Erscheinung und Wirklichkeit

Dieses Unterforum beschäftigt sich mit dem Umfang und den Grenzen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit sowie um die speziellen Gesichtspunkte des Systems der modernen Wissenschaften.
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NaWennDuMeinst
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Sa 22. Okt 2022, 10:47

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 19. Okt 2022, 09:33
War Kant der Ansicht, dass der Umstand, dass der Tisch uns so und so "erscheint" eine Eigenschaft des Tischs selbst ist?
Natürlich nicht. Kant war der Ansicht, dass der Tisch so ist wie er ist. Dieses "so sein" nennt Kant das "Ding an sich", also das Ding wie es ist unabhängig von unserer Wahrnehmung.
Und nun wäre nur noch die Frage wie wir denn von diesem "Ding an sich" etwas wissen können. Und da kommt Kant zu dem Schluß, dass wir das nicht können, bzw dass es für uns keine Möglichkeit gibt sicher zu wissen, dass wir das "Ding an sich" erkennen. Und das liegt eben daran, dass wir eben nichts anderes haben als unsere Wahrnehmung. Die Dinge erscheinen uns immer so, wie sie uns gemäß unserer Wahrnehmung (das schliesst hier übrigens Denken mit ein) erscheinen müssen. Das "wie es uns erscheint" und das "wie es wirklich ist" kann durchaus identisch sein. Aber es gibt für uns keine Möglichkeit das sicher zu wissen.



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AufDerSonne
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Sa 22. Okt 2022, 11:28

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 19. Okt 2022, 09:33
War Kant der Ansicht, dass der Umstand, dass der Tisch uns so und so "erscheint" eine Eigenschaft des Tischs selbst ist?
Russell sagt, nur die unsere Sinnesdaten sind sicher.
Was Kant gesagt hat, weiß ich nicht.
Ich muss noch einmal lesen, was Russell sagt zur Erscheinung des Tisches. Also ob sie eine Eigenschaft der Tisches selbst ist.
So aus dem Bauch heraus würde ich sagen, die Erscheinung des Tischs ist keine Eigenschaft des Tischs.

Aber eines scheint mir langsam klar. Wir können die Dinge nicht ganz genau so wahrnehmen wie sie sind. Das dürfte unmöglich sein.
Zuletzt geändert von AufDerSonne am Sa 22. Okt 2022, 11:34, insgesamt 1-mal geändert.



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Jörn Budesheim
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Sa 22. Okt 2022, 11:29

@nwdm: Nimmt damit Kant nicht in Anspruch, dass er unsere Erkenntnisssituation so erkannt hat, wie sie an sich ist? Weiß er damit nicht mehr, als er laut eigener Auskunft wissen kann?




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Sa 22. Okt 2022, 11:39

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 22. Okt 2022, 11:29
@nwdm: Nimmt damit Kant nicht in Anspruch, dass er unsere Erkenntnisssituation so erkannt hat, wie sie an sich ist? Weiß er damit nicht mehr, als er laut eigener Auskunft wissen kann?
Du musst unterscheiden zwischen Empirie und analytischem Denken.
Kants Schluß in Bezug auf unsere Erkenntnissituation ist ein analytisch, logischer.
Kant unterscheidet das. Kant sagt nicht, dass wir gar nichts sicher wissen können.



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Jörn Budesheim
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Sa 22. Okt 2022, 11:47

Ist es denn eine analytische Erkenntnis, dass wir die Dinge, wie sie an sich selbst sind, nicht erkennen können? Folgt das logisch/begrifflich aus dem Begriff der Erkenntnis?

Und ist die Unterscheidung zwischen den Dingen, wie sie für uns sind und die Dingen wie sie an sich selbst sind, analytisch?




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Jörn Budesheim
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Sa 22. Okt 2022, 11:50

AufDerSonne hat geschrieben :
Sa 22. Okt 2022, 11:28
Ich muss noch einmal lesen, was Russell sagt zur Erscheinung des Tisches. Also ob sie eine Eigenschaft der Tisches selbst ist.
Ich weiß nicht viel über Bertrand Russell, aber soweit ich mich richtig entsinne, habe ich irgendwo eine Quelle, die besagt, dass er der Ansicht war, dass die Art und Weise, wie die Dinge erscheinen, Eigenschaften der Dinge selbst sind.




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Jörn Budesheim
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Sa 22. Okt 2022, 12:18

Obwohl der November naht, ist heute ja noch schönes Wetter, zumindest hier bei uns und so sitze ich gerade im Garten und schaue mich um.

Die Dinge im mittleren Skalenbereich, indem ich mich auch befinde, die sich mir hier gerade darbieten, die eine gemeinsame lebendige Welt bilden, sind allesamt nicht "an sich". Die gehören viel mehr zu einem komplexen System, dass aufeinander angewiesen ist, sich "selbst trägt" und durch viele komplizierte für mich nicht ganz durchschaubare Wechselwirkungen gekennzeichnet ist. Und ich befinde mich mitten unter diesen Dingen. Das ist sozusagen mein metaphysisches Zuhause. Mein Körper verdankt sich im übrigen auch dem evolutionären Prozess, wie der Baum neben mir.

In dieser Welt des Lebens ist vieles von dem, was man manchmal etwas abschätzig als "sekundäre Eigenschaften" bezeichnet, in Wahrheit oft sogar das Primäre, Lebensentscheidene ... Das "für uns" bzw "für andere" ist hier Teil des "an sich" (auch wenn ich diese Unterscheidung letztlich fragwürdig finde).




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Sa 22. Okt 2022, 12:18

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 22. Okt 2022, 11:47
Ist es denn eine analytische Erkenntnis, dass wir die Dinge, wie sie an sich selbst sind, nicht erkennen können?
Das ist nicht Kants Aussage. Kant sagt wir können nicht wissen (überprüfen) ob das so ist (Metaebene, Metawissen).
Es mag durchaus sein, dass wir Dinge erkennen wie sie wirklich sind. Aber wir können den Zweifel nicht ausräumen.
Folgt das logisch/begrifflich aus dem Begriff der Erkenntnis?
Es folgt u.a. aus der Annahme, dass wir endliche, imperfekte Wesen sind.
Und das halte ich auch für sehr plausibel. Du nicht?



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Jörn Budesheim
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Sa 22. Okt 2022, 13:13

Wir irrren uns oft und unser Nichtwissen ist groß, das sehe ich ganz genauso und auch die Begründung würde ich unterschreiben. Allerdings ist das keine analytische Erkenntnis. Zudem halte ich das für "an sich" wahr. Es kann hier meines Erachtens auch keinen vernünftigen Zweifel geben.




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Sa 22. Okt 2022, 14:34

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 22. Okt 2022, 13:13
Wir irrren uns oft und unser Nichtwissen ist groß, das sehe ich ganz genauso und auch die Begründung würde ich unterschreiben. Allerdings ist das keine analytische Erkenntnis. Zudem halte ich das für "an sich" wahr. Es kann hier meines Erachtens auch keinen vernünftigen Zweifel geben.
Für mich das logisch. Wenn unsere Wahrnehmung fehlbar ist, und es keine andere Möglichkeit gibt als Wahrnehmung durch Wahrnehmung zu überprüfen, dann folgt für mich daraus, dass wir nicht wissen (überprüfen) können ob wir die Dinge so erkennen wie sie wirklich sind.
Es wird ja dann das, was wir eigentlich wissen wollen schon vorausgesetzt.



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Nauplios
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Sa 22. Okt 2022, 18:19

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 22. Okt 2022, 11:29

Nimmt damit Kant nicht in Anspruch, dass er unsere Erkenntnisssituation so erkannt hat, wie sie an sich ist? Weiß er damit nicht mehr, als er laut eigener Auskunft wissen kann?
Wollte man "unsere Erkenntnissituation" rein als die empirische Situation eines in der Welt vorkommenden Subjektes verstehen, dann läge in der Tat ein Widerspruch vor, insofern diese "Erkenntnissituation" ein Ding wäre, von dessen An-sich Kant etwas weiß, das er doch gar nicht wissen kann, weil wir kein Ding an sich erkennen können. Ein performtiver Selbstwiderspruch.

"Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, sofern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt", KrV Einl. VII (168—Rc 83). Zu beachten ist, "daß nicht eine jede Erkenntnis a priori, sondern nur die, dadurch wir erkennen, daß und wie gewisse Vorstellungen (Anschauungen oder Begriffe) lediglich a priori angewandt werden oder möglich sind, transzendental (d. i. die Möglichkeit der Erkenntnis oder der Gebrauch derselben a priori) heißen müsse".

Es ist diese Unterscheidung von empirisch und transzendental, ohne die man tatsächlich einen Widerspruch hätte. "Die Eigenschaft „transzendental“ meint einen Zusammenhang mit der empirischen Erkenntnis von Gegenständen im Allgemeinen und in Absehung von den besonderen Erkenntnisvoraussetzungen eines spezifischen Gegenstands." (Link)

Ein transzendentales Prinzip ist "dasjenige, durch welches die allgemeine Bedingung a priori vorgestellt wird, unter der allein Dinge Objekte unserer Erkenntnis überhaupt werden können", Kritik der Urteilskraft Einl. V (II 17)

Diese "Erkenntnissituation" findet demnach gar nicht dort statt, wo es Dinge als Erscheinung oder Dinge an sich gibt. Transzendental (=überschreitend) meint gerade "jenseits" aller empirischen Erfahrung. Daß wir das Ding an sich nicht erkennen können, ist keine Erkenntnis am Ding an sich. Das wäre ein derart grober Schnitzer, den wir einem Denker wie Kant nicht zutrauen sollten. ;)




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Jörn Budesheim
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Sa 22. Okt 2022, 18:25

Ich habe die Zitatstelle mit Bertrand Russell jetzt gefunden. Sie stammt aus Markus Gabriels "Sinn und Existenz"
Markus Gabriel, in "Sinn und Existenz" hat geschrieben : Fregesche Sinne als Arten des Gegebenseins von Dingen an sich, ja als Eigenschaften von Dingen an sich zu verstehen, setzt voraus, Freges ohnehin nur angedeutete Erkenntnistheorie von ihren psychologistischen Resten zu befreien. Mark Johnston hat eine ganz ähnliche Strategie am epistemologischen Ende des Spektrums gewählt, indem er – ebenfalls in Anknüpfung an Freges Sinnbegriff – die Position verteidigt, dass wir keine »Produzenten von Präsenz (producers of presence)«, sondern vielmehr »Probesonden von Präsenz (samplers of presence)« seien, wie er sich ausdrückt.

Ich nähere mich dieser These vom hier entwickelten ontologischen Standpunkt aus. Gegenstände sind mit demjenigen identisch, was wahr über sie ist. Damit es überhaupt eine Pluralität an Wahrheiten über einen Gegenstand gibt, muss er unter Beschreibungen existieren. Dass wir Präsenz nicht hervorbringen, sondern vorfinden, ​bedeutet, dass wir imstande sind herauszufinden, unter welchen Beschreibungen Gegenstände existieren.

Russell vertritt in seiner Analyse des Geistes ein ganz ähnliches Modell, wobei er von »Empfindungen« spricht, was seiner Intention entgegen subjektivistisch klingt, aber nicht sein soll, denn »Empfindungen sind das, was der psychischen und der physischen Welt gemeinsam ist«.[14]

In die Richtung einer Sinnfeldontologie weist auch seine Rede von objektiven »Perspektiven«, »Aspekten« und »Erscheinungen« von Gegenständen, die nicht daraus resultieren, dass es auffassende Subjekte gibt. Er kommt dabei zu der Konklusion, dass wir Gegenstände als Erscheinungssysteme auffassen sollten:
rtrand Russell in "Die Analyse des Geistes" hat geschrieben : Anstatt hinter den verschiedenen Empfindungen derer, von denen wir sagen, daß sie den Tisch ansehen, eine unbekannte Ursache anzunehmen, können wir die Gesamtheit dieser Empfindungen (möglicherweise zusammen mit irgendwelchen anderen Elementen) als das ansehen, was der Tisch wirklich ist. Das will sagen, daß der Tisch, der sich ja den verschiedenen Beobachtern (wirklichen und möglichen) gegenüber neutral verhält, die Gesamtheit derjenigen Elemente ist, die man nach der bisherigen Auffassung als die verschiedenen »Ansichten« des Tisches von verschiedenen Standpunkten bezeichnen würde ...




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Jörn Budesheim
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Sa 22. Okt 2022, 19:30

Selbst einem Verteidiger Kant fällt es schwer, das Ganze einigermaßen gereimt darzustellen. Für mich ist die Rede von der "Unerkennbarkeit der Dinge an sich" ein innerer Widerspruch. Denn es beinhaltet ja die "Erkenntnis", dass es da etwas gibt, was erscheint, was wir nicht erkennen. Wenn wir aber die Dinge an sich selbst nicht erkennen können, dann auch nicht, dass wir sie nicht erkennen können.

Dass er mit den Kategorien, die er irgendeiner Art und Weise deduziert, keine Empirie betreibt, ist etwas anderes.
Herbert Schnädelbach hat geschrieben : [Kant] geht von der Rezeptivität als dem Vermögen des Bewusstseins aus, affiziert zu werden. Der Grund der Affektion kann nicht das Bewusstsein selbst sein, denn dann wäre alle Affektion Selbstaffektion, die es freilich auch gibt. Sofern also die Affektion nicht Selbstaffektion ist, ist es unvermeidlich, etwas Affizierendes zu unterstellen, und die kausale Deutung der Affektion als Wirkung externer, affizierender «Gegenstände, die unsere Sinne rühren« (B 1), erzeugt dann den Anschein, Kant habe das Kausalitätsprinzip auf verbotenes Gelände übertragen. ​Es dürfte schwer fallen, Kants Intentionen so umzuformulieren, dass man von der dinglichen und kausalen Redeweise gar keinen Gebrauch macht. Man kann seine Theorie wohl nur dadurch vor dem Vorwurf der Inkonsequenz und Widersprüchlichkeit bewahren, dass man auf der Differenz zwischen einer Deutung und einer Erkenntnis im genaueren Wortsinn besteht: Wo Kant glaubt, nicht ohne die erkenntnistheoretisch problematische Redeweise von Dingen an sich als den Ursachen der Erscheinungen auskommen zu können, ist immer daran zu erinnern, dass hier die Ausdrücke »Ding« und »Ursache« interpretierend verwandt werden und nicht im Sinne gegenständlicher oder gar empirisch gestützter Erkenntnis. Entscheidend ist allein, worum es dabei geht; was Kant mit seiner berühmten, aber missverständlichen Unterscheidung zwischen dem unerkennbaren Ding an sich und der Erscheinung auszudrücken versuchte, ist die Einsicht in die Endlichkeit der Vernunft, wenn es um Erkenntnis geht; sie ist vor allem anderen kritisch gemeint. Unerkennbarkeit der Dinge an sich – das markiert zunächst eine Grenze gegenüber dem naiven Realismus, der glaubt, die Dinge »einfach so« vor sich zu haben, und der die subjektiven Bedingungen vergisst, unter denen dies tatsächlich der Fall ist. Die Unerkennbarkeit der Dinge an sich markiert zugleich auch eine Grenze gegenüber der traditionellen Metaphysik, die bis zu Kant glaubte, man könne durch bloßes Nachdenken das Entscheidende über die Welt herausbekommen; das rein Intelligible ist aber kein Gegenstand unserer Erkenntnis. Mit der Rede vom Ding an sich als der intelligiblen Ursache der Erscheinungen wird drittens dem Idealismus ein Riegel vorgeschoben, denn wenn in den Erscheinungen nichts erschiene, was ​sich nicht darin erschöpft, bloß Erscheinung zu sein, wäre das Bewusstsein autonom und seine selbstproduzierte Vorstellungswelt »alles, was der Fall ist« ...




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Jörn Budesheim
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Sa 22. Okt 2022, 19:51

NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Sa 22. Okt 2022, 10:47
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 19. Okt 2022, 09:33
War Kant der Ansicht, dass der Umstand, dass der Tisch uns so und so "erscheint" eine Eigenschaft des Tischs selbst ist?
Natürlich nicht. Kant war der Ansicht, dass der Tisch so ist wie er ist. Dieses "so sein" nennt Kant das "Ding an sich", also das Ding wie es ist unabhängig von unserer Wahrnehmung ...
Ich bin auch der Ansicht, dass der Tisch so ist, wie er ist :) und zu diesem Sosein gehört auch, dass er uns braun erscheint. Das ist eine objektive und ganz und gar reale Eigenschaft des Tisches selbst.




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Sa 22. Okt 2022, 20:50

"Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, sofern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt", KrV Einl. VII (168—Rc 83)

"... sofern diese a priori möglich sein soll" - d.h. vor aller Erfahrung. Denkt man diesen Aspekt der Transzendentalität weg, rastet die transzendentale Erkenntnis wieder dort ein, wo sie nicht hingehört, nämlich auf der Ebene der Erkenntnis aus Erfahrung. Dann ergeben sich natürlich Widersprüche. Diese "transzendentale Erkenntnis" bewegt sich auf der Ebene der Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung. Sie ist aber selbst keine Erfahrung. Noch bevor überhaupt irgendein Gegenstand irgendwas affiziert, untersucht Kant die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung. Diese Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung kommen als Gegenstände von Erfahrung gar nicht in der Welt vor. Noch bevor der erste Gegenstand der Erfahrung vorkommt, kommen diese transzendentalen Strukturen vor, welche die Vernunft im Gespräch mit sich selbst offenlegt.

Es ist nicht so, daß da ein Gegenstand auftaucht und Kant fragen würde: wie konnten wir diesen Gegenstand erfahren? - Sondern bevor ein Gegenstand auftaucht findet die Transzendental-Philosophie heraus: unter welchen Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung kann ein Gegenstand überhaupt "auftauchen"?




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Sa 22. Okt 2022, 20:56

Man muß diese transzendental-logische Wende Kants nicht mitmachen. Aber ich finde, daß sie zum Verständnis Kants wenigstens einmal durchlaufen werden sollte. Andernfalls sehen wir in Kant einen philosophischen Wirrkopf, der voller Widersprüche ist, das ist klar.




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Jörn Budesheim
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Sa 22. Okt 2022, 21:08

Nauplios hat geschrieben :
Sa 22. Okt 2022, 20:50
Es ist nicht so, daß da ein Gegenstand auftaucht und Kant fragen würde: wie konnten wir diesen Gegenstand erfahren? - Sondern bevor ein Gegenstand auftaucht findet die Transzendental-Philosophie heraus: unter welchen Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung kann ein Gegenstand überhaupt "auftauchen"?
Aber das, wovon wir gerade reden, ist noch ein Schritt davor. Da, wo du bist, ist meiner Ansicht nach, das Ding an sich bereits investiert.

Und ich glaube natürlich nicht, dass Kant ein Wirrkopf war. Er war ohne jede Frage eine der überragenden Figuren der gesamten Philosophiegeschichte. Und um meine Sicht etwas zu untermauern, habe ich schließlich einen sehr wohlwollenden Kantinterpreten zitiert :)

Letztlich ging es - das sollte man nicht vergessen - um die Frage, ob Kant ein neuerer Realist avant la lettre war!




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Sa 22. Okt 2022, 21:19

Kant ein "neuerer Realist avant la lettre"?

Die Fragestellung läßt mich einigermaßen ratlos zurück, weil mich primär das Verständnis eines Gedankens, einer Textpassage interessiert und der entsprechenden Deutungen.




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Jörn Budesheim
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Nauplios hat geschrieben :
Sa 22. Okt 2022, 21:19
Kant ein "neuerer Realist avant la lettre"?

Die Fragestellung läßt mich einigermaßen ratlos zurück, weil mich primär das Verständnis eines Gedankens, einer Textpassage interessiert und der entsprechenden Deutungen.
Das ist der Ausgangspunkt:
Timberlake hat geschrieben :
Mi 19. Okt 2022, 04:13
Das "Mannigfaltige der Erscheinung (Kant) entspricht übrigens auf den I Punkt dem, was Markus Gabriel als die verschiedenen Perspektiven auf den Vesuv bezeichnet. Das mal so nebenbei, um deutlich zu machen, dass sein "Neuer Realismus" so neu nicht ist.
Daraufhin habe ich timberlake gefragt:
Jörn Budesheim hat geschrieben : War Kant der Ansicht, dass der Umstand, dass der Tisch uns so und so "erscheint" eine Eigenschaft des Tischs selbst ist?
Und nwdm hat geantwortet:
NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Sa 22. Okt 2022, 10:47
Natürlich nicht. Kant war der Ansicht, dass der Tisch so ist wie er ist. Dieses "so sein" nennt Kant das "Ding an sich", also das Ding wie es ist unabhängig von unserer Wahrnehmung.
...
... und hinzugefügt:
NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Sa 22. Okt 2022, 10:47
Und nun wäre nur noch die Frage wie wir denn von diesem "Ding an sich" etwas wissen können. Und da kommt Kant zu dem Schluß, dass wir das nicht können, bzw dass es für uns keine Möglichkeit gibt sicher zu wissen, dass wir das "Ding an sich" erkennen. Und das liegt eben daran, dass wir eben nichts anderes haben als unsere Wahrnehmung. Die Dinge erscheinen uns immer so, wie sie uns gemäß unserer Wahrnehmung (das schliesst hier übrigens Denken mit ein) erscheinen müssen. Das "wie es uns erscheint" und das "wie es wirklich ist" kann durchaus identisch sein. Aber es gibt für uns keine Möglichkeit das sicher zu wissen
Und für diese Kantinterpretation habe ich folgenden Einwand formuliert:
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 22. Okt 2022, 11:29
@nwdm: Nimmt damit Kant nicht in Anspruch, dass er unsere Erkenntnisssituation so erkannt hat, wie sie an sich ist? Weiß er damit nicht mehr, als er laut eigener Auskunft wissen kann?




Nauplios
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Sa 22. Okt 2022, 21:37

Ah, ich verstehe.

Gabriel - Neuer Realismus

These Timberlake: Dieser Realismus Gabriel'scher Provenienz hat seinen historischen Vorläufer in Kant.

Jörn Budesheim: ist diese These Timberlake haltbar angesichts des "Probirsteins" Tisch?

Danke für diesen Hinweis.




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