Markus Gabriel, Matthias Eckoldt, in "Die ewige Wahrheit und der Neue Realismus" (2019) hat geschrieben :
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MATTHIAS ECKOLDT
Für das Bewusstsein hat ja Tononi die sogenannte Theorie integrierter Information entworfen. Der Name ist bei ihm Programm. Je stärker von einem System Information integriert werden kann – also je mehr einem zu einem gegebenen Reiz einfällt –, desto höher ist das Bewusstsein.
MARKUS GABRIEL
Tononi und Koch sind von allen vielleicht am nächsten dran am minimalen neuronalen Korrelat des Bewusstseins. Und das sind sie, weil sie eine realistische Theorie des Bewusstseins haben. Also, sie wissen, wovon sie reden, und deswegen wissen sie überhaupt, wonach sie suchen. Die erste Hypothese, die jetzt rausgekommen ist, geht so: Bewusstsein ist immer räumlich. Somit ist es kein Zufall, dass man sich auch soziale Strukturen, Hierarchien usw. räumlich vorstellt. Das Akustische ist ebenfalls räumlich, »Da vorne tönt es«. Tononi vermutet, Raum sei das minimale Bewusstsein. Das liegt daran, dass die Struktur des visuellen Kortex etwas mit dem neuronalen Korrelat des Bewusstseins zu tun hat. Die Struktur, die sie im Blick haben, hat eine Gitterstruktur, in der die Neurone nach einer bestimmte Wahrscheinlichkeitsverteilung angeordnet werden. Wenn Neuronen da feuern, geht eine Kaskade mit einer bestimmten Ordnung los. Durch die Struktur der Neurone dort wird die Kaskade einen bestimmten Wahrscheinlichkeitsverlauf nehmen. Man kann dazu Modelle entwickeln, und die Theorie integrierter Information formuliert genau diese Modelle. Dafür gibt es mittlerweile eine Software, die von Tononi entwickelt wurde, und diese Modelle haben eine bestimmte Vorhersagekraft, die gerade getestet wird. Das ist alles relativ neu.
MATTHIAS ECKOLDT
Was wäre das Ziel der Theorie – und Praxis – integrierter Information?
MARKUS GABRIEL
Im Erfolgsfall hat Tononi das minimale neuronale Korrelat des Bewusstseins gefunden. In jedem Fall ist diese Theorie dafür der beste Kandidat, den es im Moment gibt, weil wir jetzt eine realistische, überprüfbare, fallibele Hypothese haben, deren Ausgangspunkt die Anerkennung der irreduziblen Wirklichkeit des Bewusstseins ist. Tononi sieht ein, dass es hoffnungslos ist, aus dem Materiellen das Psychische erklären zu wollen, das wird nie gehen. Es muss umgekehrt sein, wir müssen aus dem Psychischen das Materielle erklären. Wir finden das neuronale Korrelat nicht, indem wir Materie modifizieren, sondern umgekehrt. Das ist die Methode, und Christof Koch stimmt dem zu, wenn auch etwas skeptischer. Tononi ist dazu auch noch ein wirklich guter Philosoph. Ich war gerade ein paar Tage bei ihm. Er hatte Christof Koch, einige Psychiater aus New York, Buddhisten und den Übersetzer des Dalai-Lama eingeladen. Das war ein Zirkel von fünf bis zehn Leuten, und wir haben in Tononis schönem Holzhaus in Wisconsin vier Tage jeden Tag fast zehn Stunden diskutiert und gearbeitet. Diese Gespräche waren für mich eine der größten intellektuellen Bereicherungen.
MATTHIAS ECKOLDT
Die Theorie integrierter Information ist sicher ein Ausnahmeprodukt innerhalb der Hirnforschung. Wie ist es Ihrer Erfahrung nach um die deutsche Neurowissenschaft bestellt? Man erinnert sich ja noch an das Manifest führender Neurowissenschaftler, an dem ja auch Christof Koch mitgeschrieben hat. Da gab es einiges an Erkenntnispessimismus, der teilweise bis in eine geradezu depressive Stimmungslage reichte. Ich erinnere mich an Formulierungen, dass die Neurowissenschaft noch auf dem Stand von »Jägern und Sammlern« sei. Zugleich gab es aber auch die großen Debatten über den freien Willen, die von den Neurowissenschaftlern angestoßen wurden.
MARKUS GABRIEL
Das Manifest führender Hirnforscher wurde hier in Bonn u. a. vom Neurowissenschaftler Christian Elger auf einer Tagung angestoßen. Elger ist einer der weltweit am meisten zitierten Epileptologen, also eine richtige Koryphäe in seinem Fach. Auf einem Podium hat er mir jüngst bestätigt, dass dasjenige, was sie über den freien Willen und das Bewusstsein damals so gesagt haben, nicht aufgegangen ist, das zieht er alles zurück. Auch die sehr technisch orientierten Neurowissenschaftler, mit denen ich hier in Bonn zusammenarbeite, sagen mir: Du kannst von uns etwas über Neurone lernen, aber auf Fragen nach Bewusstsein und freiem Willen können wir fürs Erste – und auf sehr lange Sicht – einfach gar nichts sagen. Da ist in der Tat so eine Depression in die deutsche Neurowissenschaft gekommen. Nach Gerhard Roth und Wolf Singer sind die jetzt alle handzahm...
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Das ist jetzt zwei Jahre her, es wäre spannend zu erfahren, wie es mit der integrierten informationstheorie weiter gegangen ist. Aber es ist in der Regel relativ schwierig etwas dazu zu finden.