Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑ Sa 22. Okt 2022, 11:29
Nimmt damit Kant nicht in Anspruch, dass er unsere Erkenntnisssituation so erkannt hat, wie sie an sich ist? Weiß er damit nicht mehr, als er laut eigener Auskunft wissen kann?
Wollte man "unsere Erkenntnissituation" rein als die empirische Situation eines in der Welt vorkommenden Subjektes verstehen, dann läge in der Tat ein Widerspruch vor, insofern diese "Erkenntnissituation" ein Ding wäre, von dessen An-sich Kant etwas weiß, das er doch gar nicht wissen kann, weil wir kein Ding an sich erkennen können. Ein performtiver Selbstwiderspruch.
"Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, sofern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt", KrV Einl. VII (168—Rc 83). Zu beachten ist, "daß nicht eine jede Erkenntnis a priori, sondern nur die, dadurch wir erkennen, daß und wie gewisse Vorstellungen (Anschauungen oder Begriffe) lediglich a priori angewandt werden oder möglich sind, transzendental (d. i. die Möglichkeit der Erkenntnis oder der Gebrauch derselben a priori) heißen müsse".
Es ist diese Unterscheidung von empirisch und transzendental, ohne die man tatsächlich einen Widerspruch hätte. "Die Eigenschaft „transzendental“ meint einen Zusammenhang mit der empirischen Erkenntnis von Gegenständen im Allgemeinen und in Absehung von den besonderen Erkenntnisvoraussetzungen eines spezifischen Gegenstands." (
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Ein transzendentales Prinzip ist "dasjenige, durch welches die allgemeine Bedingung a priori vorgestellt wird, unter der allein Dinge Objekte unserer Erkenntnis überhaupt werden können",
Kritik der Urteilskraft Einl. V (II 17)
Diese "Erkenntnissituation" findet demnach gar nicht dort statt, wo es Dinge als Erscheinung oder Dinge an sich gibt. Transzendental (=überschreitend) meint gerade "jenseits" aller empirischen Erfahrung. Daß wir das Ding an sich nicht erkennen können, ist keine Erkenntnis am Ding an sich. Das wäre ein derart grober Schnitzer, den wir einem Denker wie Kant nicht zutrauen sollten.
