Di 18. Dez 2018, 11:28
@ Friederike, Herbert, ahasver und Interessierte:
Krishnamurtis Satz ist nicht sinnlos, sondern (vermutlich) Ausdruck (s)einer meditativen Erfahrung.
Es gibt ganz einfach Wahrnehmungen ohne den oder ohne einen Wahrnehmenden. Unser aller Alltag läuft so, dass wir uns unseres Ichs in der Weise immer gewahr sind, dass wir zwar, wie Kant sagte, ein Ich immer mit hinzu denken können, aber was sich getrennt anhört, läuft ja in der Lebenspraxis darauf hinaus, dass wir keinerlei Zweifel haben, dass wir es jeweils selbst sind, die dies und das erlebt haben. Ich habe keinen Zweifel daran, dass ich hier gerade sitze und diesen Beitrag verfasse, dabei Kaffee trinke, dass ich es bin, der den Kaffee schmeckt, den Holzstuhl unter mir spüre usw. Dieses „Ich“ begleitet uns also nicht nur in der theoretischen Reflexion, sondern immer, unabhängig davon, wie ich mir dieses Ich nun vorstelle.
In bestimmten Erfahrungen von Stress oder anderen intensiven Gefühlen, aber auch, wenn wir ganz in einen Film eintauchen, sind wir manchmal „selbstvergessen“. Wir haben nicht ein „Ich sitze hier und schaue einen fesselnden Film“-Empfinden, sondern wir schauen einen fesselnden Film. Unser Ich ist in dem Moment in dem Sinne nicht da. Wir empfinden aber auch nicht: „Ich bin mein Selbst, habe ein Ich und das schaut gerade einen Film“, sondern wir schauen einfach den Film. Unser Ich kommt uns dabei auch wieder ins Bewusstsein, wenn wir zum Klo müssen oder etwas in der Art. Dennoch sind wir, wenn wir selbstvergessen den Film schauen, ganz dabei und haben nachher keinen Zweifel, dass wir den Film gesehen haben.
Einerseits wird in der Meditation unter anderem genau das geübt: So fasziniert auf den Atem zu schauen wie auf einen spannenden Film, oft aber noch eher, auf alles zu schauen: Atem, Position, Empfindungen, Gefühle, Gedanken, so dass man einerseits ganz konzentriert ist und andererseits auch offen, für alles was kommen könnte. Die Konzentration auf Atem, Körperscan, Mandala, Koan oder dergleichen, hat einerseits den Sinn das Bewusstsein nicht völlig frei zu lassen, weil es sich sonst schnell wieder in reinem Denken wiederfindet, andererseits soll man auf gefordert oder überfordert sein. Das Denken muss kapitulieren, an die Grenzen geraten, dann verlässt man die gewohnten Pfade. Ansonsten sagt man auf Buddhas Frage, was das ist (wobei er eine Rose hoch hält), dass es natürlich eine Rose ist, was auch sonst.
In der Meditation kann vielleicht dadurch aber noch ein anderes Phänomen auftauchen. Man nimmt wahr, hat aber zugleich das Gefühl, dass dabei etwas anders ist. Die Selbstverständlichkeit, dass ich es bin, der wahrnimmt – jenseits der Erfahrung, der Selbstvergessenheit oder der Halbautomatik, wenn wir Routinehandlungen ausführen – ist auf einmal flöten. Man nimmt auf einmal anders wahr, man scannt nicht den Körper, sondern ist irgendwie der ganze Körper, nimmt den Atem, samt der Bewegung der Flanken, nimmt das sehr intensiv wahr, gleichzeitig sind die anderen Wahrnehmungen, der Teppich vor einem, wenn man sitzend meditiert, aber noch da. Was aber nicht mehr da ist, ist das Empfinden, ein Ich zu sein, jemand zu sein. Man bemerkt das aber erst in der Situation, so wie man die Abwesenheit von etwas, oft nur dann merkt, wenn es nicht mehr da ist.
Ich denke, uns fehlen, weil diese Erfahrungen selten sind, zum einen die Begriffe. Hätten wir aber nur die Begriffe (der Osten hat sie), würde das aber auch nichts helfen, denn es muss ja, wie bei anderen Begriffen auch, die Erfahrung mit dem Begriff verkoppelt werden. Wir brauchen das Feedback anderer, ob wir den Begriff auch richtig benutzen.
In jedem Fall gibt es diese Erfahrung der Wahrnehmung ohne Ich, ohne Wahrnehmenden. Etwas anderes als „das Sehen eines Objektes ohne den Beobachter“ (Krishnamurti) ist es in der Weise, dass die meditative Erfahrung (ich glaube jede) eine Ganzheitserfahrung in dem Sinne ist, dass wir etwas als „zu uns“ gehörend empfinden, von dem wir üblicherweise gelernt haben, dass dieser Bereich nicht zu uns gehört.
Philosophisch kann man diese Innen/Außen-Grenze rational hinterfragen, meditativ erlebt man, dass diese Grenze nicht immer in der geglaubten und trainierten Weise Bestand hat. Schon bei Gipfelerfahrungen kann man erleben, wie irgendwie irrealerweise Teile der Außenwelt unter die eigene Haut kriechen, zu einem Teil von mir werden. Das Wegfallen des Ich ist glaube ich nur die etwas seltenere Ausdehnung dieser Verschmelzung. Wenn mir alles was ich gerade erleben unter die Haut (und ins Innere des Bewusstseins) kriecht, ist alles Ich … oder eben alles Welt. Da ist die Spaltung von Beobachter und Beobachtetem dann aufgehoben.
Was dann theoretisch wieder interessant ist, ist inwieweit solche Gipfelerfahrungen einen Einfluss auf das Ich nehmen. Wie baut man diese Erfahrungen in seinen Alltag ein, was macht das mit einem? Auf welche Ich-Struktur trifft so eine Erfahrung? Philosophisch stellen sich Fragen nach der Realität, was nun eigentlich wirklich ist, Fragen aus dem Bereich Phänomenlogie, Erkenntnistheorie und Ontologie. Psychologisch interessant ist die Frage, nach Identität oder Differenz von Selbstvergessenheit (absorbiert oder fasziniert sein), Halbautomatik (Routinehandlungen ausführen), Dissoziation (bei intensivem Stress oder Traumata) und diversen Formen von Gipfelerfahrungen, in der Meditation.
„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)