Was ist Gesellschaft? I

Ursprünglich in der praktischen Philosophie beheimatet sind Theorien der Gesellschaft heute weitgehend von der Soziologie aufgegriffen worden.
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Quk
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Fr 27. Okt 2023, 13:21

Luhmann-Wiki Paradox: https://luhmann.fandom.com/de/wiki/Paradoxie hat geschrieben : Jede Beobachtung ist paradox, sie operiert mit einer Unterscheidung, die sich ihrer Reflexion als Einheit entzieht; jeder Versuch die Einheit einer Differenz zu beobachten, die beide Seiten einer asymmetrischen Unterscheidung, läuft auf eine Paradoxie auf.
Diese Zeilen sind meines Erachtens vage und teilweise grammatisch falsch. Oder übersehe ich etwas?

Vage:
"Beobachtung [...] operiert mit einer Unterscheidung, die sich ihrer Reflexion als Einheit entzieht"
Meine Annahme:
"die" ist die Unterscheidung, nicht die Beobachtung. Also: "die" Unterscheidung entzieht sich ihrer Reflexion als Einheit. Also:
Die Unterscheidung sei eine Einheit. Verstanden. Also: Die Einheit namens Unterscheidung entzieht sich ihrer Reflexion.
Also sind folgende beide Sätze gleichermaßen konsistent:
• Die Einheit entzieht sich ihrer Reflexion.
• Die Unterscheidung entzieht sich ihrer Reflexion.
Abgekürzt:
Die Unterscheidungs-Einheit entzieht sich ihrer Reflexion.
Weiter ist die Rede von "Einheit einer Differenz". Das ist wohl dasselbe wie Unterscheidungs-Einheit.
Um zu verdeutlichen, dass diese Zeilen nur eine Scheinerklärung sind -- genauer: eine Tautologie --, setze ich mal die Begriffe konsistent ein:

Jede Beobachtung ist paradox, sie operiert mit einer Unterscheidungs-Einheit, die sich ihrer Reflexion entzieht; jeder Versuch [Komma] die Unterscheidungs-Einheit zu beobachten, [...] läuft auf eine Paradoxie auf.

Dieser Satz bietet keinen Erkenntnisgewinn, meiner Ansicht nach. Um diese Ansicht zu haben, muss man nicht Luhmann kennen, sondern die deutsche Sprache.
Des Weiteren heißt es da:
• Jede Beobachtung operiere mit einer Unterscheidungs-Einheit.
• Jeder Versuch einer Unterscheidungs-Einheit-Beobachtung laufe auf eine Paradoxie auf.
Im ersten Satzteil ist eine Unterscheidungs-Einheit ein operativer Bestandteil einer Beobachtung.
Im zweiten Satzteil ist eine Unterscheidungs-Einheit hingegen der anvisierte Gegenstand einer Beobachtung.
Jener Gegenstand sei paradox, und auf diesen laufe die Beobachtung auf.

Mir scheint dieser Textabschnitt verworren. Ich glaube, der Autor dieses Wiki-Eintrags verstand selber nicht genau, was er da schrieb.


Grammatisch unvollständig:
An der Auslassung "[...]" habe ich folgenden Nebensatz ausgeblendet:
"die beide Seiten einer asymmetrischen Unterscheidung"

Entweder fehlt da am Ende ein Verb, oder am Anfang müsste es heißen "den beiden" anstatt "die beide".

Dann: Wenn es asymmetrische Unterscheidungen gibt, gibt es dann auch symmetrische? Sind diese Adjektive Zugaben des Wiki-Autors? Oder sind das luhmannsche Fachbegriffe? In meinen asymmetrischen Augen sind Unterscheidungen immer asymmetrisch. Was wäre denn eine symmetrische?




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Jörn Budesheim
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Fr 27. Okt 2023, 13:49

"Jede Beobachtung ist paradox, sie operiert mit einer Unterscheidung, die sich ihrer Reflexion als Einheit entzieht; jeder Versuch die Einheit einer Differenz zu beobachten, die beide Seiten einer asymmetrischen Unterscheidung, läuft auf eine Paradoxie auf."

Aus dem Zusammenhang gerissen, kann man das, glaube ich, nicht verstehen. Ich kann es auch nicht einfach ins Deutsche übersetzen und bin mir auch nicht sicher, ob uns die Fokussierung auf Paradoxien bei der Beantwortung der Frage, was Gesellschaft gemäß Luhmann ist, am Anfang wirklich weiterhilft. Man sollte, wenn man Hochsprung übt, die Latte nicht gleich auf 2,45m legen :-)

Beobachten bedeutet bei Luhmann etwas ganz Bestimmtes. In meinen eigenen Worten, einfach ausgedrückt: Beobachten heißt bei Luhmann "Unterscheiden und Bezeichnen". Ich unterscheide zwischen der Tasse und allem anderen und bezeichne (asymmetrisch?) nur die eine Seite der Unterscheidung als Tasse. Nun haben wir diese beiden Seiten der Unterscheidung und könnten versuchen, nach ihrer Einheit zu fragen. Aber um das zu beobachten, brauchen wir wiederum eine Unterscheidung ... Ähnlich wie beim Begriffspaar System/Umwelt arbeitet Luhmann nicht mit einer Begrifflichkeit, die sich sozusagen an Substanzen orientiert. Luhmann arbeitet vielmehr immer mit Differenzen. Das ist sicher auch der Zeit geschuldet, in der er gearbeitet hat.




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Jörn Budesheim
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Fr 27. Okt 2023, 13:58

Quk hat geschrieben :
Fr 27. Okt 2023, 13:21
"Jede Beobachtung ist paradox, sie operiert mit einer Unterscheidung, die sich ihrer Reflexion als Einheit entzieht; jeder Versuch[,] die Einheit einer Differenz zu beobachten, die beide Seiten einer asymmetrischen Unterscheidung, läuft auf eine Paradoxie auf."
Ich glaube, die Grammatik ist fast richtig, es fehlt nur ein Komma. Hier ein Versuch, die Grammatik nachvollziehbar zu machen. Aber ohne Gewähr:

Jede Beobachtung ist paradox. Beobachtungen operieren in Luhmannscher Terminologie mit Unterscheidungen und Bezeichnungen. Eine Seite der Unterscheidung wird bezeichnet. (Die Tasse wird bezeichnet, und zwar als "Tasse", aber nicht alles andere.) Jeder Versuch, die Einheit einer Differenz (also beide Seiten der asymmetrischen Unterscheidung) zu beobachten, läuft auf eine Paradoxie auf.

Aber was heißt das: "Eine Unterscheidung, die sich ihrer Reflexion als Einheit entzieht". Das ist für mich schwer ins Deutsche zu übertragen, in etwa so?: Eine Unterscheidung, die nicht in ihrer Einheit erfasst werden kann.

Ich hab zu Hause das Luhmann-Lexikon von Krause, das ist von vorne bis hinten voll mit solchen Formulierungen, schwerer Stoff.




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Quk
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Fr 27. Okt 2023, 14:07

Ich meine, dieses Unterscheidungsprinzip kommt nicht von Luhmann. Es war schon immer da. Die Welt ist vielgestaltig. Selbst wenn sie nur ein Punkt wäre, so würde sie sich von einem Nichtpunkt unterscheiden müssen, um da zu sein. Und damit ist das Ganze schon wieder mehr als eingestaltig. Also: Die Beobachtung einer Sache ist meiner uralten Ansicht nach immer eine Beobachtung eines Unterschieds. Wenn die beobachtete Sache sich nicht von Anderen unterscheiden würde, wäre sie nicht beobachtbar. Das gilt für alle Beobachtungen, nicht nur für luhmannsche, behaupte ich.

Das Prinzip ist -- und das meine ich nicht abwertend -- trivial.




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Jörn Budesheim
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Fr 27. Okt 2023, 14:25

Quk hat geschrieben :
Fr 27. Okt 2023, 14:07
Ich meine, dieses Unterscheidungsprinzip kommt nicht von Luhmann. Es war schon immer da. Die Welt ist vielgestaltig.
Luhmann will ja etwas beschreiben und nicht ein neues Weltprinzip hervorbringen. Das Unterscheidungsprinzip ist gewissermaßen immer schon da, das sehe ich auch so. Ein Alles ohne innere Differenzen, wäre so gut wie ein Nichts. Dass Luhmann hier etwas richtig erfasst hat, spricht nicht gegen seine Theorie :-) Also noch mal zur Differenz: Er sagt (wörtlich oder sinngemäß) über Systeme, dass sie die "Differenz zwischen System und Umwelt sind". Vielleicht ist das auch nicht originell. Aber es ist für mich eine interessante Sicht der Dinge. Das System ist nicht nur "das da" (im Prinzip eine Art Substanz), sondern es ist gewissermaßen auch das, was es nicht ist, nämlich seine Umwelt - genauer die "Differenz zwischen System und Umwelt".




Nauplios

Fr 27. Okt 2023, 17:13

Die Systemtheorie beginnt mit einer Unterscheidung, mit der Unterscheidung von System und Umwelt. Würde man nichts unterscheiden, ließe sich auch nichts beobachten; man hätte einzig ein Rauschen. Man beobachtet mithilfe einer Unterscheidung (s. das, was Jörn vorhin dazu geschrieben hat). Das bedeutet jedoch nicht, daß man nicht auch mit einer anderen Unterscheidung beginnen könnte: Subjekt/Objekt oder Bewußtsein/Gegenstand oder Ich/Welt oder Individuum/Gesellschaft oder Sein/Seiendes oder Substanz/Akzidenz oder res cogitans/res extensa oder Ding an sich/Erscheinung oder empirisch/transzendental oder sakral/profan oder gläubig/ungläubig ... Die Frage ist im Grunde eigentlich nur: was läßt sich mit welcher Unterscheidung beobachten? Und daran anschließend: Was spricht für die jeweilige Unterscheidung im Hinblick auf eine Theorie der Gesellschaft, die in der Lage ist, das Funktionieren der modernen Gesellschaft zu beschreiben?

Es sind also durchaus mehrere Unterscheidungen möglich; unmöglich ist dagegen eine "Ur-Unterscheidung"; das wäre eine Unterscheidung, die nicht auf Unterscheidungen zurückgeht. Ohne Unterscheidung geht nichts. Der Einzige, der beobachten kann ohne Unterscheidungen zu treffen, ist Gott. Deshalb sieht Gott alles, auch daß er sieht, daß er alles sieht. Gott ist gleichsam der Beobachter nullter Ordnung. Ihn können aber auch die Theologen nicht beobachten. Deshalb beobachten sie bevorzugt den Teufel, denn der Teufel (er ist ja von Gott "abgefallen", ist also der erste, der Gott und sich unterscheidet) beobachtet Gott, wenn auch mit dem blinden Fleck, daß er nur sieht, was er sieht und nicht sieht, daß er nicht sieht, was er nicht sieht. So ist der Teufel als theologische Auskunftsquelle von besonderem Interesse. Indem man nämlich den Teufel beobachtet (Beobachtung zweiter Ordnung), der Gott beobachtet (Beobachtung erster Ordnung), der ALLES beobachtet (Beobachtung nullter Ordnung), ist man der Letztinstanz am nächsten.




Nauplios

Fr 27. Okt 2023, 18:00

Ernst_Mach_Innenperspektive.png
Ernst_Mach_Innenperspektive.png (455.86 KiB) 5223 mal betrachtet
Vielleicht bietet Ernst Machs Zeichnung "Innenperspektive" die Möglichkeit einer Veranschaulichung:

Der Beobachter beobachtet, aber er kann die Einheit der Unterscheidung, mit der er beobachtet, nicht beobachten. Ernst Mach zeichnet sich selbst, er kommt in seinem Bild vor, aber nicht vollständig. Ein Beobachter zweiten Grades könnte Ernst Mach bei der Beobachtung der Welt beobachten. Er könnte ihn zum Beispiel zeichnen. Dann würde man Ernst Mach vollständig sehen - seine Augen eingeschlossen. Von diesem Beobachter zweiter Ordnung würde man wiederum die Beine, die Hand, den Stift usw. sehen, aber nicht dessen Augen. Um den Beobachter zweiter Ordnung mitsamt seinen Augen zu sehen, die den Beobachter erster Ordnung beobachten, bedarf es eines Beobachters dritter Ordnung usw. - Es entstünde sozusagen ein Bild im Bild bzw. ein Bild im Bild im Bild. Auf keiner Ebene gäbe es einen Beobachter, der ALLES sieht.

Der Beobachter in der Zeichnung von Ernst Mach kommt auf beiden Seiten vor, auf der Seite des Beobachteten und auf der Seite des Beobachtenden, also auf beiden Seiten der Unterscheidung, mit der beobachtet wird. Beobachtung ist Unterscheiden und eine Seite der Unterscheidung bezeichnen. Ließe sich beobachten ohne zugleich zu bezeichnen, hätte man die Beobachtung sozusagen in flagranti erwischt. Der Detektiv kommt hier immer zu spät.




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Stefanie
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Fr 27. Okt 2023, 18:11

Das ist nicht das Problem, zumindest nicht bei mir.
Ich verstehe nicht, warum dies ein Paradox sein soll.



Der, die, das.
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Wieso, weshalb, warum?
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Quk
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Fr 27. Okt 2023, 18:32

Luhmann hat es nie geschafft, alles zu sehen. Was also leistet seine Systemtheorie hinsichtlich ihrer angestrebten All-Beobachtung überhaupt? Ich denke, alle Beschreibungen der Gesellschaft bleiben ausschnitthafte Thesen; nur Thesen -- egal ob sie mit Hilfe der Systemtheorie erstellt wurden oder mit anderen Werkzeugen. Oder nicht?




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AufDerSonne
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Fr 27. Okt 2023, 20:29

Gott gibt es nicht. Es wäre schade, wenn in einer Theorie der Gesellschaft Gott eine wichtige Rolle spielen würde. Ist das so bei Luhmann?
Aber was interessant wäre ist, ob eine Theorie der Gesellschaft überhaupt möglich ist. Die Menschen sind oft sehr irrational und reagieren gefühlsmässig, nicht rational. Kann man für solche Geschöpfe eine Theorie machen, die beschreibt, wie sie im Zusammenleben funktionieren? Es wäre natürlich schon gut, wenn wir eine brauchbare Theorie über die Gesellschaft hätten.
Wie äussert sich die Tatsache, dass Menschen zusammenleben müssen, in Luhmanns Theorie? Ist sie wichtig?



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Nauplios

Fr 27. Okt 2023, 22:30

AufDerSonne hat geschrieben :
Fr 27. Okt 2023, 20:29

Gott gibt es nicht.
Das spielt keine Rolle. Es geht ja hier nur um die Besetzung der vakanten Stelle einer Beobachtung nullter Ordnung. Kandidaten für diese Position des alles-zugleich-Sehenden gibt es wenige, außer Gott vielleicht noch Voldemort oder die tausend Augen des Dr. Mabuse. :lol:

Von größerer Bedeutung wäre ohnehin der Teufel als Beobachter erster Ordnung, weil er damit eine mit den Mitteln der Systemtheorie konstruierbare Unterscheidung vornimmt, woran man wieder mal sieht, daß die Systemtheorie Teufelszeug ist. ;)




Nauplios

Sa 28. Okt 2023, 11:56

Stefanie hat geschrieben :
Fr 27. Okt 2023, 18:11

Das ist nicht das Problem, zumindest nicht bei mir.
Ich verstehe nicht, warum dies ein Paradox sein soll.
Die folgende Passage ist aus Die Kunst der Gesellschaft genommen. Luhmann erörtert seine Theorie der Beobachtung (erster und zweiter Ordnung) darin am Paradigma der Kunst:


"Die Aussage, ein Beobachter zweiter Ordnung sei immer auch ein Beobachter erster Ordnung, ist nur eine andere Formulierung für die geläufige These, daß die Welt nicht von außen beobachtet werden kann. Es gibt kein »extramundanes Subjekt«. Wer diese Denkfigur braucht oder wer die Frage aufwirft, wie denn ein transzendentales Subjekt ein empirisches Subjekt werden könne, denkt im langen Schatten der Theologie oder sieht sich an dieser Stelle durch eine philosophische Theorie auf glattes Eis geführt. Wie uns die heute weitgehend akzeptierte operative Epistemologie lehrt, findet alles Beobachten in der Welt statt als ein seinerseits beobachtbarer Vorgang; setzt alles Beobachten eine Grenzziehung voraus, über die hinweg der Beobachter etwas anderes (...) beobachten kann; konstituiert alles Beobachten also die Unvollständigkeit von Beobachtungen, indem es sich selbst und die für es konstitutive Differenz der Beobachtung entzieht; muß Beobachten sich also auf einen blinden Fleck einlassen, dank dessen es etwas (aber nicht alles) sehen kann. (...) Oder in traditioneller Terminologie formuliert: Die Unbeobachtbarkeit der Operation des Beobachtens ist die transzendentale Bedingung seiner Möglichkeit. Die Bedingung der Möglichkeit des Beobachtens ist nicht ein Subjekt (geschweige denn: ein mit Vernunft ausgestattetes Subjekt), sondern ein Paradox, an dem derjenige scheitert, der die Welt transparent zu machen sucht.

(...)

 
Das Beobachten erster Ordnung ist das Bezeichnen - im unerläßlichen Unterschied von allem, was nicht bezeichnet wird. Dabei wird die Unterscheidung von Bezeichnung und Unterscheidung nicht zum Thema gemacht. Der Blick bleibt an der Sache haften. Der Beobachter selbst und sein Beobachten bleiben unbeobachtet, und es ist auch nicht nötig, daß der Beobachter sich selbst von dem unterscheidet, was er beobachtet. Das ändert sich aber, wenn es zur Beobachtung zweiter Ordnung kommt, sei es durch denselben, sei es durch einen anderen Beobachter. Dann wird bezeichnet, daß die Beobachtung als Beobachtung stattfindet, daß sie eine Unterscheidung benutzen muß und gegebenenfalls: welche Unterscheidung. Damit stößt der Beobachter zweiter Ordnung auch auf die Unterscheidung von Unterscheidung und Bezeichnung. Er behandelt das Beobachtungsinstrument jetzt als Form der Beobachtung mit der Implikation, daß es andere Formen (so wie: andere Beobachter) geben könnte. Und darin liegt auch (wenngleich dies nicht ausgearbeitet werden muß), daß die Form des Beobachtens schon ein re-entry der Form in die Form impliziert, weil die benutzte Unterscheidung die Unterscheidung von Unterscheidung und Bezeichnung voraussetzt. Die Unterscheidung ist immer schon in sich selbst hineincopiert als Unterscheidung, die sich von der Bezeichnung unterscheidet, die sie ermöglicht.

Der Beobachter zweiter Ordnung muß nicht komplex genug sein, um dieses re-entry beobachten zu können. Aber er setzt es als Implikat der Form, die er als Form einer Beobachtung beobachtet voraus. Für das Beobachten zweiter Ordnung wird mithin die Unbeobachtbarkeit des Beobachtens erster Ordnung beobachtbar - aber nur unter der Bedingung, daß nun der Beobachter zweiter Ordnung als Beobachter erster Ordnung seinerseits sein Beobachten und sich als Beobachter nicht beobachten kann." (Niklas Luhmann; Die Kunst der Gesellschaft; S. 95ff)




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AufDerSonne
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Sa 28. Okt 2023, 14:54

Wir sollen also immer in der Welt sein, können sie nicht von aussen beobachten. Hm. Kann sein, kann aber auch nicht sein. Jedenfalls kann ich mit meinen Augen materielle Gegenstände sehen und damit auch beobachten. Gehen wir davon aus, dass das Sehen der wichtigste Sinn ist beim Beobachten. Ich weiss nicht, aber es spielt für mich beim Beobachten eines materiellen Gegenstands keine Rolle, ob ich in der Welt oder ausserhalb von ihr bin. Jedenfalls ist der Gegenstand aussen, während meine Gedanken über ihn innen sind.



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Timberlake
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Sa 28. Okt 2023, 16:42

Quk hat geschrieben :
Fr 27. Okt 2023, 13:21
Luhmann-Wiki Paradox: https://luhmann.fandom.com/de/wiki/Paradoxie hat geschrieben : Jede Beobachtung ist paradox, sie operiert mit einer Unterscheidung, die sich ihrer Reflexion als Einheit entzieht; jeder Versuch die Einheit einer Differenz zu beobachten, die beide Seiten einer asymmetrischen Unterscheidung, läuft auf eine Paradoxie auf.
Diese Zeilen sind meines Erachtens vage und teilweise grammatisch falsch. Oder übersehe ich etwas?

Du übersiehst die Zirkularität ...
spektrum.de hat geschrieben :
[ur=https://www.spektrum.de/lexikon/geograp ... lemma/5286]Münchhausen-Trilemma[/url]

Münchhausen-Trilemma, begründungstheoretisches Problem in der Wissenschaftstheorie. Es besagt, dass jede Definition oder Begründung von Sätzen durch Sätze entweder a) zirkulär ist oder b) in einen unendlichen Regress führt oder c) eine dogmatische Setzung darstellt. Nach dem Vorschlag des methodischen Konstruktivismus ist das Münchhausen-Trilemma nur durch den Rückgang von der Sprach- auf die Handlungsebene zu lösen.
So wie jede Definition oder Begründung von Sätzen durch Sätze entweder a) zirkulär ist oder b) in einen unendlichen Regress führt oder c) eine dogmatische Setzung darstellt, so ist auch jede Definition oder Begründung von dem , was der Beobachter beobachtet durch die Beobachtung entweder a) zirkulär , führt b) in einen unendlichen Regress oder stellt c) eine dogmatische Setzung dar. "Gelöst" wird das Pradox tatsächlich immer durch eine dogmatische Setzung. Man setzt dogmatisch fest , was der Beobachter , durch seine Beobachtung beobachtet Die beiden Seiten einer asymmetrischen Unterscheidung laufen auf diese Weise , auf eine "dogmatische Setzung" hinaus.

Wenn hier gefragt wird, "Was ist eine Gesellschaft", so würde demnach die Antwort lauten. "Eine Abfolge von dogmatischen Setzungen". von Beobachtern , die durch eine Beobachtung etwas beobachten.
Zuletzt geändert von Timberlake am Sa 28. Okt 2023, 17:02, insgesamt 9-mal geändert.




Nauplios

Sa 28. Okt 2023, 16:50

AufDerSonne hat geschrieben :
Sa 28. Okt 2023, 14:54

Ich weiss nicht, aber es spielt für mich beim Beobachten eines materiellen Gegenstands keine Rolle, ob ich in der Welt oder ausserhalb von ihr bin.
Ja, so handhabe ich das auch. In der Welt leben kann man auch ohne systemtheoretische Einblicke; das ist gar nicht verwunderlich. Interessant ist aber, daß man auch mit diesen Einblicken in ihr leben kann. Zur Welt gehören ja nicht nur "materielle Gegenstände", zur Welt gehört u.a. auch das Anfertigen von Beschreibungen dieser Welt. Und wenn man die Welt nicht als einen Behälter von Gegenständen sieht, sondern als (unerreichbaren) Horizont, in den die Gegenstände, zu denen ja die Beschreibungen der Welt auch gehören, gestellt sind, dann nimmt die Sache langsam Fahrt auf.




Nauplios

Sa 28. Okt 2023, 17:02

Auf den Paradigmenwechsel von Identitätstheorie (Substanzdenken) und Differenztheorie (beginne mit einer Unterscheidung) hatte Jörn gestern bereits hingewiesen. Eine Grundschrift in diesem Zusammenhang ist Differenz und Wiederholung von Gilles Deleuze, der das Phänomen der Differenz ohne jedwede Anleihen bei der Systemtheorie beschreibt.

Eine markante Zäsur in der Philosophie ist in diesem Zusammenhang auch Ernst Cassirers Substanzbegriff und Funktionsbegriff.




Nauplios

Sa 28. Okt 2023, 17:15

Oft wird ja nach Beispielen und Anwendungsfeldern der Systemtheorie gefragt; eine Möglichkeit bietet hier die Vorlesung von Peter Fuchs Liebe, Sex und solche Sachen. Zur Konstruktion moderner Intimsysteme. -




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Stefanie
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Sa 28. Okt 2023, 17:34

Nauplios hat geschrieben :
Fr 27. Okt 2023, 18:00
Ernst_Mach_Innenperspektive.png

Vielleicht bietet Ernst Machs Zeichnung "Innenperspektive" die Möglichkeit einer Veranschaulichung:

Der Beobachter beobachtet, aber er kann die Einheit der Unterscheidung, mit der er beobachtet, nicht beobachten. Ernst Mach zeichnet sich selbst, er kommt in seinem Bild vor, aber nicht vollständig. Ein Beobachter zweiten Grades könnte Ernst Mach bei der Beobachtung der Welt beobachten. Er könnte ihn zum Beispiel zeichnen. Dann würde man Ernst Mach vollständig sehen - seine Augen eingeschlossen. Von diesem Beobachter zweiter Ordnung würde man wiederum die Beine, die Hand, den Stift usw. sehen, aber nicht dessen Augen. Um den Beobachter zweiter Ordnung mitsamt seinen Augen zu sehen, die den Beobachter erster Ordnung beobachten, bedarf es eines Beobachters dritter Ordnung usw. - Es entstünde sozusagen ein Bild im Bild bzw. ein Bild im Bild im Bild. Auf keiner Ebene gäbe es einen Beobachter, der ALLES sieht.

Der Beobachter in der Zeichnung von Ernst Mach kommt auf beiden Seiten vor, auf der Seite des Beobachteten und auf der Seite des Beobachtenden, also auf beiden Seiten der Unterscheidung, mit der beobachtet wird. Beobachtung ist Unterscheiden und eine Seite der Unterscheidung bezeichnen. Ließe sich beobachten ohne zugleich zu bezeichnen, hätte man die Beobachtung sozusagen in flagranti erwischt. Der Detektiv kommt hier immer zu spät.
Sorry, der andere Beitrag brachte keine Geistesblitz.

Warum ist das was, was oben beschrieben wird, ein Paradox?
So wie die "Versuchsanordnung" oben ist, geht das gar nicht anders, wie oben beschrieben.
Mal abgesehen, dass sich Mach nicht selbst beobachten kann, aber fühlen.

Wie das hier auch:
"Eine Beobachtung ist immer eine systeminterne Operation. Der Beobachter kann zum Zeitpunkt der Operation sich selbst nicht beobachten, ob und wie hinreichend genau beobachtet wurde. Dieses Paradox wird als blinder Fleck einer Beobachtung bezeichnet. Aus diesem Grund kann eine Beobachtung nie den Anspruch auf Vollständigkeit geschweige denn auf die Richtigkeit einer Beschreibung erheben. Das beobachtende System kann nur auf eigene und systemspezifische Weise die Umwelt beobachten, demnach gelangen andere Systeme zu anderen Beobachtungsergebnissen desselben beobachteten Phänomens."

Blinder Fleck, o,k, aber ein Paradox?

Edit: Wieso wird das Bild nicht mit zitiert, um das geht es doch auch. Also manchmal könnte ich die Funktionen des Forums...



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Jörn Budesheim
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Sa 28. Okt 2023, 17:49

Warum ist dir das so wichtig, ob das ein Paradox ist oder nicht?




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Stefanie
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Sa 28. Okt 2023, 17:58

Weil Luhmann es zu einem Paradox erklärt, und das wird er wohl kaum grundlos gemacht haben.



Der, die, das.
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