"... alles ziemlich brutale Männer ... und alle haben eine Moralphobie ... wovor fürchten sie sich denn genau?" (Lukas Meyer-Blankenburg)
"Sie fürchten sich vor allem, was ihre Privilegien bedrohen könnte und sie fürchten sich vor der Weltverbesserung ... und häufig sind es einfach Menschen, die sich von Entwicklungen überfordert fühlen und gestresst fühlen und dann entsprechende Symptome zeigen." (Jörg-Uwe Albig)
Die Rede ist von Männern, die "ganz allgemein mit der neuen Zeit nicht mehr klarkommen": Götz von Berlichingen, Niccolò Machiavelli, Al Capone, Donald Trump ...
Das klingt nach einem Buch, das ich gleich bestellen werde und in der nächsten Woche verschicken könnte - diesmal aber als Geschenk, Stefanie.
Wenn man es bei "Symptomen" und "Weltverbesserung" nicht belassen will, bietet sich beim Blick auf Moral Niklas Luhmann an, der in seiner Hegelpreis-Rede sagt: "Angesichts dieser Sachlage ist es die vielleicht vordringlichste Aufgabe der Ethik, vor Moral zu warnen."
Für Luhmann ist die "Begründung der Moral", die als Teilsystem der Gesellschaft keineswegs erledigt ist, sondern
Gegenstand der Theorie der Gesellschaft ist, ein "paradoxes Unternehmen", denn "alle Begründungsversuche" werden zu "Operationen, die Notwendigkeit suchen und Kontingenz erzeugen." (
Die Moral der Gesellschaft; S. 346)
Den "polemogenen Ursprung" der Moral hat Luhmann u.a. auch in
Die Realität der Massenmedien betont:
"Das, was als Realität nicht ausreichend zur Geltung kommt, wird als Moral angeboten, wird gefordert. Konsens ist danach besser als Dissens, Konflikte sollte man schlichten können (da es ohnehin nur um Werte geht), und der primär an Quantitäten orientierte Realitätsbezug (möglichst mehr, und nicht weniger, vom Guten) sollte durch die 'Sinnfrage' neutralisiert werden. Es sieht dann so aus, als ob es im Wesen der Moral läge, für Frieden, für Ausgleich, für Solidarität, für Sinn zu optieren. Das ist jedoch, historisch und empirisch gesehen, keineswegs der Fall. Es gibt keinerlei in der Moral selbst liegenden Gründe, nicht auch Kampf gegen Feinde, in-group und out-group Unterscheidungen, Dissens im Verhältnis zu andersartigen Auffassungen moralisch zu prämieren. Auch hier scheinen die Massenmedien die Art zu bestimmen, wie die Welt gelesen wird, und die moralischen Perspektiven dieser Beschreibung zuzuordnen. Die mit Vermißtheitsakzenten versehene Betonung von Konsens, Solidarität, Werten, Sinnsuche entsteht erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in einer Zeit der Massenpresse und der Vollinklusion der Unterschichten in die Literalität, als eine Art Pasteurisierung der Gesamtgesellschaft – oder dessen, was man dafür hält. Man könnte vermuten, daß dies penetrante Insistieren auf Moral im Zusammenhang steht mit der Codierung Information/Nichtinformation oder mit der einseitigen Präsentation von Formen, deren andere Seite, obwohl vorausgesetzt, nicht mitdargestellt wird; also mit dem Verschweigen der unaufgeregten Normalität; also mit der Paradoxie des im Sinn eingeschlossenen, aber als ausgeschlossen eingeschlossenen Anderen. Moral ist ja im normalen Umgang gar nicht nötig, sie ist immer ein Symptom für das Auftreten von Pathologien. Statt sich an Selbstverständlichkeiten zu orientieren, wählt die Kommunikation die Form der Moral als etwas, was zugleich Tatsache und Nichttatsache ist; als etwas, das ständig angemahnt werden muß; als etwas, das fehlt, und eben deshalb nicht nach innen oder außen zugeordnet werden kann. Ist der Übergang, ist die Ablenkung auf Moral einmal geschafft, läuft es wie von selbst, wie auf Rollen, manchmal zu schnell. Moral dient dann als eine Art Supplement zur Selektivität, das kompensatorisch im Sinne Odo Marquards, also 'statt dessen' angeboten wird. Das könnte erklären, daß die Moral und selbst ihre Reflexionsform, die Ethik, heute einen altgewordenen, zerfurchten Eindruck macht und sich offensichtlich nur noch für pathologische Fälle interessiert. Entsprechend summieren sich Einzelfälle unter Stichworten wie 'Korruption', und man kann nur bestätigen, was Jean Paul schon vor langem vermutet hatte: 'Noch immer können Engel fallen und die Teufel sich vermehren'." (Niklas Luhmann;
Die Realität der Massenmedien; S. 98f)
Moral als Teilsystem des Kommunikationssystems Gesellschaft soll nicht zum Verschwinden gebracht werden. Im Gegenteil, ihre Funktion soll offengelegt werden. Die Gesamtgesellschaft läßt sich infolge ihres Differenzierungsgrades nicht mehr durch Moral integrieren. Die Teilsysteme (Politik, Wirtschaft, Wissenschaft ...) sind füreinander Umwelt. Luhmann spricht sogar von einer "Ebene höherer Amoralität" (
Die Moral der Gesellschaft; S.259) Die Ausdifferenzierung der Teilsysteme hat zur Folge:
"Man kommuniziert mit Amtsinhabern, Verkäuferinnen, Büroangestellten oder Lehrerinnen - und diese Kommunikation gelingt, gerade weil man sie nicht als Personen verstehen muss. Gerade weil die Seele des Anderen für mich eine Blackbox bleibt, kann ich ‘sozial’ verstehen, was er mir mitteilt. Der Andere ist kein Seelenbruder, sondern eine Kommunikationsadresse." (Norbert Bolz;
Ratten im System. Niklas Luhmann und die Grenzen der Aufklärung; S. 64f)
Soweit mal ein paar Gedanken zum Moralbegriff beim Bielefelder Al Capone.