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Bevor ich ein wenig auf das Buch eingehe, hier zunächst ein Interview, das "ZEIT CAMPUS" vor zwei Jahren mit der Autorin führte:
Für Weisse fühlt sich Gleichberechtigung nach Unterdrückung an
Darin sagt Alice Hasters u.a.:
"Mir war es wichtig, dass die Menschen durch mein Buch verstehen, dass Rassismus überall in unserer Gesellschaft und in jeder Person vorhanden ist."
"Natürlich gibt es hinsichtlich des Gewaltausmaßes oder der Intention Unterschiede, also zwischen nicht böse gemeinten Handlungen und rechtsextremen gewaltvollen Übergriffen. Doch es gibt eben auch viel Spielraum dazwischen. Und alles entspringt dem gleichen Denken, dass weiße Menschen mehr wert sind als schwarze."
Rassismus ist "überall in unserer Gesellschaft" vorhanden und "in jeder Person". - Wenn die Autorin von ihren Alltagserfahrungen spricht, dann hat das natürlich eine Authentizität, die ich nicht in Zweifel ziehen will. Es schreibt eine Journalistin, keine Philosophin, keine Soziologin. Das Buch ist ein persönlicher Erfahrungsbericht. Wenn man etwas beobachtet, muß man Unterscheidungen treffen. In der Sprache der Systemtheorie heißt das:
"Beobachtung ist die Einheit der Differenz von Unterscheidung und Bezeichnung. Sie ist eine unterscheidende und das Unterschiedene zugleich bezeichnende Operation des Beobachters. Ein System, welches beobachtet, kann nur etwas bezeichnen, wenn es zuvor das Bezeichnete von etwas anderem unterschieden hat. Dies setzt die Fähigkeit von Wahrnehmung voraus." (
Quelle)
Eine solche Unterscheidung könnte sein rassistische Person/nicht-rassistische Person. Ein System (etwa ein Bewußtsein) kann nur etwas bezeichnen (rassistische Person), wenn es zuvor das Bezeichnete von etwas anderem (nicht-rassistische Person) unterschieden hat. Dieses "Andere" - wie immer man es benennen will, ob nun "nicht-rassistische Person" oder "aufgeklärte Person" oder wie auch immer - kann auch beobachtet werden; dann muß die zweite Seite der Unterscheidung bezeichnet werden. Ohne Unterscheidung und Bezeichnung keine Beobachtung.
Mit welcher Unterscheidung beobachtet man, daß "Rassismus (...) in jeder Person vorhanden ist"? - Die Beobachtung, daß Rassismus in jeder Person vorhanden ist, "beobachtet" mit einer Unterscheidung, die nichts unterscheidet. Es gibt gar keine "unterscheidende und das Unterschiedene zugleich bezeichnende Operation des Beobachters". Was wird unterschieden, wenn nichts unterschieden wird? - Ein Phänomen wie Rassismus kann nicht beobachtet werden, wenn es "überall in unserer Gesellschaft" und "in jeder Person" vorkommt. Um das beobachten zu können, bräuchte es eine Unterscheidung von "Gesellschaft" und "etwas anderem als Gesellschaft" bzw. eine Unterscheidung von "jede Person" und "etwas anderem als jede Person".
Zugespitzt: Wenn es "überall" Rassismus gibt, gibt es nirgendwo Rassismus, denn "überall" ist nur beobachtbar außerhalb und von anderswo eines "überall", mithin von nirgendwo.
"Überall" und "in jeder Person" können nur "Geschmacksverstärker" sein, welche die Dramatik des Befundes vor Augen führen sollen. Diese Dramatik, die auf authentische Erfahrungen basiert, will ich gar nicht in Zweifel ziehen. Ich kann sie durchaus annehmen, auch beherzigen. Mein Einwand ist auch nur ein milder, aber das ist mir beim Lesen des Interviews und der ersten Seiten im Buch aufgefallen.