Die Fakten sprechen für mich

Dieses Unterforum beschäftigt sich mit dem Umfang und den Grenzen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit sowie um die speziellen Gesichtspunkte des Systems der modernen Wissenschaften.
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Alethos
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Mi 7. Apr 2021, 11:18

Alexander Bogner hat geschrieben : Wir sprechen heute ganz selbstverständlich von „Corona-Leugnern“, von „Klimawandel-Leugnern“, „Evolutionsleugnern“. Früher einmal gab es Kapitalismus-Kritiker und Atomkraft-Gegner. „Atomkraftnutzen-Leugner“ kannte man damals nicht. Die Leugner-Semantik impliziert für meine Begriffe, dass sich viele politische Konflikte auf eine epistemische Ebene verlagert haben. Aus weltanschaulichen Gegnern sind mittlerweile Feinde der Vernunft geworden. In der Folge gilt radikaler Protest als Ausdruck krimineller Realitätsverweigerung oder plumper Ignoranz. Auf diese Weise wird ein viel zu einfacher Gegensatz zwischen Vernunft und Irrationalismus konstruiert.
https://www.philomag.de/artikel/alexand ... chaftliche

In dieser neuen Auflage der Diskussion über eine Variante des naturalistischen Fehlschlusses sinniert der Soziologe, Alexander Bogner, über dessen Konsequenzen auf soziologischer Ebene. Da uns Fakten nicht anzeigen, was richtige Politik ist, instrumentalisieren wir Fakten, wenn wir uns auf sie stützen zur Durchsetzung unserer politischen Ansichten. Viel erfolgversprechender wäre es, wenn wir die unseren politischen Einstellungen zugrundeliegenden Werte transparent machen würden. Für diese Werte können wir argumentieren, wir können gegenseitiges Verständnis aufbauen, und erst das ermöglicht eine Politik, die sich an Fakten ausrichtet.

Die Realität, so muss man ergänzen, kann nicht ohne uns gedacht werden: Wir sind Teil des Richtig und Falsch, es gibt kein Jenseits von Gut und Böse, das für uns von Belang wäre.



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AndreaH
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Mi 7. Apr 2021, 16:49

Das würde bedeuten, es ist eher zweitrangig etwas zu beurteilen. (Die Haltung zu einem Thema)
Wichtiger wäre eher das Muster des Menschen selbst zu erkennen. Denn dieses Muster würde immer gleich bleiben. Ich meine nicht das Muster eines einzelnen Menschen sondern das Muster allgemein von allen Menschen.

Ist mein Gedankenansatz zu diesem Thema passend? Oder geht das Thema in eine ganz andere Richtung?
Bin mir nicht sicher, ob ich den Tread richtig verstanden habe.




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AndreaH
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Mi 7. Apr 2021, 16:53

Achso, Fakten werden auch oft ausgenutzt um eigene Interessen durchzusetzen?!
Ist das auch richtig wie ich es verstanden habe?




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Alethos
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Mi 7. Apr 2021, 17:54

AndreaH hat geschrieben :
Mi 7. Apr 2021, 16:49
Das würde bedeuten, es ist eher zweitrangig etwas zu beurteilen. (Die Haltung zu einem Thema)
Wichtiger wäre eher das Muster des Menschen selbst zu erkennen. Denn dieses Muster würde immer gleich bleiben. Ich meine nicht das Muster eines einzelnen Menschen sondern das Muster allgemein von allen Menschen.

Ist mein Gedankenansatz zu diesem Thema passend? Oder geht das Thema in eine ganz andere Richtung?
Bin mir nicht sicher, ob ich den Tread richtig verstanden habe.
Der Thread hat keine vorgegebene Richtung.

Ich finde, du hast etwas Wesentliches genannt: Muster. Obwohl ich eher von Werten oder Prägungen sprechen würde, ist doch eines offenbar: Wir entscheiden nicht ausschliesslich nach Fakten, sondern wir legen unsere Ansichten in die Fakten hinein. Interpretieren diese. Ziehen aus ihnen die Schlüsse, die wir wollen. Manchmal sind wir blind für das Offensichtliche - das, was förmlich danach schreit, als wahr erkannt zu werden, bloss, weil es nicht ganz in unsere Erklärungsmodelle passt.

Jeder Fakt kann, wenn er handlungsrelevant werden soll, umgedeutet werden, geleugnet werden oder so in einen Kontext gestellt werden, dass aus ihm nicht dieses Handeln als richtiges folgt, sondern ein anderes. Beispiel: Klimawandel. Es ist unbestreitbarer Fakt, dass sich das Klima überdurchschnittlich erwärmt. Die Messreihen sind eindeutig. Aber diese geben der politischen Sphäre keine eindeutig richtigen Handlungsanweisungen. Darum streiten Klimaexperten miteinander, darum gibt es Klimawandel-Leugner.
Wir können wählen und die Leugner zu den Faktenblinden, zu den Unvernünftigen, zu den Dummen rechnen, oder einfach erkennen, dass wir nicht nur Wissende sein wollen, sondern Zuversichtliche. Hoffnungsvolle. Dass wir auch Ängstliche sind und uns vor der Wahrheit fürchten. Auch das sind Fakten, die wir nicht ausblenden dürfen.
Wir wollen auch Teil der Antworten sein und nicht bloss Befehlsempfänger einer Faktenlage. Wir wollen uns einbringen. Wir wollen gut sein. Besser sein. Recht haben. Das alles macht uns aus, weil wir keine blossen Informationsmaschinen sind, sondern fehlbare Geschöpfe. Mit Makeln und mit Schwächen. Auf dieser Ebene müssen wir uns begegnen, wenn wir einander von der guten Sache überzeugen wollen: Fakten allein werden es nicht vermögen.

Damit will ich nicht sagen, dass es einerlei sei, was wir glauben, oder dass sozusagen jede Schlussfolgerung richtig sei. An einen Relativismus glaube ich nicht und diesen möchte ich hier auch nicht verteidigen. Ich möchte nur betonen, was mir dieser Artikel aufzeigte, dass nicht Fakten allein regieren sollten, sondern Gefühle und alles, was an ihnen hängt, ebenso Teil der Wahrheit ist, die wir alle so sehr begehren. Auch jene begehren, die sich in unseren Augen so sehr irren.



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Alethos
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Mi 7. Apr 2021, 17:58

Der Threadtitel hätte genau so gut oder noch besser lauten können: „Die Fakten sprechen für uns.“ Damit ist gemeint, dass wir Teil der Wirklichkeit sind und nicht blosse Zuschauer ohne eigene Wirklichkeit.



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Alethos
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Mi 7. Apr 2021, 18:15

Wäre die moralisch-politische Wahrheit das Ergebnis blossen Abwägens von Fakten, von Parametern, von Kenngrössen, könnten wir vielleicht einen Wahrheitscomputer bauen, wie wir es von Schachcomputern kennen. Aber genau so, wie wir mit dem Schachcomputer nicht über seine Sicht der Dinge diskutieren können, mit ihm lachen können, uns mit ihm über dies und das aufregen, könnte ein solcher Computer nicht den vollen Reiz des Wahrseins erfassen, der darin liegen muss, ein Lebendiges zu sein.

Es geht bei der Wahrheit nie nur um Fakten, sondern um diesen vollen Reiz des Lebendigseins.



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AndreaH
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Do 8. Apr 2021, 00:40

Alethos hat geschrieben :
Mi 7. Apr 2021, 17:54
AndreaH hat geschrieben :
Mi 7. Apr 2021, 16:49
Das würde bedeuten, es ist eher zweitrangig etwas zu beurteilen. (Die Haltung zu einem Thema)
Wichtiger wäre eher das Muster des Menschen selbst zu erkennen. Denn dieses Muster würde immer gleich bleiben. Ich meine nicht das Muster eines einzelnen Menschen sondern das Muster allgemein von allen Menschen.

Ist mein Gedankenansatz zu diesem Thema passend? Oder geht das Thema in eine ganz andere Richtung?
Bin mir nicht sicher, ob ich den Tread richtig verstanden habe.
Der Thread hat keine vorgegebene Richtung.

Ich finde, du hast etwas Wesentliches genannt: Muster. Obwohl ich eher von Werten oder Prägungen sprechen würde, ist doch eines offenbar: Wir entscheiden nicht ausschliesslich nach Fakten, sondern wir legen unsere Ansichten in die Fakten hinein. Interpretieren diese. Ziehen aus ihnen die Schlüsse, die wir wollen. Manchmal sind wir blind für das Offensichtliche - das, was förmlich danach schreit, als wahr erkannt zu werden, bloss, weil es nicht ganz in unsere Erklärungsmodelle passt.

Jeder Fakt kann, wenn er handlungsrelevant werden soll, umgedeutet werden, geleugnet werden oder so in einen Kontext gestellt werden, dass aus ihm nicht dieses Handeln als richtiges folgt, sondern ein anderes. Beispiel: Klimawandel. Es ist unbestreitbarer Fakt, dass sich das Klima überdurchschnittlich erwärmt. Die Messreihen sind eindeutig. Aber diese geben der politischen Sphäre keine eindeutig richtigen Handlungsanweisungen. Darum streiten Klimaexperten miteinander, darum gibt es Klimawandel-Leugner.
Wir können wählen und die Leugner zu den Faktenblinden, zu den Unvernünftigen, zu den Dummen rechnen, oder einfach erkennen, dass wir nicht nur Wissende sein wollen, sondern Zuversichtliche. Hoffnungsvolle. Dass wir auch Ängstliche sind und uns vor der Wahrheit fürchten. Auch das sind Fakten, die wir nicht ausblenden dürfen.
Wir wollen auch Teil der Antworten sein und nicht bloss Befehlsempfänger einer Faktenlage. Wir wollen uns einbringen. Wir wollen gut sein. Besser sein. Recht haben. Das alles macht uns aus, weil wir keine blossen Informationsmaschinen sind, sondern fehlbare Geschöpfe. Mit Makeln und mit Schwächen. Auf dieser Ebene müssen wir uns begegnen, wenn wir einander von der guten Sache überzeugen wollen: Fakten allein werden es nicht vermögen.

Damit will ich nicht sagen, dass es einerlei sei, was wir glauben, oder dass sozusagen jede Schlussfolgerung richtig sei. An einen Relativismus glaube ich nicht und diesen möchte ich hier auch nicht verteidigen. Ich möchte nur betonen, was mir dieser Artikel aufzeigte, dass nicht Fakten allein regieren sollten, sondern Gefühle und alles, was an ihnen hängt, ebenso Teil der Wahrheit ist, die wir alle so sehr begehren. Auch jene begehren, die sich in unseren Augen so sehr irren.
Ja, die gemeinsamen Werte wären ja dann ein erstrebenswertes Ziel eine Grundlage auf die man dann aufbauen sollte. Aber würde es dann nicht auch voraussetzen, die Muster der Gefühlswelt des Menschen zuerst gänzlich zu verstehen? Vorrangig sind wir Menschen damit beschäftigt und darauf konzentriert uns in Details zu verlieren. So das wir oft das Ganze, um das es eigentlich geht nicht mehr sehen. Es ist ja nicht negativ zu sehen, das wir oft so präzise vorgehen.
 
Nehmen wir mal den Klimawandel, der ja eher als künftige Klimakatastrophe zu sehen sein sollte.
Die Fakten sind sehr klar.
Jedoch reagieren Menschen aber sehr unterschiedlich in ihrer Gefühlswelt auf diese Fakten (das hätte ich als Muster  gesehen, da dieses Muster bei anderen Fakten und Themen sich genauso  abzeichnet)




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AndreaH
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Do 8. Apr 2021, 00:45

Alethos hat geschrieben :
Mi 7. Apr 2021, 18:15
Wäre die moralisch-politische Wahrheit das Ergebnis blossen Abwägens von Fakten, von Parametern, von Kenngrössen, könnten wir vielleicht einen Wahrheitscomputer bauen, wie wir es von Schachcomputern kennen. Aber genau so, wie wir mit dem Schachcomputer nicht über seine Sicht der Dinge diskutieren können, mit ihm lachen können, uns mit ihm über dies und das aufregen, könnte ein solcher Computer nicht den vollen Reiz des Wahrseins erfassen, der darin liegen muss, ein Lebendiges zu sein.

Es geht bei der Wahrheit nie nur um Fakten, sondern um diesen vollen Reiz des Lebendigseins.
Währe es dann möglich, diesen einen Punkt zu finden, bei denen sich alle Menschen gemeinsam finden? Etwas nachdem alle streben? Diesen Punkt den du, denke ich als Wahrheit bezeichnest?

Denn wenn man sich die Interessen der Menschen anschaut, bezweifelt man schon, ob alle nach den gleichen Werten streben wollen?!
Aber wo findet man diesen Punkt?

Ich denke, dass das Muster von Interessen (das ja irgendwie auch ein Teil von der Gefühlswelt ist) bei jedem Menschen gleich ist. Es unterscheidet sich eher in der Intensität und in der Ausrichtung.




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Jovis
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Do 8. Apr 2021, 11:40

Die Differenzierung zwischen Gegnern und Leugnern fand ich sehr erhellend. Sie eröffnet mir die Möglichkeit besser zu verstehen, was zumindest einen Teil der Coronamaßnahmengegner bewegen mag. Und sie eröffnet die Möglichkeit, diese Leute ohne reflexhafte Diffamierung zunächst einmal ernst zu nehmen, ihnen Gründe zuzugestehen. (Bei den Klimawandelleugnern fällt mir das schwerer, warum, weiß ich noch nicht.)

Es gibt Fakten, die tragen ihre Handlungsanweisung quasi in sich. Wenn ein Haus brennt, werde ich in der Regel zu retten und zu löschen versuchen. Andere Fakten, und zumal "Faktenkonglomerate", also komplexe Sachverhalte, sind da nicht so eindeutig. Oft berücksichtigen wir das im Alltag - wir wissen, dass Fakten unterschiedlich interpretiert werden oder zu unterschiedlichen Schlüssen führen können. Aber oft genug vergessen wir das auch, wenn etwas für uns so evident ist, dass wir meinen, das müssten doch alle anderen genauso sehen.




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Jörn Budesheim
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Do 8. Apr 2021, 12:58

Jovis hat geschrieben :
Do 8. Apr 2021, 11:40
Es gibt Fakten, die tragen ihre Handlungsanweisung quasi in sich.
Das nennt man dann gemeinhin Gründe :-)




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Alethos
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Do 8. Apr 2021, 13:31

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 8. Apr 2021, 12:58
Jovis hat geschrieben :
Do 8. Apr 2021, 11:40
Es gibt Fakten, die tragen ihre Handlungsanweisung quasi in sich.
Das nennt man dann gemeinhin Gründe :-)
Obwohl ich mit der Darstellung von Gründen als „Tatsachen, die für etwas sprechen“ sehr viel anfangen kann, halte ich es - auf Jovis referenzierend - nicht immer für eindeutig, wofür Tatsachen denn eigentlich sprechen. Gerade in einer komplexen Gemengelage von Tatsachen dürfte nicht immer selbstevident sein, was zu tun geboten ist.

Ich glaube sehr wohl an die Faktizität der Gründe, also daran, dass Gründe objektiv vorliegen und es demnach auch Irrtum geben kann mit Bezug auf ein Sollen. Ich denke nur nicht, dass wir einen reinen Blick auf die Tatsachen werfen können, wenn wir zugleich unsere Motivationen, Ängste etc. ausser Betracht lassen. Denn auch das sind Fakten, die wir als Teil der Wirklichkeit zu berücksichtigen haben?

Dabei habe ich u.a. die argumentative Herausforderung im Blick, die wir leisten müssen, wenn wir es mit gegenteiligen Meinungen zu tun haben (was im politischen Diskurs die Norm ist). Dabei fragt sich, wie wir die anderen überzeugen können, dass diese und nicht die andere Ansicht die richtige ist. Über Fakten, ja gewiss, aber doch auch über eine Taktik des Geneigtmachens, diese Fakten auch anzuerkennen als solche.
Wir erreichen einander nicht nur über die kognitive, wissenschaftliche Ebene, weil unsere epistemischen Vermögen eben nicht nur mit Wissen zu tun haben, sondern auch mit Subjektivität und einem Glaubenwollen und -können. Die Interessenlage ist selten so eindeutig, dass wir behaupten könnten, dieses Handeln sei eindeutig richtig oder eindeutig falsch, jedenfalls müssen wir mit genügend Feingefühl vorgehen, wenn wir einander argumentativ „abholen“ wollen. Mit Respekt auch für die gegenteilige Meinung, weil in ihr eine Portion Menschlichkeit, ja, Fehlbarkeit mitschwingt. Ganz gewiss halten wir die Gesellschaft aber nicht zusammen mit dem pauschalen Urteil, „die dort“ irrten einfach, weil sie die Fakten verkennen.

Denn, was Fakten für uns Geltung verleiht und sie demnach zu solchen macht, ist auch unsere Fähigkeit, etwas als wahr erkennen zu können und zu wollen, und ferner entscheidet sich diese Fähigkeit an unserer Auffassung von Realität. Sie ist aber kein Schwarz-Weiss-Gefüge mit immer klaren Grenzen zwischen richtig und falsch, nicht zuletzt deshalb nicht, weil wir Menschen auch bunte, vielfältige Gefühle haben und unterschiedliche Hintergründe haben.
Vor dieser holistischen Perspektive auf die Wirklichkeit erscheinen Fakten nicht als Trümpfe in einem Kartenspiel, mit denen wir den Gegner „ausstechen“, da sie uns vielmehr die Gelegenheit bieten für eine offene Diskussion über die Frage: Wer bist du? Was willst du und wo wollen wir denn eigentlich hin miteinander?



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Jovis
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Do 8. Apr 2021, 14:04

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 8. Apr 2021, 12:58
Jovis hat geschrieben :
Do 8. Apr 2021, 11:40
Es gibt Fakten, die tragen ihre Handlungsanweisung quasi in sich.
Das nennt man dann gemeinhin Gründe :-)
Echt jetzt? :-)




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Jörn Budesheim
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Do 8. Apr 2021, 14:10

Jovis hat geschrieben :
Do 8. Apr 2021, 14:04
Echt jetzt? :-)
Ja. So verstehe ich, was Gründe sind. Gründe sind Tatsachen, die für etwas sprechen - wie Alethos schon schrieb.




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Do 8. Apr 2021, 14:10

Alethos hat geschrieben :
Do 8. Apr 2021, 13:31
Obwohl ich mit der Darstellung von Gründen als „Tatsachen, die für etwas sprechen“ sehr viel anfangen kann, halte ich es - auf Jovis referenzierend - nicht immer für eindeutig, wofür Tatsachen denn eigentlich sprechen. Gerade in einer komplexen Gemengelage von Tatsachen dürfte nicht immer selbstevident sein, was zu tun geboten ist.
Das stimmt wohl.




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Jörn Budesheim
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Fr 9. Apr 2021, 07:31

Dass Politiker sich mit Experten beraten, kann man meines Erachtens schwerlich kritisieren. Verfehlt wäre natürlich, sich ausschließlich mit Experten aus den Naturwissenschaften zu beraten. Deswegen gibt es ja auch einen Ethikrat in der Politik. Dieser spielen allerdings nach meinem Gefühl im öffentlichen Diskurs kaum eine Rolle. Man liest nicht oft, dass dies oder das - basierend auf den Empfehlungen des Ethikrats - beschlossen wurde.
Der Deutsche Ethikrat bearbeitet gemäß seinem gesetzlichen Auftrag ethische, gesellschaftliche, naturwissenschaftliche, medizinische und rechtliche Fragen sowie die voraussichtlichen Folgen für Individuum und Gesellschaft, die sich im Zusammenhang mit der Forschung und den Entwicklungen insbesondere auf dem Gebiet der Lebenswissenschaften und ihrer Anwendung auf den Menschen ergeben. Zu seinen Aufgaben gehören insbesondere die Information der Öffentlichkeit und die Förderung der Diskussion in der Gesellschaft, die Erarbeitung von Stellungnahmen sowie von Empfehlungen für politisches und gesetzgeberisches Handeln für die Bundesregierung und den Deutschen Bundestag sowie die Zusammenarbeit mit nationalen Ethikräten und vergleichbaren Einrichtungen anderer Staaten und internationaler Organisationen.

Der Deutsche Ethikrat ist in seiner Tätigkeit unabhängig und nur an den durch das Ethikratgesetz begründeten Auftrag gebunden. Die 26 Mitglieder des Deutschen Ethikrates üben ihr Amt persönlich und unabhängig aus. Sie dürfen keine aktiven Mitglieder des Bundestages oder der Bundesregierung beziehungsweise eines Landtages oder einer Landesregierung sein. Die Ratsmitglieder sollen naturwissenschaftliche, medizinische, theologische, philosophische, ethische, soziale, ökonomische und rechtliche Belange in besonderer Weise repräsentieren sowie unterschiedliche ethische Ansätze und ein plurales Meinungsspektrum vertreten.

Um die Öffentlichkeit zu informieren und die gesellschaftliche Diskussion zu fördern, führt der Ethikrat öffentliche Veranstaltungen durch und informiert regelmäßig auf seiner Internetseite sowie in seinen Infobriefen und Jahresberichten über seine Aktivitäten. Neben seinen in Berlin stattfindenden öffentlichen Abendveranstaltungen der Reihe „Forum Bioethik“ und seiner Jahrestagung führt der Deutsche Ethikrat auch außerhalb Berlins ganztägige öffentliche Veranstaltungen durch.

Der Deutsche Ethikrat legt die Themen für seine inhaltliche Arbeit selbst fest, er kann aber auch von der Bundesregierung oder dem Deutschen Bundestag beauftragt werden, ein bestimmtes Thema zu bearbeiten. Bislang hat der Deutsche Ethikrat bereits dreimal von der Bundesregierung einen Auftrag erhalten, eine Stellungnahme zu erarbeiten.

Das Plenum des Ethikrates tagt einmal im Monat in Berlin. Diese Sitzungen können öffentlich aber auch nichtöffentlich sein. Für die Erarbeitung von Stellungnahmen richtet der Ethikrat Arbeitsgruppen ein, die Textentwürfe erstellen und dem Plenum zur Diskussion und schließlich zur Verabschiedung vorlegen. Die Arbeitsgruppensitzungen sind grundsätzlich nicht öffentlich. Sofern erforderlich, kann der Ethikrat externe Experten in seine Arbeit einbinden. Diese Mitarbeit ist zeitlich begrenzt und nicht mit einer Mitgliedschaft gleichzusetzen. Nach der Veröffentlichung einer Stellungnahme endet daher auch die Mitwirkung des jeweiligen Experten an der Arbeit des Ethikrates.

Stellungnahmen des Ethikrates werden veröffentlicht. Vertreten Mitglieder bei der Abfassung einer Stellungnahme eine abweichende Auffassung, so können sie diese in der Stellungnahme zum Ausdruck bringen.

Gemäß Ethikratgesetz ist der Ethikrat gehalten, einmal jährlich gegenüber dem Deutschen Bundestag und der Bundesregierung über den Stand der gesellschaftlichen Debatte zu berichten und Rechenschaft über seine Tätigkeit abzulegen. Der Jahresbericht ist ebenso wie alle anderen Publikationen des Deutschen Ethikrates auf seiner Internetseite abrufbar...

https://www.ethikrat.org/der-ethikrat/




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Jörn Budesheim
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Fr 9. Apr 2021, 07:52

Alethos hat geschrieben :
Mi 7. Apr 2021, 18:15
Wäre die moralisch-politische Wahrheit das Ergebnis blossen Abwägens von Fakten, von Parametern, von Kenngrössen, könnten wir vielleicht einen Wahrheitscomputer bauen, wie wir es von Schachcomputern kennen. Aber genau so, wie wir mit dem Schachcomputer nicht über seine Sicht der Dinge diskutieren können, mit ihm lachen können, uns mit ihm über dies und das aufregen, könnte ein solcher Computer nicht den vollen Reiz des Wahrseins erfassen, der darin liegen muss, ein Lebendiges zu sein.

Es geht bei der Wahrheit nie nur um Fakten, sondern um diesen vollen Reiz des Lebendigseins.
Ich weiß, was du meinst und ich stimme dir auch zu, aber ich will vorerst folgendes geltend machen: Es geht bei der Wahrheit immer und ausschließlich nur um Fakten und sonst nichts. Das liegt daran, dass es bei der Wahrheit um die Wahrheit geht. Jetzt zu deinem Beispiel: Erst vor kurzem habe ich gelesen, dass Ethikrechenmaschinen tatsächlich bereits gebaut und sogar schon im Einsatz sind! Der Zusammenhang war unsere Diskussion um die große KI. Ich halte das für aussichtslos, weil ich denke, so wie du (?), dass einem die Fakten des Lebens nur zugänglich sind, insofern man selbst lebt, es geht dabei also um den vollen Reiz des Lebendigseins, wie du es ausdrückst.

In Fragen des Menschseins gibt es nämlich auch bedeutsame Fakten, die zu berücksichtigen sind, die nicht allein mit naturwissenschaftlichen Methoden zu schöpfen sind. Und eine zentrale Tatsache ist sogar in unserem Grundgesetz festgehalt: die Würde des Menschen ist unantastbar. Es gibt in der Philosophie und ich vermute disziplinenübergreifend Diskussionen darüber, welches die universellen Menschenrechte sind. Für mich ist das der Versuch, normative Wahrheit über den Menschen herauszufinden. Diese Wahrheiten müssen in den entsprechenden Diskussionen natürlich ebenso berücksichtigt werden wie diejenigen Wahrheiten, für die die Naturwissenschaften zuständig sind.

Es gibt noch zwei oder drei andere Punkte, die meines Erachtens in dem kurzen Artikel fehlen: erstens wie entscheidet man in Situationen, die offensichtlich durch erhöhte Fallibilität ausgezeichnet sind? Da es immer um die Wahrheit geht können wir uns auch stets irren. Aber in neuen, ganz unbekannten Situationen ist die Wahrscheinlichkeit, dass man falsch liegt, natürlich oft höher. Und zwar in der Regel in vielen Hinsichten, of natürlich auch in ethischen Hinsichten.

Doch noch wichtiger scheint mir folgendes zu sein: unsere Gesellschaft kann nicht funktionieren, wenn wir der zentralen Aspekt des Vertrauens in das "System" zunehmend unterminiert wird. Die dauernden, anhaltenden Angriffe von Rechten und Ultrarechten auch auf offensichtliche Fakten dienen genau diesem Zweck, das Vertrauen der Menschen zu zerstören und damit die Demokratie ganz direkt anzugreifen. Donald Trump und Boris Johnson sind krasse Beispiele dafür, aber ähnliche Tendenzen lassen sich mittlerweile auch bei uns finden. Ein Beispiel dafür ist folgendes: in manchen Kreisen ist es bereits ein Beleg der Unwahrheit, wenn eine Meldung von den sogenannten Mainstream Medien verbreitet wird.




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AndreaH
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Fr 9. Apr 2021, 23:13

Alethos hat geschrieben :
Mi 7. Apr 2021, 17:54


Das alles macht uns aus, weil wir keine blossen Informationsmaschinen sind, sondern fehlbare Geschöpfe. Mit Makeln und mit Schwächen. Auf dieser Ebene müssen wir uns begegnen, wenn wir einander von der guten Sache überzeugen wollen: Fakten allein werden es nicht vermögen.

Dieser Teil hat mich sehr zum Nachdenken bewegt, denn es ist denke ich, ein sehr wichtiger Punkt den du damit aufzeigst. Weil alle Menschen sich dort auf der gleichen Ebene befinden. Es wäre auch wichtig, wie du schreibst wenn wir uns von dieser Ebene aus begegnen.
Von da aus, kann ich meine eigene Handlungen überdenken und für mein eigenes Handeln die volle Verantwortung übernehmen. Ich gestehe mir ein, dass ich Schwächen habe und das ich mich irren kann.

Ich wäre dann nicht ständig darauf konzentriert und beschäftigt auf andere zu schauen, die es vermeintlich in meinen Augen falsch machen oder sich irren.
Ich würde mir eingestehen, dass ich das gleiche  Muster auch in mir trage.

Ein persönliches Beispiel,
Mich ärgert es sehr, wie der brasilianische Präsident den Regenwald abholzt.
 "Ohne dabei mit der Wimper zu zucken" macht er das.
Ich könnte jetzt den ganzen Tag auf ihn schimpfen. Aber trage ich nicht auch die das gleiche Muster in mir?
Ok, vielleicht nicht in der Intensität und nicht in dem Ausmaß.
Jedoch,....
Wenn ich in meinen Kleiderschrank schaue, sehe ich viele farbenfrohe Kleidungsstücke. Das ist ja sehr schön, aber ich trage oft nur wenige davon wirklich regelmäßig.
Obwohl ich eine Vielfalt an Auswahl habe, möchte ich manchmal ein neues Kleidungsstück kaufen. Im vollen Bewußtsein, das es z.B. in Bangladesch hergestellt wurde. Ich bin finanziell in der Lage das ich bei meinem Kaufverhalten auf alternative Artikel zurückgreifen könnte. Mach ich aber nicht, warum? Weil mir in dem Moment die Farbe oder der Schnitt der Kleidung so gut gefällt. Ich stelle meine eigenen Interessen über meine eigene moralische Einstellung.
"Ohne dabei mit der Wimper zu zucken" mach ich das.
Bangladesch (mit seinen Fakten) ist während des Einkaufs weit weg. Zu weit weg. Daher ist es so leicht, dass ich meine Interessen verfolge.
Wir sind alle Menschen mit Schwächen, Makel und können uns irren. Zudem hängen wir in bestehenden Systemen (z.B. Wirtschaftssystem) fest, die es uns nicht leicht machen, aus ihnen auszubrechen.

Fakten bleiben in ihrem Zahlenwerk gleich. Wir legen sie nur sehr unterschiedlich aus, je nachdem für welche Interessen wir sie verwenden. Mißtrauen ihnen oder Vertrauen auf sie und manchmal verschließen wir die Augen vor ihnen.




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iselilja
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So 11. Apr 2021, 10:29

AndreaH hat geschrieben :
Fr 9. Apr 2021, 23:13

Wir sind alle Menschen mit Schwächen, Makel und können uns irren. Zudem hängen wir in bestehenden Systemen (z.B. Wirtschaftssystem) fest, die es uns nicht leicht machen, aus ihnen auszubrechen.

Vor allem aber sind wir Menschen, die sich den selben Planeten teilen müssen.. irgendwie. Was oftmals - gerade wenn es um das Beurteilen fremder Handlungen oder Ansichten geht - als Irrtum verstanden wird, ist in Wahrheit ein unterschiedliches Interesse. Wenn Bolzonaro oder wie der heißt den Regenwald abholzt ist das aus unserer Sicht ein Frevel an der Natur. Das stimmt auch, das ist kein Irrtum. Allerdings ist die hiese Begründung verfehlt. Denn was hat denn dagegen gesprochen hierzulande über Jahrhunderte den hiesigen Urwald abzuholzen und in Freiflächen zu verwandeln? Der brasilianische Präsident hat also durchaus alle Berechtigung der Welt einzufordern, dass Europa aufforsten muss, um das Gleichgewicht wieder herzustellen. Hört sich absurd an, ist aber so. Würde Europa das tun? Nein, wie denn auch, es leben zu viele Menschen hier.

Das ist so mit den Geistern, die man irgendwann einmal gerufen hat.. man wird sie nicht mehr los.


Wenn man alos glaubt, dass es Europäern vorbestimmt sei, in Wohlstand zu leben (und alle anderen sich daran zu orientieren hätten), dann hat man etwas Grundsätzliches an Zwischenmenschlichkeit nicht verstanden. Der Fehler liegt nicht in Brasilien. Und auch nicht in Bangladesh.




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Alethos
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So 11. Apr 2021, 12:20

AndreaH hat geschrieben :
Fr 9. Apr 2021, 23:13
Fakten bleiben in ihrem Zahlenwerk gleich. Wir legen sie nur sehr unterschiedlich aus, je nachdem für welche Interessen wir sie verwenden. Mißtrauen ihnen oder Vertrauen auf sie und manchmal verschließen wir die Augen vor ihnen.
Das trifft meinen Punkt zu einem grossen Teil. Natürlich blenden wir Fakten auch aus, legen sie vielleicht so aus, dass wir unser Verhalten damit rechtfertigen können. Das tun wir, weil wir Interessen verfolgen, die nicht immer der Wahrheit dienen. Nur, das ist ja gerade die Schwierigkeit: Diese Interessenlagen, vor deren Hintergrund wir Entscheidungen treffen, gehören ebenso zur Wahrheit: Es gehört zur Wahrheit, dass wir uns schön kleiden wollen, dass wir ein ordentliches Zuhause wollen, dass wir Erdbeeren im Winter essen und Kurzflüge von dieser in jene europäische Hauptstadt buchen wollen. Das sind Fakten, und insofern Jörn recht hat, gehören auch diese Fakten zur Wahrheit dazu.

D.h. es gibt auch Fakten, die moralische Implikationen haben, also solche, die uns dazu veranlassen, eine Entscheidung zu treffen mit Blick auf die Frage, ob es richtig oder falsch ist, so zu handeln. Die Fakten zeigen uns vielleicht an, was die Tatsachen sind, aber welche Tatsachen mehr Gewicht haben, wenn wir sie gegeneinander abwägen müssen, das zeigen sie nicht an. Wir müssen uns in diesen Fällen investieren, wir müssen abwägen und urteilen. Die Fakten veranlassen uns nicht automatisch zu einem Tun, wir müssen das moralische Gewicht der jeweiligen Fakten ermitteln.

Wir verfügen über einen moralischen Sinn, d.h. über ein Gewissen, mit dem wir moralische Sachverhalte richtig beurteilen können. Es ist ja nicht so, dass wir wir uns betreffend moralischen Entscheidungen in komplettem Blindflug befinden würden. Wir schlagen einander bspw. nicht grundlos die Köpfe ein, und wenn wir das tun, so werden wir i.d.R. finden, dass es falsch sei, es zu tun, und damit richtig liegen, weil es in tatsächlich falsch ist. Es ist ein moralischer Fakt, dass wir einander nicht die Schädel einschlagen dürfen. Wir wissen aber auch bei kleineren, vielleicht weniger gravierenden Dingen, wie dem Kauf von Kleidern aus Bangladesh oder dem Kauf von Erdbeeren im Winter, dass es falsch ist, sie zu kaufen.
„Weniger gravierend“ habe ich kursiv gestellt, weil mir wichtig scheint zu betonen, dass wir moralisches Handeln in „kleinere und grössere Sünden“ einteilen - in schwerwiegendere und weniger schwerwiegende. So halten wir einen Mord für moralisch schlimmer als das Wegwerfen unseres Mülls an einer Stelle des Stadtparks. Aber ist das eine denn auch aus moralischer Perpektive weniger gravierend als das andere? Die Justiz sagt, dass es einen Unterschied im Schweregrad der (strafrechtlichen) Tatsachen gibt: Sie unterscheidet zwischen Vergehen und Verbrechen, legt verschiedene Strafmaße an und zeigt uns damit den Grad unserer Verfehlung an. Aber, moralisch gesehen, macht es einen Unterschied, ob wir die Kleider aus Bangladesh in der schönen Einkaufsmeile in Bern kaufen oder ob wir einen Menschen kaltblütig ermorden? Wenn es moralische Fakten gibt, dann muss eine Handlung, die wir faktenwidrig begehen, richtig oder falsch sein, aber nicht richtiger oder falscher.

Was soll es denn heissen, dass wir bezüglich der Tatsache, dass 5+7=12, richtiger oder falscher liegen? Das ist offenbar Unsinn. Entweder liegen wir richtig, und es ist ein Fakt, dass p oder wir liegen falsch, und es ist Fakt, dass nicht-p. Es gibt keine approximativen Fakte - keine Gradualität der Wahrheit. Es ist die Wahrheit, dass p oder nicht-p. Das muss aber auch gelten für alles andere, was die Wahrheit betrifft: Auch die moralische Wahrheit kann nicht irgendwo in der Mitte liegen zwischen wahr und nichtwahr.
Das heisst, es kann nicht richtiger sein, den Müll im Park liegen zu lassen als jemanden zu töten. Es ist beides falsch und es ist beides genau gleich falsch.

Wir sehen aber offenbar, dass das mit unserem moralischen Sinn nicht übereinstimmt. Niemand von uns wird nämlich im Fall, dass er zwischen diesen zwei Optionen wählen muss (morden oder den Müll liegen lassen), völlig willkürlich entscheiden, als ob es völlig gleichgültig wäre, ob wir morden oder den Park zumüllen. Es gibt offenbar doch einen gewichtigen Unterschied zwischen diesen beiden Fakten des logisch gleichwertigen Falschseins. Jeder von uns, sofern er oder sie moralisch gesund ist (d.h. die moralische Wahrheit erkennen kann), wird einsehen, dass es im Konfliktfall eher angezeigt ist, nicht zu morden resp. es eher angezeigt wäre, den Müll liegen zu lassen.

Wir müssen uns nicht an diesem offensichtlich konstruierten und absurden Beispiel orientieren, wir können eine Vielzahl von mehr oder weniger tragischen, aber durchaus wahrscheinlichen Konfliktsituationen ausmalen, in denen wir nun einmal Partei ergreifen müssen: Triagesituationen in Spitälern bspw. oder die Wahl, dieser oder jener politischen Partei beizutreten etc.
Das sind alles dann nicht mehr Fragen der kalten Fakten, sondern des Gefühls und Empfindens mittels moralischen Sinn für das faktische Gewicht, die diese Fakten haben uns uns deshalb geneigt machen, so und so zu handeln.

Wir können also, wenn wir einander von der Richtigkeit überzeugen wollen, nicht bloss auf die Faktenlage als solche verweisen und meinen, dass sie immer eine ganz klare Sprache sprechen, weil sie das manchmal und gar oft nur tun, wenn wir auch mit dem Herzen hinhören. Deshalb ist mein Plädoyer nicht eines gegen das reine Faktenwissen, sondern für die Einsicht, dass gewisse Fakten uns nur insofern betreffen, als wir Menschen sind. Mit Gefühlen und Ängsten, mit Prägungen, die unseren moralischen Sinn schärfen, aber eben auch trüben können. Da müssen wir mit besonderem Feingefühl für einander vorgehen, weil der blosse Hinweis auf die kalten Fakten nicht hinreicht.



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Alethos
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So 11. Apr 2021, 12:30

Zu diesem Feingefühl gehört m.E. auch, die Sachverhalte je individuell zu betrachten. Kein Sachverhalt gleicht dem anderen, es gibt keine allgemeine moralische Regel, die jeden Einzelfall regeln könnte.

Aber das heisst nun auch zu erkennen, dass es „die Rechten“, „die Linken“, „die Grünen“, „die „Neonazis“ usw. nicht gibt. Das sind metaphysische Phantasmen und trüben unseren moralischen Sinn für die Fakten.



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