AndreaH hat geschrieben : ↑ Fr 9. Apr 2021, 23:13
Fakten bleiben in ihrem Zahlenwerk gleich. Wir legen sie nur sehr unterschiedlich aus, je nachdem für welche Interessen wir sie verwenden. Mißtrauen ihnen oder Vertrauen auf sie und manchmal verschließen wir die Augen vor ihnen.
Das trifft meinen Punkt zu einem grossen Teil. Natürlich blenden wir Fakten auch aus, legen sie vielleicht so aus, dass wir unser Verhalten damit rechtfertigen können. Das tun wir, weil wir Interessen verfolgen, die nicht immer der Wahrheit dienen. Nur, das ist ja gerade die Schwierigkeit: Diese Interessenlagen, vor deren Hintergrund wir Entscheidungen treffen, gehören ebenso zur Wahrheit: Es gehört zur Wahrheit, dass wir uns schön kleiden wollen, dass wir ein ordentliches Zuhause wollen, dass wir Erdbeeren im Winter essen und Kurzflüge von dieser in jene europäische Hauptstadt buchen wollen. Das sind Fakten, und insofern Jörn recht hat, gehören auch diese Fakten zur Wahrheit dazu.
D.h. es gibt auch Fakten, die moralische Implikationen haben, also solche, die uns dazu veranlassen, eine Entscheidung zu treffen mit Blick auf die Frage, ob es richtig oder falsch ist, so zu handeln. Die Fakten zeigen uns vielleicht an, was die Tatsachen sind, aber welche Tatsachen mehr Gewicht haben, wenn wir sie gegeneinander abwägen müssen, das zeigen sie nicht an. Wir müssen uns in diesen Fällen investieren, wir müssen abwägen und urteilen. Die Fakten veranlassen uns nicht automatisch zu einem Tun, wir müssen das moralische Gewicht der jeweiligen Fakten ermitteln.
Wir verfügen über einen moralischen Sinn, d.h. über ein Gewissen, mit dem wir moralische Sachverhalte richtig beurteilen können. Es ist ja nicht so, dass wir wir uns betreffend moralischen Entscheidungen in komplettem Blindflug befinden würden. Wir schlagen einander bspw. nicht grundlos die Köpfe ein, und wenn wir das tun, so werden wir i.d.R. finden, dass es falsch sei, es zu tun, und damit richtig liegen, weil es in tatsächlich falsch
ist. Es ist ein moralischer Fakt, dass wir einander nicht die Schädel einschlagen dürfen. Wir wissen aber auch bei kleineren, vielleicht
weniger gravierenden Dingen, wie dem Kauf von Kleidern aus Bangladesh oder dem Kauf von Erdbeeren im Winter, dass es falsch ist, sie zu kaufen.
„Weniger gravierend“ habe ich kursiv gestellt, weil mir wichtig scheint zu betonen, dass wir moralisches Handeln in „kleinere und grössere Sünden“ einteilen - in schwerwiegendere und weniger schwerwiegende. So halten wir einen Mord für moralisch schlimmer als das Wegwerfen unseres Mülls an einer Stelle des Stadtparks. Aber ist das eine denn auch aus moralischer Perpektive weniger gravierend als das andere? Die Justiz sagt, dass es einen Unterschied im Schweregrad der (strafrechtlichen) Tatsachen gibt: Sie unterscheidet zwischen Vergehen und Verbrechen, legt verschiedene Strafmaße an und zeigt uns damit den Grad unserer Verfehlung an. Aber, moralisch gesehen, macht es einen Unterschied, ob wir die Kleider aus Bangladesh in der schönen Einkaufsmeile in Bern kaufen oder ob wir einen Menschen kaltblütig ermorden? Wenn es moralische Fakten gibt, dann muss eine Handlung, die wir faktenwidrig begehen, richtig oder falsch sein, aber nicht richtiger oder falscher.
Was soll es denn heissen, dass wir bezüglich der Tatsache, dass 5+7=12, richtiger oder falscher liegen? Das ist offenbar Unsinn. Entweder liegen wir richtig, und es ist ein Fakt, dass p oder wir liegen falsch, und es ist Fakt, dass nicht-p. Es gibt keine approximativen Fakte - keine Gradualität der Wahrheit. Es ist die Wahrheit, dass p oder nicht-p. Das muss aber auch gelten für alles andere, was die Wahrheit betrifft: Auch die moralische Wahrheit kann nicht irgendwo in der Mitte liegen zwischen wahr und nichtwahr.
Das heisst, es kann nicht richtiger sein, den Müll im Park liegen zu lassen als jemanden zu töten. Es ist beides falsch und es ist beides genau gleich falsch.
Wir sehen aber offenbar, dass das mit unserem moralischen Sinn nicht übereinstimmt. Niemand von uns wird nämlich im Fall, dass er zwischen diesen zwei Optionen wählen muss (morden oder den Müll liegen lassen), völlig willkürlich entscheiden, als ob es völlig gleichgültig wäre, ob wir morden oder den Park zumüllen. Es gibt offenbar doch einen gewichtigen Unterschied zwischen diesen beiden Fakten des logisch gleichwertigen Falschseins. Jeder von uns, sofern er oder sie moralisch gesund ist (d.h. die moralische Wahrheit erkennen kann), wird einsehen, dass es im Konfliktfall eher angezeigt ist, nicht zu morden resp. es eher angezeigt wäre, den Müll liegen zu lassen.
Wir müssen uns nicht an diesem offensichtlich konstruierten und absurden Beispiel orientieren, wir können eine Vielzahl von mehr oder weniger tragischen, aber durchaus wahrscheinlichen Konfliktsituationen ausmalen, in denen wir nun einmal Partei ergreifen müssen: Triagesituationen in Spitälern bspw. oder die Wahl, dieser oder jener politischen Partei beizutreten etc.
Das sind alles dann nicht mehr Fragen der
kalten Fakten, sondern des Gefühls und Empfindens mittels moralischen Sinn für das faktische Gewicht, die diese Fakten haben uns uns deshalb geneigt machen, so und so zu handeln.
Wir können also, wenn wir einander von der Richtigkeit überzeugen wollen, nicht bloss auf die Faktenlage als solche verweisen und meinen, dass sie immer eine ganz klare Sprache sprechen, weil sie das manchmal und gar oft nur tun, wenn wir auch mit dem Herzen hinhören. Deshalb ist mein Plädoyer nicht eines gegen das reine Faktenwissen, sondern für die Einsicht, dass gewisse Fakten uns nur insofern betreffen, als wir Menschen sind. Mit Gefühlen und Ängsten, mit Prägungen, die unseren moralischen Sinn schärfen, aber eben auch trüben können. Da müssen wir mit besonderem Feingefühl für einander vorgehen, weil der blosse Hinweis auf die kalten Fakten nicht hinreicht.