Argumentative Bringschuld (Beweislast)

Argumente gehören zum Kernbestand der Philosophie. Die Argumentationstheorie ist derjenige Bereich Philosophie, der sich mit der Form und dem Gebrauch von Argumenten befasst.
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Alethos
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Mo 18. Sep 2017, 08:05

Herr K. hat geschrieben :
So 17. Sep 2017, 23:46
Ich persönlich habe nun in meiner nicht so kurzen Foren-Erfahrung schlechte Erfahrungen mit angeblichen common-sense-Auffassungen gemacht. Ich habe daraufhin inzwischen so eine Art internen Alarm-Mechanismus entwickelt, der spricht u.a. auf Schlüsselwörter wie "selbstverständlich", "wie jeder weiß", "bekanntlich" und "xy ist common-sense" an, da bimmelt dann die Alarmglocke in mir. Sowas deutet nach meiner Erfahrung meist auf mangelnde Argumente hin, daher lohnt es sich oft, an der Stelle dann noch etwas nachzubohren.
Das halte ich für einen gesunden sokratischen Reflex. Auch ihm galten Aussagen der Art Gerechtigkeit ist x oder Tugend ist x als suspekt, insofern man über nichts ein Urteil abschliessend bilden könne. Er hat seine Diskussionspartner ja teilweise zur Verzweiflung getrieben. Und das ist meines Erachtens sicherlich nicht falsch, dass man sich über so genannte "gesicherte Tatsachen" in Zweifel bringt. Es ist ja ein produktiver Zweifel. Es beugt auch einer gewissen Fortschrittshemmung der eigenen Positionen vor, indem man sie in einem falsifizierbaren Status hält. Dadurch wird Wahrheit vom Sockel der Unumstösslichkeit gestossen und in einen Modus der Potenzialität versetzt.

Nun sehe ich aber dort die Schwierigkeit, wo diese Potenzialität zum Modus vivendi des philosophischen Diskurses erhoben wird. Wenn der Inhalt des philosophischen Austausches sich darin erschöpft festzustellen, dass der Wahrheitsgehalt unserer Aussagen stets nur relativ ist und der kleinste gemeinsame Nenner heisst: Ich weiss, dass ich nichts weiss , dann wird der Boden relativ hart und trocken, auf welchem etwas Gedeihliches wachsen könnte. Es wird insbesondere dann schwierig, wenn aus dem Ich weiss, dass ich nichts weiss folgt, also behaupte ich, was immer ich möchte. Denn, dass wir nicht zu immer gültigen Wahrheiten vordringen können, bedeutet ja nicht, dass wir keine praktikablen Wahrheiten hätten. Die Betonung liegt hier auf dem Begriff praktikabel.
Herr K. hat geschrieben :
So 17. Sep 2017, 23:46
Nun hängt es von den jeweiligen Diskutanten ab, wo man eine Diskussion beginnt, bzw. was gemeinsam akzeptiert ist und das kann sehr unterschiedlich sein. Daher ist es mE merkwürdig zu sagen, man werde "auf Feld eins zurückgeworfen", denn das impliziert irgendwie eine allgemeine/umfassende Schritt-für-Schritt-Erkenntnis, d.h. alte Erkenntnisse, die irgendwann für ewig abgehakt seien, eine geradlinige Entwicklung der Erkenntnis. Sowas kann es aber mE nicht geben - nicht allgemeingültig. Und auch individuell gesehen wäre es mE besser, wenn man bereit wäre, auch als gesichert angenommen Erkenntnisse bei guten Argumenten zu überdenken.
Ich halte Erkenntnis für nichts derartiges, das sich Schritt für Schritt einstellt, gleich einem Eile-mit-Weile-Spiel :) Aber es ist doch schon so, dass wir jedes Mal ganz von vorne anfangen müssen, wo wir über den Wahrheitswert der einfachen Aussage "Ein Elefant ist ein Insekt" debattieren.



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Herr K.
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Mo 18. Sep 2017, 23:46

An allem gleichzeitig zu zweifeln ist mE erstens irrational und zweitens wäre dann gar kein Gespräch möglich. Auch Zweifel müssen begründet werden.

Ich habe mal gelesen - weiß aber nicht mehr, wo - dass ein Sachbuchautor im Vorwort zu seinem Buch sinngemäß dies schrieb: 'jeder einzelne Satz in diesem Buch könnte falsch sein - aber es kann nicht sein, dass alle gleichzeitig falsch sind'. Das hat mir gut gefallen.

Auf Dein Bild mit den wackelnden Fundamenten übertragen: wir können mehrere davon betrachten und in Zweifel ziehen, aber nie alle auf einmal.

Nun mag es Behauptungen geben, die so absurd erscheinen, dass niemand auch nur einen zweiten Gedanken daran verschwendet. Aber in dem Falle gäbe es ja dann auch gar keinen Disput, das regelte sich in einem solchen Falle von alleine.

Das Problem hier in diesem Thread ist vermutlich, dass jedem andere Beispiele konkreter Diskussionen vorschweben. Mir schwebt sowas vor - was ich schon öfter so oder ähnlich erlebt habe:

A: Es gibt keinen freien Willen, weil die Welt a) entweder determiniert ist - und Determinismus und Freiheit schließen sich aus oder es b) Zufälle gibt und Zufälle können keine Freiheit herstellen.
K: Wieso schließen sich Determinismus und Freiheit aus?
A: Das meinen so gut wie alle!
K: Das ist kein Argument.
A: Aber alle meinen das, ich habe schon mit vielen darüber gesprochen!
K: Aber Du brauchst ein Argument.
A: Aber wenn das doch alle meinen!

Hört sich vielleicht merkwürdig an, aber ich habe das tatsächlich so schon mehrfach erlebt. Passiert nicht nur Leuten in Foren, kann man auch in diversen Büchern über den freien Willen finden - z.B. in Sam Harris - Free Will.

Dieses Schema läuft so ab: jemand spinnt sich im Lehnstuhl völlig grundlos die Meinung zusammen, dass die meisten anderen Leute xy meinten (wobei xy ziemlich idiotisch ist). Und ist dann dermaßen davon überzeugt, dass das stimmt, (dass die meisten anderen Leute tatsächlich xy meinen), dass ihn kein rationales Argument mehr erreicht. Nein, die meisten anderen Leute sind völlig bekloppt, weil sie ja das idiotische xy glauben und die müssen jetzt mal aufgeklärt werden. Dass aber ihre Alarmglocken in dem Falle, wenn xy völlig idiotisch ist, in voller Lautstärke läuten sollten, kommt ihnen gar nicht erst in den Sinn. Denn es ist ziemlich unwahrscheinlich, (kommt ziemlich selten vor), dass die meisten anderen Leute Idioten sind, man selber aber nicht - meist ist es dann so, dass man selber was falsch verstanden hat.

Dieses Muster treffe ich öfter mal an, Strohmänner zu bauen bezüglich anderer Positionen scheint eine beliebte Übung zu sein. Eine Faustregel für mich ist die: wenn jemand sagt, Position abc behaupte xy und xy sei bekloppt und abc deswegen falsch, dann schaue ich mir die fragliche Position lieber erst selber mal an. Oft stellt sich dann heraus, dass abc mitnichten xy behauptet.

Aber na gut, ich bin vielleicht auch von Natur aus ein ungläubiger Thomas, ich zweifele gerne mal was an. Ich hatte z.B. mal eine Diskussion, die lief ungefähr so ab:

A.: Frauen sind benachteiligt, z.B. arbeiten viele Frauen in Pflegeberufen und Tätigkeiten in Pflegeberufen werden unterdurchschnittlich bezahlt!
K.: Ist das so? Woher weißt Du das?
A.: Weiß doch jeder, dass das so ist!
K. (recherchiert ein bisschen und findet heraus, dass das nicht stimmt)
K.: Sieh mal, ich habe ein bisschen recherchiert, hier und dort findest Du die Gehälter in Pflegeberufen z.B. in Krankenhäusern und Kindergärten und dort die Gehälter von ausbildungsmäßig vergleichbaren Berufen, z.B. im kaufmännischen oder handwerklichen Bereich. Die unterscheiden sich nicht wesentlich, es stimmt also nicht, dass in Pflegeberufen unterdurchschnittlich bezahlt wird.
A.: Oh, naja, aber ich finde, dass Leute, die in Pflegeberufen besser bezahlt werden sollten als Leute in anderen Berufen, weil Leute in Pflegeberufen wichtigere Dinge tun.
K.: öhm




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Herr K.
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Di 19. Sep 2017, 00:09

Aus dem Artikel in der Welt geht hervor, dass sich Beschäftigte in Pflegeberufen unterbezahlt fühlen, mehr nicht. Dass die Welt daraus in der Schlagzeile was anderes macht, könnte einem durchaus auffallen. Aber naja, viele Menschen lesen vielleicht nur die Überschriften und bilden danach ihre Meinung und so kommt es dann zu solchen urbanen Mythen.




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Herr K.
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Di 19. Sep 2017, 01:03

Tommy hat geschrieben :
Di 19. Sep 2017, 00:16
Ich denke Dein Gesprächspartner hatte schon recht: Pflegepersonal (vor allem diejenigen die die harte körperliche Arbeit machen) wird schlecht bezahlt. Was eigentlich ein Unding ist. Es geht um den Dienst am Menschen.
Ich erinnere mich nun wieder: der fragliche Geprächspartner warst Du. :D

Lies doch nun einfach mal selber nochmal nach, was Du zitiert hast. Altenpfleger verdienen in der Tat unterdurchschnittlich schlecht, aber das gilt nicht für die anderen Pflegeberufe. Und dass Teilzeitbeschäftigte weniger verdienen als Vollzeitbeschäftigte - nun ja, das scheint mir nicht ungewöhnlich zu sein, das ist wohl in jeder Branche so und eine Ungerechtigkeit kann ich darin nun nicht erkennen.

Und lediglich ein Durchschnittseinkommen (xy Euro) zu benennen besagt schlicht gar nichts über das Verhältnis zu anderen vergleichbaren Berufen mit vergleichbarer Ausbildung.,

Auf den Fachkräftemangel im Pflegebereich hinzuweisen ist hier übrigens ein Red Herring, eine Nebelkerze.




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Jörn Budesheim
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Di 19. Sep 2017, 19:32

Wenn ihr beiden es wollt, dann kann ich diesen Strang morgen in einen neuen Tread auslagern?!




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Herr K.
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Di 19. Sep 2017, 21:29

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 19. Sep 2017, 19:32
Wenn ihr beiden es wollt, dann kann ich diesen Strang morgen in einen neuen Tread auslagern?!
Wegen mir nicht, mein Diskussionsbedarf bezüglich Pflegekräften ist gedeckt, ich habe dazu bereits gesagt, was ich sagen wollte.




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Alethos
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Mi 20. Sep 2017, 00:20

Beweislast.

Lastet deine Wahrheit
der andren vieles an
Verschaffe dir die Klarheit
ob sie denn gelten kann

Denn wiegen die Beweise
die Fragen nirgends auf
bist du wohl nicht der Weise
und keiner nimmts in Kauf



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Jörn Budesheim
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Mi 20. Sep 2017, 06:16

Der Begriff Beweislast kommt, wie so viele Begriffe in der Philosophie, aus dem juristischen. Z.b. muss man vernünftigerweise nicht die eigene Unschuld beweisen, sondern im Gegenteil die Schuld muss bewiesen werden. Wer kennt sich aus? Welche andere Verwendung gibt es im juristischen Bereich? Und wie könnte man das auf die Fragestellung, die hier verhandelt wird, beziehen?




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Jörn Budesheim
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Mi 20. Sep 2017, 06:20

[offtopic]
Herr K. hat geschrieben :
Mo 18. Sep 2017, 23:46
Ich habe mal gelesen - weiß aber nicht mehr, wo - dass ein Sachbuchautor im Vorwort zu seinem Buch sinngemäß dies schrieb: 'jeder einzelne Satz in diesem Buch könnte falsch sein - aber es kann nicht sein, dass alle gleichzeitig falsch sind'. Das hat mir gut gefallen.


Ähnliches habe ich bei Rorty und Davidson schon gelesen. Bei Davidson gehört es zwingend zu seiner holistischen Auffassung. Und bei Rorty erinnere ich mich, dass er es an einem witzigen Beispiel demonstriert hat. Er meinte jeder einzelne Dollarschein könnte falsch sein, aber es können unmöglich alle falsch sein :)

[/offtopic]




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Stefanie
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Mi 20. Sep 2017, 08:11

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 20. Sep 2017, 06:16
Der Begriff Beweislast kommt, wie so viele Begriffe in der Philosophie, aus dem juristischen. Z.b. muss man vernünftigerweise nicht die eigene Unschuld beweisen, sondern im Gegenteil die Schuld muss bewiesen werden. Wer kennt sich aus? Welche andere Verwendung gibt es im juristischen Bereich? Und wie könnte man das auf die Fragestellung, die hier verhandelt wird, beziehen?
Es gibt im Privatrecht ebenso Beweislastregelungen. Vereinfacht dargestellt:
Grundsätzlich ist so, dass derjenige, der was will- z.B. Schadensersatz von A, weil der im die Scheibe eingeworfen hat- beweisen, dass A ihm die Scheibe eingeworfen hat. Der Kläger muss den Sachverhalt, auf den er sich beruft, beweisen.

Interessant wird es in Fällen der sog. Beweislastumkehr. Insbesondere in einem Fall, den wahrscheinlich jeder schon mal gehört hat, aus dem Straßenverkehr den Satz: "Wer hinten drauf fährt, ist schuld". Da ist was dran.
A fährt B hinten in sein Auto. A will nicht zahlen, B will Schadensersatz und verklagt A. Nach der grundsätzlich Regelung müsste B jetzt beweisen, dass A ihm ohne Gründe, die das rechtfertigen können, also schuldhaft, hinten in sein Auto gefahren ist.
Jetzt kommt der Anscheinsbeweis (Beweis des ersten Anscheins) zum tragen: Es wurde durch die Rechtsprechung festgestellt, dass in der überwiegenden Mehrheit solcher Fälle, derjenige Schuld ist, der dem anderen hinten drauf gefahren ist. Es ist der Regelfall, dass derjenige, der hinten drauf fährt, schuld hat. In einem solchen Fall muss der Geschädigte nicht beweisen, dass A Schuld an dem Auffahrunfall hatte. Sagt aber nun A: Moment, ich konnte nichts dafür, denn B hat bei Grün gebremst (Beweisphoto), also wenn eine Abweichung von dem Regelfall vorliegt, diese auch noch nachgewiesen kann, geht die Beweislast wieder zurück zum Geschädigten.

Das hatte ich die ganze Zeit schon im Kopf, wenn es um die Frage geht, bei wem die Beweislast liegt, wenn jemand eine These in den Raum wirft, die offensichtlich zunächst von der "Regel" abweicht. Er hat dann die Beweislast (also die Bringschuld), darzulegen, dass dem so ist, wenn ihm oder ihr das gelingt, muss die andere Seite zum Beweis antreten.



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Jörn Budesheim
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Mi 20. Sep 2017, 10:13

Danke Stefanie!

Dass Beweislasten verteilt werden, bedeutet demnach keineswegs so etwas wie eine Vorverurteilung, finde ich. Mit anderen Worten: damit ist nicht schon gesagt, du bist im Recht/Unrecht - ansonsten wäre das Verteilen der Lasten ja auch ganz sinnlos :-)




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Alethos
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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 20. Sep 2017, 10:13
bedeutet demnach keineswegs so etwas wie eine Vorverurteilung
Demnach mag dies eindeutig so sein. Wir sprechen von guten juristischen Gründen für keine Vorverurteilung. Aber hierbei handelt es sich ja lediglich um eine formaljuristische Komponente. Ob diese Mechanik so telquel auf den Bereich der Philosophie übertragen werden kann, ist mindestens fraglich.



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Mi 20. Sep 2017, 11:08

Die Beweislast liegt jetzt bei denen, die behaupten, Beweislasten würde Wahrheitswerte im Vorfeld bereits festlegen :-)




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Tarvoc
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Mi 4. Okt 2017, 17:38

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 20. Sep 2017, 11:08
Die Beweislast liegt jetzt bei denen, die behaupten, Beweislasten würde Wahrheitswerte im Vorfeld bereits festlegen :-)
Ich glaube, sowas behauptet auch niemand wirklich. Es ist z.B. schon richtig, dass die Abwesenheit von Belegen für die Existenz von etwas noch kein Beweis für die Nichtexistenz dessen darstellt. Die Beweislast liegt vielmehr genau deshalb auf der Seite der Existenzbehauptung, weil sich Nichtexistenz im hier gemeinten Sinne überhaupt nicht beweisen und eigentlich noch nicht mal aussagen lässt. Deshalb verfängt das Beispiel mit Autos als Illusion nicht. Jemand, der Autos als Illusionen bezeichnet, sagt nicht, dass Autos nicht existieren, sondern dass Autos als etwas anderes existieren als sie zu sein scheinen. Der Atheismus z.B. auch eigentlich gar keine prädizierende Aussage über Gott (weswegen er auch im Grunde mit einer streng durchgeführten negativen Theologie zusammenfällt), und wer keine Aussage trifft, muss natürlich auch keine beweisen. Wenn ich im hier relevanten Sinne behaupte, dass etwas nicht existiert, ist das logischerweise keine Prädikation eines Gegenstandes (denn dieser ist ja gerade nicht gegeben!), sondern eine Aufforderung an die Gegenseite, den Gegenstand vorzuzeigen, damit klar ist, worauf man überhaupt referiert. Dass man nicht das Nicht-Sein eines Gegenstands, der gar nicht ist, vorzeigen kann, sollte klar sein.

(Natürlich gibt es verschiedene Verwendungen von Nichtexistenz-Aussagen. Ich kann z.B. behaupten, dass Aragorn nicht existiert, und damit meinen, dass er eine Romanfigur ist und kein Mensch aus Fleisch und Blut. Dass Gott als literarische Figur existiert, bestreitet wohl niemand. Aber aus der Existenz einer literarischen Figur leiten sich z.B. eher keine Argumente zu Moralfragen ab.)

Der Punkt bei der ganzen Frage nach der Beweislast ist der, dass man mit einem Argument immer versucht, die Gegenseite zu überzeugen. Bei der Geschichte mit der Menschenwürde war ja die Sachlage so, dass die ontologische Existenz der Menschenwürde zu einem Argument in einem moralischen Diskurs wurde. Wenn jemand also nicht glaubt, dass etwa Gott wirklich existiert, dann können ihn auch sämtliche aus der Gottesbehauptung abgeleiteten Begründungen in Moralfragen nicht überzeugen. Wenn z.B. Person A Person B davon überzeugen will, dass ihre Argumente in Moralfragen zwingend sind, und Person A's Argument darin besteht, dass Menschenwürde nicht nur eine rechtlich-moralische Zuschreibung, sondern eine gegenständliche Wirklichkeit ist, Person B aber von dieser Prämisse schlicht nicht überzeugt ist, dann hat natürlich Person A Person B zu überzeugen und nicht umgekehrt. Man kann überhaupt niemanden davon überzeugen, nicht überzeugt zu sein, weil gar nicht klar ist, was das überhaupt heißen sollte. Der Punkt ist der, dass man trivialerweise nur für eine Überzeugung, die man hat, Belege anführen können muss, aber nicht für eine, die man nicht hat.



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Mi 4. Okt 2017, 18:46

Nur kurz, in den nächsten Tagen (hoffentlich) mehr. Das Beispiel mit dem Auto hatte eine ganz andere Funktion. Es zeigt einfach, dass Existenzaussagen nicht immer beweisbedürftig sind. Wenn sich irgendjemand in irgendeinem Argument in den Prämissen auf die Existenz von Autos bezieht, wird man unmöglich von ihm verlangen dürfen, dass er deren Existenz zu beweisen habe. In diesem Fall ist es offensichtlich, dass der AutoSkeptiker die Beweislast trägt. Er muss dann irgendwie plausibel machen, dass die Rede von Autos verfehlt, fragwürdig oder sonst was ist.

So liegen die Dinge meines Erachtens mit der Würde auch.

Du hast an irgendeiner Stelle darauf hingewiesen, dass du Atheist bist. Das geht mir genauso. Da wir in diesem Punkt einig sind, brauchen wir uns auch nicht weiter um Gottesbeweise Gegenbeweise oder dergleichen mehr scheren. Ich schlage vor, das Thema Gott einfach ad acta zu legen.

Zu glauben, dass Menschen eine zu schützende und unantastbare Würde haben, hat für mich ungefähr denselben Status wie zu behaupten, dass sie geistreich sein können, manchmal Witze machen, in Verlegenheit zu bringen sind, anmutig sind und ähnliches. Ich weiß nicht, ob man auf eine witzige Bemerkung mit dem Finger zeigen kann, aber ich glaube es tut einfach nichts zur Sache :) denn ganz unabhängig davon, kommt all das in der Welt vor.




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Tarvoc
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Mi 4. Okt 2017, 21:57

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 4. Okt 2017, 18:46
Das Beispiel mit dem Auto hatte eine ganz andere Funktion. Es zeigt einfach, dass Existenzaussagen nicht immer beweisbedürftig sind.
Das ist aber falsch. Die Behauptung, dass Autos existieren, ist sehr wohl beweisbedürftig, und der einzige Grund dafür, dass du mir das nicht beweisen musst, liegt darin, dass ich die Beweise schon kenne.

Nochmal: Die Forderung nach einem Beleg oder Beweis für eine Existenzbehauptung ist nicht selbst eine Behauptung. Wer gar keine Behauptung macht, kann nichts begründen und muss auch nichts begründen. Wer hingegen versucht, eine Behauptung, die er gemacht hat, argumentativ zu verteidigen, will die Gegenseite überzeugen und nicht nur sich selbst bestätigen (jedenfalls wenn er diskursiv redlich ist). Der Versuch der Verschiebung des Begründungszwangs an die zu überzeugende Gegenseite ist daher ein Eingeständnis, dass man keine ausreichenden Argumente oder Begründungen anführen kann.
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 4. Okt 2017, 18:46
Wenn sich irgendjemand in irgendeinem Argument in den Prämissen auf die Existenz von Autos bezieht, wird man unmöglich von ihm verlangen dürfen, dass er deren Existenz zu beweisen habe. In diesem Fall ist es offensichtlich, dass der AutoSkeptiker die Beweislast trägt. Er muss dann irgendwie plausibel machen, dass die Rede von Autos verfehlt, fragwürdig oder sonst was ist. So liegen die Dinge meines Erachtens mit der Würde auch.
Nein, so liegen die Dinge mit der Würde nicht. Der Beweis, dass es Autos gibt, ist lächerlich leicht zu führen. Wenn das bei der Menschenwürde auch so wäre, warum führt ihr ihn dann nicht einfach?
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 4. Okt 2017, 18:46
Du hast an irgendeiner Stelle darauf hingewiesen, dass du Atheist bist. Das geht mir genauso. Da wir in diesem Punkt einig sind, brauchen wir uns auch nicht weiter um Gottesbeweise Gegenbeweise oder dergleichen mehr scheren. Ich schlage vor, das Thema Gott einfach ad acta zu legen.
Ich sehe nicht, warum ich mich darauf einlassen sollte. Das Thema ist instruktiv, weil es sich mit der Menschenwürde buchstäblich genauso verhält wie mit Gott. In beiden Fällen wird es abgelehnt, auch nur die Kriterien dafür offenzulegen, wie man die Existenz überhaupt feststellt, geschweige denn diese Feststellung selbst anzutreten und auszubuchstabieren, und in beiden Fällen wird versucht, die Beweislast umzukehren. Selbst die psychologischen Reaktionen der jeweiligen Gläubigen, wenn sie mit Skepsis konfrontiert werden, sind ähnlich (Empörung darüber, dass angeblich Selbstverständliches angezweifelt wird, auf der einen Seite, und Panik vor dem vollständigen Zusammenbruch aller moralischen Werte auf der anderen Seite).
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 4. Okt 2017, 18:46
Zu glauben, dass Menschen eine zu schützende und unantastbare Würde haben, hat für mich ungefähr denselben Status wie zu behaupten, dass sie geistreich sein können, manchmal Witze machen, in Verlegenheit zu bringen sind, anmutig sind und ähnliches. Ich weiß nicht, ob man auf eine witzige Bemerkung mit dem Finger zeigen kann, aber ich glaube es tut einfach nichts zur Sache :)
Stimmt, tut es nicht. Darüber, ob man im Einzelfall eine bestimmte Bemerkung witzig findet oder nicht, kann man ja noch streiten. Das ist ein Streit über die Prädikation. Aber niemand wird bestreiten, dass es Bemerkungen gibt, die zumindest von manchen Menschen für witzig gehalten werden. Damit ist der Begriff für die hier relevanten Zwecke schon hinreichend bestimm. Du willst mir verklickern, dass du zu einem Begriff, zu dem du die Kriterien nicht angeben kannst, sie auch nicht angeben musst, nur weil es auch andere Begriffe gibt, deren Kriterien wir üblicherweise anwenden, ohne sie zu reflektieren. Das ist aber Quatsch. Was eine witzige Bemerkung ist und wie man sie identifiziert, kann man erklären. Bei der Menschenwürde konntest du das bisher noch nicht. Jedenfalls nicht in dem selben Sinne. (Dass die Menschenwürde als Begründungsfigur innerhalb moralischer und rechtlicher Diskurse existiert, wird ebensowenig bestritten wie dass Gott als literarische Figur in der Bibel vorkommt.)



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Tarvoc hat geschrieben :
Mi 4. Okt 2017, 21:57
Nein, so liegen die Dinge mit der Würde nicht. Der Beweis, dass es Autos gibt, ist lächerlich leicht zu führen. Wenn das bei der Menschenwürde auch so wäre, warum führt ihr ihn dann nicht einfach?
Wie geht denn der Beweis mit den Autos?



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Tosa Inu hat geschrieben :
Mi 4. Okt 2017, 22:52
Tarvoc hat geschrieben :
Mi 4. Okt 2017, 21:57
Nein, so liegen die Dinge mit der Würde nicht. Der Beweis, dass es Autos gibt, ist lächerlich leicht zu führen. Wenn das bei der Menschenwürde auch so wäre, warum führt ihr ihn dann nicht einfach?
Wie geht denn der Beweis mit den Autos?
Zum Beispiel indem ich dir Autos zeige. Wenn Jörn Budesheim mir die Menschenwürde in dem Sinne zeigen könnte, in dem ich jemandem ein Auto zeigen kann, würden wir diese Diskussion gar nicht führen.

(Wir würden dann vielleicht eine ganz andere Diskussion führen, aber nicht diese.)



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Tarvoc hat geschrieben :
Mi 4. Okt 2017, 23:20
Zum Beispiel indem ich dir Autos zeige.
Okay, sowas in der Art hatte ich mir gedacht.

Nun gibt es aber Leute, die alles bezweifeln und philosophische Szenarien, die das ebenso tun.
Jörn wollte wohl auf den Punkt hinaus, dass derjenige, der die unplausiblere Variante vertritt, in der Bringschuld ist.
Das wäre der Fall, wenn Du mir Autos zeigst und ich behaupte, dies sei ein Komplott.



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Mi 4. Okt 2017, 23:31

Tosa Inu hat geschrieben :
Mi 4. Okt 2017, 23:26
Das wäre der Fall, wenn Du mir Autos zeigst und ich behaupte, dies sei ein Komplott.
In welchem Sinne ist denn die Behauptung, das sei ein Komplott, eine Behauptung von Nichtexistenz? Wie gesagt: Von etwas auszusagen, dass es eine Illusion ist, bedeutet nicht, zu sagen, dass es nicht ist, sondern zu sagen, dass es durchaus ist, aber nicht das ist, was es scheint. Deshalb sagte ich ja, dass sich Nichtexistenz streng genommen gar nicht aussagen lässt - weswegen auch die Aufforderung nach dem Beweis einer Existenzbehauptung nicht selbst wieder eine Behauptung ist, sondern eben eine Aufforderung. Mein Beitrag in dem anderen Thread war auch von Anfang an als Aufforderung formuliert und nicht als Behauptung, und die Umkehr der Beweislast kam hinterher - obwohl ich das Gegenteil nie behauptet hatte, eben weil sich Nichtexistenz eben eigentlich nicht behaupten lässt.

Selbst wenn man glaubt, dass alle Autos nur Illusionen sind, ist es immer noch leicht, etwas zu zeigen, das zumindest ein Auto zu sein scheint. Die Sache hier ist doch hier die, dass ihr mir noch nicht einmal etwas zeigen könnt, das Gott oder die Menschenwürde zu sein scheint. Könntet ihr das, so könnten wir darüber sprechen, warum es euch das zu sein scheint und nicht etwas anderes.



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