogie. S. 4)

Das ist - horribile dictu - das Paradox einer Selbstimplikation der Metapher und es führt zu der Frage: Kann man metaphernfrei über die Metapher sprechen?




Nauplios

Do 2. Nov 2023, 11:57

Metaphern sind nicht zwangsläufig dem Tod geweiht. Dennoch können sie sterben und sind dann tote Metaphern, verblaßte Metaphern, die an ihrem ausschweifenden und maßlosen Leben gestorben sind, eine Art Altersschwäche, bei der ihre Physiognomie verfällt, so daß sie als solche nicht mehr zu erkennen sind. Lebendig sind Metaphern, wenn durch sie nicht nur "etwas als etwas", sondern "etwas durch etwas" begriffen wird. Lebendige Metaphern erblühen wie Seerosen auf einem Teich und heben sich von der λέξις, der Gesamtheit des Wortschatzes einer Sprache, ab. Ricœur spricht ihnen eine "semantische Innovation" zu. Sie fertigen eine "Neubeschreibung der Wirklichkeit" an, indem sie den lustvollen Bruch mit dem gewöhnlichen Sprachgebrauch suchen.

Dieser "Verstoß" führt auch zum Zusammenbruch der primären Referenz, weil mit der Übertragungsleistung der Metapher eine zweite Referenz (etwas durch etwas) hinzukommt. Die Wirklichkeit wird sozusagen verflüssigt, ihre Neubeschreibung ermöglicht ein "stereoskopisches Sehen". Die Wirklichkeit ist kein beständiges Substrat, sondern geht wesentlich aus einem Möglichsein hervor. Dieses Möglichsein ist als unsichtbare Zeichnung nach Art eines Palimpsests der Wirklichkeit mit weißer Tinte eingeschrieben.

(Ich muß gestehen, daß ich mich an diesem Sprachbild von Ricœur berauschen könnte, vermutlich wegen seiner semantischen Innovationskraft.) ;)




Nauplios

Do 2. Nov 2023, 18:07

Die Metapher hinterläßt oft den Eindruck, sie sei Gegenstand eines linguistischen Verfahrens zur Eingrenzung des ihres Gebrauchs. Folgt man Ricœurs Überlegungen, erweist sich diese Sicht auf die Metapher als Verkürzung. Die Metapher ist - wie auch bei Blumenberg - ein "Probierstein" (Kant) für die Beschreibung der Wirklichkeit. "Beschreibung" hat in dieser Konstellation einen Doppelsinn. Ein Grabstein läßt sich beschreiben, indem man beispielsweise die Lebensdaten des Verstorbenen darauf schreibt; und diesen Grabstein kann man dann wieder nach erfolgter Beschreibung beschreiben. Die Wirklichkeit ist einerseits eine gnoseologisch-ontologische Kategorie; mit ihr ist etwas Objektives gemeint, das den Dingen anhaftet; und zugleich ist sie eine Kategorie der Modalität, also mehr als bloße quidditas, mehr als bloße Fixierung eines factum brutum. - Die Metapher mit ihrer zweifachen Referenz bietet sich zur Historisierung dessen, was im Horizont des Möglichseins (s.o.) als wirklich gilt, an.




Nauplios

Do 2. Nov 2023, 18:37

Die Sprache "steht im Sein", heißt es bei Paul Ricœur und er erläutert diesen Gedanken so:

Die Sprache "kehrt ihre Beziehung zu ihrem Referenten so um, daß sie sich selbst als Zur-Rede-Kommen des Seins, von dem sie handelt, auffaßt. (...) Kant schrieb: 'Etwas muß sein, damit etwas erscheine'; wir sagen: 'Es muß etwas sein, damit etwas gesagt werde.' Dieser Satz macht die Wirklichkeit zur letzten Kategorie, von der aus das Ganze der Sprache als Gesagt-Sein der Wirklichkeit zwar nicht gewußt, doch gedacht werden kann." (Paul Ricœur; Die lebendige Metapher; S. 287)




Nauplios

Fr 3. Nov 2023, 11:57

"Und dann: einmal niedergeschrieben, treibt sich jedes Wort allenthalben wahllos herum (...) und weiß nicht zu sagen, zu wem es kommen sollte und zu wem nicht. Wenn es dann schlecht behandelt und ungerechterweise geschmäht wird, so bedarf es immer seines Vaters, der ihm helfen sollte; denn selbst kann es weder sich wehren, noch sich helfen." [*]

Man könnte denken, das sei aus einem Aphorismus von Nietzsche zitiert. Es stammt jedoch aus dem Phaidros Platons und beschäftigt die Philosophie bis heute. Jacques Derrida etwa spricht von einer "Erniedrigung der Schrift" (Grammatologie; S. 12). Platon selbst läßt Sokrates (der ja nichts schrieb) diese Erniedrigung vorantreiben und nennt in diesem Zusammenhang auch die Kunst (Schleiermacher engt sie speziell auf die Malerei ein). Wie die Kunst ist die Schrift von ihrem vitalen Ursprung abgetrennt, ihre vermeintliche Lebendigkeit täuscht über ihre vaterlose Existenz hinweg. Darin liegt das Defizit der Schrift gegenüber der Rede. Die Wörter vagabundieren quasi in der Gegend herum, bieten sich jedem feil und dürfen sich über eine schlechte Behandlung nicht wundern. Die Schrift ist ein Umweg über "fremde Zeichen" (Platon). Das macht sie suspekt, weil damit die Herkunft der Rede aus der Seele des Menschen aus dem Blick gerät und gegen die Seele ein Kontaktverbot ausgesprochen wird.

Wie Heidegger ist auch Derrida unterwegs zur Sprache, spürt eine Vergessenheit auf. Ein Vorläufer dieser Ästhetisierung der Philosophie ist natürlich Nietzsche und vor ihm Friedrich Schlegel. Schlegel, Nietzsche, Heidegger, Derrida ... Man könnte von einer Denklandschaft sprechen, in der sie sich bewegen.


[*]
("δόξαις μὲν ἂν ὥς τι φρονοῦντας αὐτοὺς λέγειν, ἐὰν δέ τι ἔρῃ τῶν λεγομένων βουλόμενος μαθεῖν, ἕν τι σημαίνει μόνον ταὐτὸν ἀεί. ὅταν δὲ ἅπαξ γραφῇ, κυλινδεῖται μὲν πανταχοῦ πᾶς λόγος ὁμοίως παρὰ τοῖς ἐπαΐουσιν, ὡς δ᾽ αὕτως παρ᾽ οἷς οὐδὲν προσήκει, καὶ οὐκ ἐπίσταται λέγειν οἷς δεῖ γε καὶ μή. πλημμελούμενος δὲ καὶ οὐκ ἐν δίκῃ λοιδορηθεὶς τοῦ πατρὸς ἀεὶ δεῖται βοηθοῦ: αὐτὸς γὰρ οὔτ᾽ ἀμύνασθαι οὔτε βοηθῆσαι δυνατὸς αὑτῷ.") (Phaidros 275e)




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