Was ist eine "echte Demokratie"

Ursprünglich in der praktischen Philosophie beheimatet sind Theorien der Gesellschaft heute weitgehend von der Soziologie aufgegriffen worden.
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Jörn Budesheim
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Di 28. Mär 2023, 19:11

Burkart hat geschrieben :
Mo 27. Mär 2023, 22:18
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 27. Mär 2023, 19:49
Burkart hat geschrieben :
So 26. Mär 2023, 14:10
Dann würden wir einen Schritt zu echter Demokratie machen.
Was genau möchtest Du damit sagen? Willst du behaupten, dass wir in keiner "echten Demokratie" leben?
Wir haben hier eine "Nicht mal einmal im Jahr"-Kreuzchen-Demokratie und dann auch nur jeweils mit geringer Auswahl (Partie und/oder Direktkandidat).
Wir können z.B. nicht über Themen abstimmen, außer vielleicht mal bei einer der ganz seltenen Volksabstimmungen wie gerade in Berlin, die mangels Beteiligung doch noch geklappt hat. (Der Aufwand, selbst eine zu organisieren, wäre für die meisten Menschen erheblich zu aufwändig.)
Bessere Demokratie wäre z.B., wenn man direkt bei Themen mit abstimmen könnte, idealerweise digital.
Ok, es ergäben sich womöglich neue Probleme... aber das wäre ein anderes Thema.
So wie es aussieht, ist Burkart der Ansicht, dass unsere repräsentative Demokratie keine "echte Demokratie" ist. Was also ist eine echte Demokratie?

(Es wird darum gebeten, in diesem Faden auf Wikipedia- oder Chat-GPT-Zitate oder ähnliches zu verzichten.)




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Jörn Budesheim
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Di 28. Mär 2023, 19:40

Warum hat Amerika den Angriff von Donald Trump auf die Demokratie überlebt? Weil so oft gewählt wurde oder weil zu selten gewählt wurde? Ich glaube, zu einer "echten Demokratie" gehört natürlich in erster Linie, dass das Volk der Souverän ist, aber ein wichtiger Punkt sind auch gewisse fest verankerte Strukturen, die im Falle Amerikas den Angriff von Trump abgewehrt haben. Zu diesen Strukturen gehören die Gewaltenteilung, denke ich, bestimmte Verfahren, die eingehalten werden müssen und vieles mehr.




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Stefanie
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Di 28. Mär 2023, 19:44

Ein erster Aufschlag mit Herrn Popper.
Der folgende Artikel erspart mir das abtippen aus einem Buch.
https://www.spiegel.de/politik/zur-theo ... 0013523345

Zur Theorie der Demokratie
(...)
Worauf kommt es denn wirklich an? Es gibt eigentlich nur zwei Staatsformen: Solche, in denen es möglich ist, die Regierung ohne Blutvergießen durch eine Abstimmung loszuwerden, und solche, in denen das nicht möglich ist. Darauf kommt es an, nicht aber darauf, wie man diese Staatsform benennt. Gewöhnlich nennt man die erste Form »Demokratie« und die zweite Form »Diktatur« oder »Tyrannei«. Aber es steht nicht dafür, über Worte (wie DDR) zu streiten. Das Entscheidende ist allein die Absetzbarkeit der Regierung, ohne Blutvergießen.
Für diese Absetzbarkeit gibt es verschiedene Methoden. Die beste Methode ist die einer Abstimmung: Eine Neuwahl oder ein Votum in einem gewählten Parlament kann die Regierung stürzen. Darauf kommt es an.

Es ist daher falsch, wenn man die Betonung auf die Frage legt (wie es von Platon bis Marx und auch später immer wieder getan wurde): »Wer soll regieren? Das Volk (der Pöbel) oder die wenigen Besten? Die (guten) Arbeiter oder die (bösen) Kapitalisten? Die Mehrheit oder die Minderheit? Die Partei von links oder die Partei von rechts oder eine Partei der Mitte?« Alle diese Fragen sind falsch gestellt. Denn es kommt nicht darauf an, wer regiert, solange man die Regierung ohne Blutvergießen loswerden kann. Jede Regierung, die man wieder loswerden kann, hat einen starken Anreiz, sich so zu verhalten, daß man mit ihr zufrieden ist. Und dieser Anreiz fällt weg, wenn die Regierung weiß, daß man sie nicht so leicht loswerden kann.
(...)
Der Glaube, ein nach dem Proporz gewählter Bundestag oder ein Parlament sei ein besserer Spiegel des Volkes und seiner Wünsche, ist falsch. Er repräsentiert nicht das Volk und seine Meinungen, sondern lediglich den Einfluß der Parteien (und der Propaganda) auf die Bevölkerung am Wahltag. Und er macht es schwieriger, daß der Wahltag zu dem wird, was er sein konnte und sollte: ein Tag des Volksgerichts über die Tätigkeit der Regierung.
(...)
Es gibt also keine gültige Theorie der Volksherrschaft; keine gültige Theorie, die den Proporz fordert. So müssen wir fragen: Wie wirkt sich der Proporz in der Praxis aus - 1. auf die Regierungsbildung, 2. auf die so entscheidend wichtige Möglichkeit, eine Regierung zu entlassen?
(...)
Auch dann, wenn die Mehrheit der Wähler eine bestehende Mehrheitsregierung entlassen will, so kann sie das nicht unbedingt erreichen. Denn selbst wenn eine Partei, die bisher die absolute Mehrheit hatte (so daß sie verantwortlich gemacht werden konnte), ihre Mehrheit verliert, so wird sie unter einem Proporz höchstwahrscheinlich noch immer die größte Partei bleiben. Daher wird sie mit Unterstützung einer der kleinsten Parteien eine Koalitionsregierung bilden können. So wird der entlassene Führer der großen Partei weiter regieren - gegen den Mehrheitsbeschluß und auf Grund der Entscheidung einer kleinen Partei, die meilenweit davon entfernt sein kann, den »Willen des Volkes« zu repräsentieren.
(...)
Mir scheint eine Form, die das Zweiparteiensystem möglich macht, die beste Form der Demokratie zu sein. Denn sie führt immer wieder zur Selbstkritik der Parteien. Wenn eine der beiden großen Parteien in einer Wahl eine richtige Schlappe erlitten hat, dann kommt es gewöhnlich zu einer radikalen Reform innerhalb der Partei. Das ist eine Folge der Konkurrenz und des eindeutigen Verdammungsurteils der Wähler, das nicht übersehen werden kann. So werden die Parteien durch dieses System von Zeit zu Zeit gezwungen, von ihren Fehlern zu lernen oder unterzugehen.

Meine Bemerkungen gegen den Proporz bedeuten nicht, daß ich allen Demokratien den Rat erteile, den Proporz aufzuheben. Ich wünsche nur der Diskussion darüber eine neue Richtung zu geben. Der Gedanke, daß aus der Idee der Demokratie die moralische Überlegenheit des Proporzsystems logisch abgeleitet werden kann und daß die kontinentalen Systeme wegen des Proporzes besser, gerechter oder demokratischer sind als die angelsächsischen Systeme, ist naiv und hält einer etwas eingehenderen Überlegung nicht stand.

Zusammenfassend: Die Ansicht, daß der Proporz demokratischer ist als das britische oder amerikanische System, ist unhaltbar, da sie sich auf eine überholte Theorie der Demokratie als Volksregierung berufen muß (die ihrerseits auf die sogenannte Souveränitätstheorie des Staates zurückgeht). Diese Theorie ist moralisch verfehlt und sogar unhaltbar: Sie ist durch die Theorie der Entlassungsgewalt der Majorität überholt.
(...)
Dieses moralische Argument ist wohl noch wichtiger als das praktische Argument, daß wir nicht mehr als zwei voll verantwortliche und konkurrierende Parteien brauchen, um den Wählern die Macht zu geben, in ihrer Wahl über die Regierung zu Gericht zu sitzen. Der Proporz schafft die Gefahr, daß der Wahlentscheid der Mehrheit bagatellisiert wird und damit auch der Einfluß einer Wahlniederlage auf die Parteien - ein wohltätiger Einfluß, den die Demokratie brauchen kann. Und für einen klaren Mehrheitsentscheid ist es wichtig daß es eine möglichst gute und starke Oppositionspartei gibt. Sonst sind die Wähler oft gezwungen, eine schlechte Regierung weiter regieren zu lassen, weil sie Grund haben anzunehmen: »Es kommt nichts Besseres nach.«
(...)
Widerspricht nicht meine Verteidigung des Systems der zwei Parteien der Idee einer offenen Gesellschaft? Ist nicht die Toleranz einer Vielheit von Meinungen und Theorien, also ein Pluralismus, charakteristisch für die offene Gesellschaft und ihre Wahrheitssuche, und soll sich dieser Pluralismus nicht in einer Vielzahl von Parteien ausdrucken?
(...)
Meine Antwort: Es ist die Funktion einer politischen Partei, eine Regierung zu stellen oder als Opposition die Arbeit der Regierung kritisch zu überwachen. Zur kritischen Überwachung gehört es, die Toleranz der Regierung gegenüber den verschiedenen Meinungen, Ideologien und Religionen zu überwachen (soweit diese nicht intolerant sind: Denn Ideologien, die Intoleranz predigen, verlieren ihren Anspruch auf Toleranz). Manche Ideologien werden versuchen - mit oder ohne Erfolg-, eine Partei zu dominieren oder eine neue Partei zu gründen. So wird es ein Wechselspiel geben zwischen Meinungen, Ideologien, Religionen auf der einen Seite und den großen konkurrierenden Parteien auf der anderen Seite.



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Stefanie
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Di 28. Mär 2023, 19:51

Die Gewaltenteilung halte ich für entscheidend. Ohne Rechtsstaat, zu der auch die Gewaltenteilung gehört, würde keine Demokratie funktionieren. Es gibt Länder, die haben offiziell eine Demokratie, aber nicht wirklich einen Rechtsstaat. Türkei, mal so eben Kandidaten ausschließen macht Herr Erdogan gerne.



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Jörn Budesheim
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Di 28. Mär 2023, 20:17

Natürlich muss man auch berücksichtigen, welche Werte umgesetzt oder angestrebt werden: also natürlich Freiheit und Gleichheit, aber auch der ganze Katalog der Menschenrechte und ... (der Wert der Natur, die Rechte der Mitgeschöpfe ...).




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Lucian Wing
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Di 28. Mär 2023, 21:54

Stefanie hat geschrieben :
Di 28. Mär 2023, 19:44
Ein erster Aufschlag mit Herrn Popper.
Mir scheint eine Form, die das Zweiparteiensystem möglich macht, die beste Form der Demokratie zu sein. Denn sie führt immer wieder zur Selbstkritik der Parteien. Wenn eine der beiden großen Parteien in einer Wahl eine richtige Schlappe erlitten hat, dann kommt es gewöhnlich zu einer radikalen Reform innerhalb der Partei. Das ist eine Folge der Konkurrenz und des eindeutigen Verdammungsurteils der Wähler, das nicht übersehen werden kann. So werden die Parteien durch dieses System von Zeit zu Zeit gezwungen, von ihren Fehlern zu lernen oder unterzugehen.
Grundsätzlich würde ich mit ihm am schnellsten einig. Aber zu dem Abschnitt hier braucht es ein paar weitere Bedingungen. Die USA jedenfalls zeigen, dass zwei Parteien ein Land in Geiselhaft nehmen können. Großbritannien hat es etwas leichter. Gegenüber uns auch seines Rechtssystems wegen, das viel weniger formales Recht hat, was die politische Arbeit auch erleichtert. Es gibt weniger, was Parteien (und Regierungen) lösen müssen im Common Law.
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 28. Mär 2023, 20:17
der ganze Katalog der Menschenrechte und ... (der Wert der Natur, die Rechte der Mitgeschöpfe ...).
Ja, Katalog trifft es. Im Katalog gibt's nämlich immer mehr Dinge, die als Menschenrecht gelten und sich wechselseitig ausschließen. Die Briten ohne Verfassung und mit dem Common Law haben es da einfacher, zumindest die Parteien und Regierungen. Ob es deshalb besser ist, ist eine andere Frage. Aber je atomisierter und identitärer eine Gesellschaft wird, desto schwieriger wird es, aus der explodierenden Anzahl von Ansprüchen auf etwas ein noch funktionierendes allgemeines verbindliches Recht zu gießen.



Als ich vierzehn war, war mein Vater so unwissend. Ich konnte den alten Mann kaum in meiner Nähe ertragen. Aber mit einundzwanzig war ich verblüfft, wieviel er in sieben Jahren dazu gelernt hatte. (Mark Twain)

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Jörn Budesheim
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Mi 29. Mär 2023, 08:56

Lucian Wing hat geschrieben :
Di 28. Mär 2023, 21:54
Im Katalog gibt's nämlich immer mehr Dinge, die als Menschenrecht gelten und sich wechselseitig ausschließen.
Was wäre ein Beispiel dafür?
Lucian Wing hat geschrieben :
Di 28. Mär 2023, 21:54
Aber je atomisierter und identitärer eine Gesellschaft wird, desto schwieriger wird es, aus der explodierenden Anzahl von Ansprüchen auf etwas ein noch funktionierendes allgemeines verbindliches Recht zu gießen.
Warum? Man kann daraus etwas allgemein Verbindliches machen: Was alle verbindet, ist, dass sie Menschen sind, die sich (auf die verschiedenste Art und Weise) selbst bestimmen können und dürfen. Jeder hat also das Recht, so zu leben, wie er will, solange er nicht das gleiche Recht anderer verletzt.




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Lucian Wing
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Mi 29. Mär 2023, 10:42

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 29. Mär 2023, 08:56
Lucian Wing hat geschrieben :
Di 28. Mär 2023, 21:54
Im Katalog gibt's nämlich immer mehr Dinge, die als Menschenrecht gelten und sich wechselseitig ausschließen.
Was wäre ein Beispiel dafür?
Alles, was mit Religion zu tun hat zum Beispiel. Religionsfreiheit in Verbindung mit den Elternrechten bedeutet, dass es kein Recht für Kinder gibt, von religiöser Erziehung und Gehirnwäsche verschont zu bleiben. Ob nun Zeugen Jehovas oder Salafisten, das Recht auf freie Entwicklung der Persönlichkeit wird hier unterlaufen. Für sich genommen mögen die Rechte jeweils gut sein, aber sie passen nicht zusammen.

Und wie Baldus in "Kämpfe um die Menschenwürde" ganz gut zeigt, entwickeln sich immer mehr Ansprüche aus leeren Formeln wie dieser.
Die Würdenorm war keinesfalls von Anbeginn an das Nonplusultra des nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland neu entstehenden Verfassungsrechts. Zu Anfang war sie allein deren antitotalitäres Versprechen. Erst nach und nach erwuchs ihr eine so von niemandem erwartete, allenfalls vorsichtig erahnte, dann aber kaum mehr steigernder Bedeutung zu, einhergehend mit einem im Grunde grenzenlosen Anwendungsbereich.

Mit dieser Erkenntnis verknüpft ist sodann ein äußerst frappierender Befund: Inhaltlich ist die Norm weitestgehend unbestimmt geblieben. Der Eifer, sie anspruchsvoll auszudeuten, ließ zwar nie nach, doch keinem der miteinander wetteifernden Konzepte gelang es, über eine längere Zeit eine unangefochtene Dominanz zu erlangen. Mehr noch: In den Meinungskämpfen, in denen die Norm eingesetzt wurde, beriefen sich am Ende sogar gegenüberstehende, ja mitunter bissig gegeneinander streitende Lager gleichermaßen auf sie. Und schließlich: Die zu ihr entwickelte Dogmatik ist inzwischen mit zahlreichen Inkonsistenzen und problemträchtigen Annahmen befrachtet.
Quelle: Kämpfe um Menschenrechte, Berlin 2017, S. 246

Ein Hinweis, wie sich der Katalog immer stärker ausweitet
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 29. Mär 2023, 08:56
Lucian Wing hat geschrieben :
Di 28. Mär 2023, 21:54
Aber je atomisierter und identitärer eine Gesellschaft wird, desto schwieriger wird es, aus der explodierenden Anzahl von Ansprüchen auf etwas ein noch funktionierendes allgemeines verbindliches Recht zu gießen.
Warum? Man kann daraus etwas allgemein Verbindliches machen: Was alle verbindet, ist, dass sie Menschen sind, die sich (auf die verschiedenste Art und Weise) selbst bestimmen können und dürfen. Jeder hat also das Recht, so zu leben, wie er will, solange er nicht das gleiche Recht anderer verletzt.
Je mehr unterschiedliche Anspruchsgruppen mit unterschiedlichen, einander ausschließenden normativen Vorstellungen aufeinanderprallen, je stärker das Individuum im Zuge der Individualisierung Anspruchsrechte unmittelbar gegen den Staat geltend machen kann, desto schwieriger wird es, allgemeine Gesetze zu formulieren. In England würde das im Zuge des Fallrechts eben Fall für Fall eingehen ins Recht, aber kein allgemeines Gesetz entstehen. (Hat Vorteile, hat Nachteile:) Das "Allgemeinverbindliche" in endlos diversifizierten Gesellschaften lässt diese aus meiner Sicht irgendwann implodieren, weil immer mehr Rechte entstehen, die andere Rechte eigentlich ausschließen müssen. Am Ende verletzt jeder jeden mit jedem, weil nur er (oder erst seine Gruppe) zählt. Scheint mir eine reine Frage logischer Beziehungen zwischen inkompatiblen Weltanschauungen zu sein.



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Mi 29. Mär 2023, 11:04

Lucian Wing hat geschrieben :
Mi 29. Mär 2023, 10:42
Religionsfreiheit in Verbindung mit den Elternrechten bedeutet, dass es kein Recht für Kinder gibt, von religiöser Erziehung und Gehirnwäsche verschont zu bleiben.
Dass Kinder ein Recht auf eine angemessene Erziehung haben und dass Eltern ihre Kinder im Sinne ihrer Religion erziehen, schließt sich meines Erachtens nicht generell aus. Was Eltern dürfen und was nicht, kann durch Gesetze geregelt werden. Minderjährige haben z.B. ein Recht auf gewaltfreie Erziehung, es gibt eine Schulpflicht etc. p.p. Dass Eltern ihren Kindern ihre eigene Weltanschauung vermitteln, halte ich zunächst einmal für normal und nicht für eine Form der Gehirnwäsche.

Wichtig: Dass es Konfliktsituationen geben kann, spricht überhaupt nicht dagegen, dass Achtung und Umsetzung der Menschenrechte eine "Säule" der Demokratie ist, wie ich oben angedeutet habe.




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Jörn Budesheim
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Mi 29. Mär 2023, 11:13

Lucian Wing hat geschrieben :
Mi 29. Mär 2023, 10:42
Das "Allgemeinverbindliche" in endlos diversifizierten Gesellschaften lässt diese aus meiner Sicht irgendwann implodieren, weil immer mehr Rechte entstehen, die andere Rechte eigentlich ausschließen müssen.
Eigentlich nicht. Mein Recht auf freie Entfaltung schließt dein Recht auf freie Entfaltung nicht aus, nur weil wir uns unterschiedlich entfalten. Demokratie ist für mich der Ort, an dem diese Unterschiedlichkeit möglich sein muss. Jede Gesellschaft beruht auf dieser Unterschiedlichkeit. Gemeinsam ist uns allen das Recht auf freie Entfaltung, sofern man andere nicht daran hindert.

Die Unterschiede sind da. Man kann sie nicht wegdiskutieren oder wegwünschen. Ich halte Pluralität und eine bunte Gesellschaft für einen großen Wert.




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Lucian Wing
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Mi 29. Mär 2023, 11:40

Ich würde mich, wie gesagt, von den formalen Kriterien her, dem anschließen was Popper sagt, dem aber mit Blick auf innergesellschaftliche Verhältnisse hinzufügen, dass der Versuch, Negativität in allen Bereichen des Lebens auszumerzen, die Demokratie zum Einsturz bringt.

Ein Staat, der aktiv oder passiv fördert, dass man zur Überwindung negativer Gedanken das kulturelle Erbe fälscht durch (angebliche) moralische Beschönigung, landet beim Autoritären. Das schließt Demokratie aus, so sehr auch noch formale Strukturen bestehen.

https://www.n-tv.de/leute/Poirot-Miss-M ... 15434.html

Der Weg ist ja schon klar vorgezeichnet, die Einschläge werden immer kürzer. Wobei dieser O'Brianismus natürlich auf sanften Pfoten daherkommt. Mit O'Brian (also Orwell) und Camus könnte man sagen: Wir müssen uns Winston als glücklichen Menschen vorstellen.



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Timberlake
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Do 30. Mär 2023, 12:27

Lucian Wing hat geschrieben :
Mi 29. Mär 2023, 11:40
Der Weg ist ja schon klar vorgezeichnet, die Einschläge werden immer kürzer. Wobei dieser O'Brianismus natürlich auf sanften Pfoten daherkommt. Mit O'Brian (also Orwell) und Camus könnte man sagen: Wir müssen uns Winston als glücklichen Menschen vorstellen.
.. lt. Camus müssen wir uns allerdings Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.

  • Zur inneren Freiheit aber werden zwei Stücke erfordert: seiner selbst in einem gegebenen Fall Meister (animus sui compos) und über sich selbst Herr zu sein (imperium in semetipsum), d.i. seine Affekten zu zähmen und seine Leidenschaften zu beherrschen. – Die Gemütsart (indoles) in diesen beiden Zuständen ist edel (erecta), im entgegengesetzten Fall aber unedel (indoles abiecta, serva).
    Kant .. Die Metaphysik der Sitten

.. wenn gleich, so wie von Kant hier beschrieben , von einer solchen "inneren Freiheit" bei Sisyphos wohl sicherlich keine Rede sein kann. Diese innere Freiheit , seiner selbst in einem gegebenen Fall Meister (animus sui compos) und über sich selbst Herr zu sein (imperium in semetipsum), d.i. seine Affekten zu zähmen und seine Leidenschaften zu beherrschen, würde ich übrigens auch für eine echte Demokratie für essenziell halten.




Burkart
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So 2. Apr 2023, 11:44

Ich war ein paar Tage an der Nordsee und dort offline, nun aber noch ein paar Gedanken hier...

Gewaltenteilung ist sicherlich ein wichtiger Punkt in unserer Gesellschaft, aber ist sie nicht ein eigentlich unabhängiger Aspekt von ihr oder vielleicht besser sogar auch Voraussetzung, wenn es um "Volksherrschaft" geht? Man sieht ja z.B. im Putin-Russland, dass Gewaltenteilung quasi abgeschafft sein muss, um so wie in Russland aktuell herrschen zu können.

Der Absetzbaraspekt bei Popper ist sicherlich ein nettes Kriterium zwischen parlamentarischer Demokratie und Diktaturen u.ä.
Der für mich wichtige Punkt ist nur der:
Inwieweit muss uns überhaupt ein Parlament so umfänglich regieren, müssen wir uns also (fast) nur von unseren Politikern auf Basis ihrer parteipotischen und z.T. persönlichen Überzeugungen regieren lassen? Oder könnte es keine Demokratie mit wirklich mehr Einfluss aus der Bevölkerung geben?
Ich sehe es als (sehr) langfristige Möglichkeit an, in der insbesondere gut informierte gebildete Bürger (ggf. Millionen in Deutschland) mehr zu unserer Demokratie beitragen könnten, ohne dass sie gleich selbst in die Politik gehen müssen.

Das Ganze wäre sicher nicht einfach hinzukommen, nach meiner Ansicht aber mehr eine echte Volksherrschaft im Gegensatz zu einer parlamentarischen.
Ein Anfang könnte z.B. die Möglichkeit von Wählen von Themenaspekten anstelle von Parteien/Politikern sein, also "pro/kontra Kernkraft" (als ein klassischer Punkt) gegenüber "pro Grün" oder "pro FDP", ao dass man bei vielen Punkten gezielt selbst mitwählen könnte.



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Die Philosophie eines Menschen kann durch Andere fahrlässig missverstanden oder gezielt diskreditiert oder gar ganz ignoriert werden, u.a. um eine eigene Meinung durchsetzen zu wollen.

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Jörn Budesheim
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Sa 8. Apr 2023, 08:50

Deiner Ansicht nach ist eine repräsentative Demokratie keine echte Demokratie?




Burkart
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Sa 8. Apr 2023, 11:30

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 8. Apr 2023, 08:50
Deiner Ansicht nach ist eine repräsentative Demokratie keine echte Demokratie?
Es ist aus meiner Sicht nur eine "indirekte Volksherrschaft", insofern man die Abgeordneten einmalig (jedenfalls erstmal) wählt und dann sich i.a. nicht mehr an der "eigentlichen Volksherrschaft" (z.B. bei Mitsprache bei Themen, Richtungen usw.) beteiligt.
Und selbst beim Wählen der Repräsentanten ist oft noch nicht mal klar, in welcher Konstellation die gewählte Partei regieren kann (wenn denn überhaupt), also z.B. bei rot als Rot-Grün, Ampel oder gar großer Koalition, also was man eigentlich wählt.



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Ich wollte gerne wissen, ob die repräsentative Demokratie deiner Ansicht nach keine echte Demokratie ist.




Burkart
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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 8. Apr 2023, 12:37
Ich wollte gerne wissen, ob die repräsentative Demokratie deiner Ansicht nach keine echte Demokratie ist.
Das habe ich doch geschrieben oder fällt es dir so schwer, meinen Text zu interpretieren? Ggf. ersetze "Volksherrschaft" durch "Demokratie", wenn es dir hilft.
Oder für dich nochmal:
"Nein" in dem Sinne, dass das Volk nicht wirklich herrschst, "ja" aber gerne im Sinne des bisher meist üblichen Begriffs, wenn's dich beruhigt.



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Sa 8. Apr 2023, 14:45

Zum Mitschreiben: für dich ist unsere Demokratie keine echte Demokratie.




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Nach meiner Einschätzung ist unsere Demokratie eine echte Demokratie. Meine Freiheit in allen möglichen Sinnen ist hier garantiert. Ich kann meinen Beruf als Künstler ausüben, mein persönliches Leben nach meinem Vorstellungen führen, ich habe Teil an Bildung und Kultur, für meine Gesundheit ist gesorgt, ich kann am öffentlichen Diskurs, der öffentlichen Meinungsbildung teilnehmen, es gibt vielfältige Möglichkeiten mich wahrheitsgetreu zu informieren, die Freiheit der Wissenschaft ist garantiert ... und vieles, vieles mehr.




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Sa 8. Apr 2023, 16:45

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 8. Apr 2023, 16:23
Nach meiner Einschätzung ist unsere Demokratie eine echte Demokratie. Meine Freiheit in allen möglichen Sinnen ist hier garantiert. Ich kann meinen Beruf als Künstler ausüben, mein persönliches Leben nach meinem Vorstellungen führen, ich habe Teil an Bildung und Kultur, für meine Gesundheit ist gesorgt, ich kann am öffentlichen Diskurs, der öffentlichen Meinungsbildung teilnehmen, es gibt vielfältige Möglichkeiten mich wahrheitsgetreu zu informieren, die Freiheit der Wissenschaft ist garantiert ... und vieles, vieles mehr.
.. "nach meiner Einschätzung" .. wurde der Text zu sehr mit dem Focus auf die "erste Person" formuliert . Dazu nur mal als Gegenvorschlag ..

"Nach aller Einschätzung ist unsere Demokratie eine echte Demokratie. Unsere Freiheit in allen möglichen Sinnen ist hier garantiert. Man kann seinen Beruf als Künstler ausüben, sein persönliches Leben nach seinen Vorstellungen führen, man hat Teil an Bildung und Kultur, für unsere Gesundheit ist gesorgt, man kann am öffentlichen Diskurs, der öffentlichen Meinungsbildung teilnehmen, es gibt vielfältige Möglichkeiten sich wahrheitsgetreu zu informieren, die Freiheit der Wissenschaft ist garantiert ... und vieles, vieles mehr"
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 28. Mär 2023, 19:11
Burkart hat geschrieben :
Mo 27. Mär 2023, 22:18
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 27. Mär 2023, 19:49


Was genau möchtest Du damit sagen? Willst du behaupten, dass wir in keiner "echten Demokratie" leben?
Wir haben hier eine "Nicht mal einmal im Jahr"-Kreuzchen-Demokratie und dann auch nur jeweils mit geringer Auswahl (Partie und/oder Direktkandidat).
Wir können z.B. nicht über Themen abstimmen, außer vielleicht mal bei einer der ganz seltenen Volksabstimmungen wie gerade in Berlin, die mangels Beteiligung doch noch geklappt hat. (Der Aufwand, selbst eine zu organisieren, wäre für die meisten Menschen erheblich zu aufwändig.)
Bessere Demokratie wäre z.B., wenn man direkt bei Themen mit abstimmen könnte, idealerweise digital.
Ok, es ergäben sich womöglich neue Probleme... aber das wäre ein anderes Thema.
So wie es aussieht, ist Burkart der Ansicht, dass unsere repräsentative Demokratie keine "echte Demokratie" ist. Was also ist eine echte Demokratie?

Das und zwar für den Fall , dass diese Formulierung in der "dritten Person" bzw. in der "ersten, zweiten und dritten Person Plural" zuträfe , wäre übrigens für mich eine echte Demokratie bzw . " wirkliche Demokratie" ...
"Die philosophische Flaschenpost" hat geschrieben :
Rosa Luxemburg und die Freiheit der Andersdenkenden

„Ist es wirklich eine Demokratie, wenn zwar jeder Mensch nur eine Stimme hat, aber manche Menschen für eine Arbeitsstunde zehn Euro bekommen und andere 1000, also einen viel größeren Einfluss auf das Gemeinwesen haben“, fragt Adamczak. Für eine „wirkliche Demokratie“ müssten diese Bedingungen verändert werden – aber:
„Wenn wir die Bedingungen der Demokratie verändern, dann muss diese Veränderung selbst demokratisch sein, sonst wird sie autoritär und konterkariert ihren eigenen Anspruch.“




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