Es ist wohl unübersehbar, dass Hegel sich in seinen Ausführungen über das Denken auf Kants "ursprüngliche Apperzeption" und "transzendentale Einheit des Subjekts" bezieht, und zwar affirmativ. Aber schaut man sich seine Formulierungen genauer an, zeigt sich auch, dass er Kants Gedanken nicht einfach paraphrasiert, sondern sich davon zugleich distanziert. Oder sagen wir besser: Man bemerkt, dass Hegel Kants Gedanken von einem ganz anderen Standpunkt aus referiert:
Hegel hat geschrieben : Kant hat sich des ungeschickten Ausdrucks bedient, daß Ich alle meine Vorstellungen, auch Empfindungen, Begierden, Handlungen usf. begleite. Ich ist das an und für sich Allgemeine, und die Gemeinschaftlichkeit ist auch eine, aber eine äußerliche Form der Allgemeinheit. Alle anderen Menschen haben es mit mir gemeinsam, Ich zu sein, wie es allen meinen Empfindungen, Vorstellungen usf. gemeinsam ist, die meinigen zu sein.
So ist bei Kant keine Rede von dem "gemeinschaftlichen" Aspekt der Allgemeinheit des Denkens. Kant spricht immer nur von DEM Ich bzw. DEM Subjekt. Man darf zwar unterstellen, dass dies als Kollektiv-Singular gemeint ist, dass also Kant stillschweigend davon ausgeht, dass die Subjektstrukturen, die er untersucht, in allen Subjekten die gleichen seien. Aber die Verhältnisse der vielen Subjekte zueinander, die
inter-subjektiven Verhältnisse, sind für ihn kein Thema. Das ist ein Manko vieler subjekt-philosophischer Ansätze (von Descartes über Hume bis zu Husserl und zur zeitgenössischen "Philosophie des Geistes"). Die "introspektive" Fokussierung auf "Ich", "Bewusstsein", "Denken" usw. macht es schwierig, das Subjekt als einen Teil der Welt und als eines von vielen Subjekten in der Welt zu begreifen. Die bipolare Spannung (wenn nicht gar: der Dualismus) zwischen dem Subjekt und dem Objekt, in dem alles andere, was nicht Subjekt ist, sich versammelt, durchzieht dann das ganze Denken.
Von dieser Art Subjekt-Philosophie hat Hegel sich energisch und grundsätzlich distanziert. Seine ganze "Phänomenologie des Geistes" widmet sich ihrer immanenten Kritik. Und diese Distanzierung wird auch hier bemerklich, wo er sich auf den Standpunkt des "Ich" einlässt, das sich "introspektiv" mit seinem eigenen Denken befasst.
Lesen wir erst nach, was Kant über die "transzendentale Einheit" des Subjekts sagt:
Kant hat geschrieben : Synthetische Einheit [137] des Mannigfaltigen der Anschauungen, als a priori gegeben, ist also der Grund der Identität der Apperzeption selbst, die a priori allem meinem bestimmten Denken vorhergeht. Verbindung liegt aber nicht in den Gegenständen, und kann von ihnen nicht etwa durch Wahrnehmung entlehnt und in den Verstand dadurch allererst aufgenommen werden, sondern ist allein eine Verrichtung des Verstandes, der selbst nichts weiter ist, als das Vermögen, a priori zu verbinden, und das Mannigfaltige gegebener Vorstellungen unter Einheit der Apperzeption zu bringen, welcher Grundsatz der oberste im ganzen menschlichen Erkenntnis ist.
Es springt uns sofort der Gegensatz entgegen zwischen dem "Gegebenen" - den Anschauungen - und der verbindenden Tätigkeit ("Synthesis") des Verstandes, die als eine Tätigkeit "a priori" herausgestellt wird. Die Synthesis der ursprünglichen Apperzeption sei der "Grund", der "a priori allem meinem bestimmten Denken vorhergeht". Ja, diese synthetische "Verrichtung" des Verstandes sei der oberste Grundsatz der gesamten menschlichen Erkenntnis. - Kants Denken ist durchgreifend von der Opposition "a priori / a posteriori" geprägt, also dem Unterschied zwischen dem "Gegebenen", das das erkennende Subjekt passivisch rezipiert, und dem, was das Subjekt an sich selbst ist und tut, nämlich
unter Abzug alles Gegebenen. Das hat u.a. zur Folge, dass das Subjekt und seine "transzendentale" Einheit gewissermaßen aus der sinnlichen Welt entrückt wird. Die Einheit des Subjekts kann demnach keine leiblich-seelische sein, denn das einheitsstiftendes Prinzip wird
im reinen Denken, genauer sogar
hinter dem faktischen, so und so bestimmten Denken angesiedelt...
Anders Hegel:
Ich aber, abstrakt als solches, ist die reine Beziehung auf sich selbst, in der vom Vorstellen, Empfinden, von jedem Zustand wie von jeder Partikularität der Natur, des Talents, der Erfahrung [74] usf. abstrahiert ist. Ich ist insofern die Existenz der ganz abstrakten Allgemeinheit, das abstrakt Freie. Darum ist das Ich das Denken als Subjekt, und indem Ich zugleich in allen meinen Empfindungen, Vorstellungen, Zuständen usf. bin, ist der Gedanke allenthalben gegenwärtig und durchzieht als Kategorie alle diese Bestimmungen.
Hegel paraphrasiert zustimmend, dass das denkende Ich das einheitsstiftende Prinzip sei, das alle seine Empfindungen, Vorstellungen, Zustände "durchzieht" und in ihnen "gegenwärtig" ist. Doch zuvor charakterisiert er "Ich" auch als
abstrakt, genauer: als ein
Produkt der Abstraktion. Das lässt bei Hegel immer aufhorchen, denn er ist u.a. auch ein scharfer Kritiker des "abstrakten Denkens".
"Abstrakt" drückt stets eine Relation aus. Was abstrakt ist, ist es stets im Verhältnis zu etwas Konkretem,
von dem abstrahiert wird. Etwas Abstraktes kann daher nicht "absolut abstrakt" sein, sondern immer nur relativ zu dem, wovon beim Abstrahieren abgesehen wird. Und Hegel zählt denn auch auf, wovon abstrahiert werden muss, um vom Ich und der "reinen Beziehung auf sich selbst" sprechen zu können: Vorstellen, Empfinden, jeder Zustand, jede natürliche Partikularität usw. Indem er also gewissermaßen den Preis nennt, um den allein die reine Selbstvergegenwärtigung des "Ich denke" (oder "Ich bin ich" oder "ich denke, ich bin"...) zu gewinnen ist, relativiert er sie, stuft sie herab zu einem bloßen "Moment" des Geistes.
Was Kant als den "obersten Grundsatz" der ganzen menschlichen Erkenntnis heraushebt - die transzendentale Einheit der Apperzeption hinterm "Ich denke" -, hat für Hegel somit nicht den Charakter des Prinzipiellen, Absoluten oder Unhintergehbaren. Er lässt dies selbstreflexive, abstrakte "Ich denke" durchaus gelten, er würdigt es sogar als "frei" und "existierend". Aber er ist weit davon entfernt, es zum Prinzip seiner Philosophie oder allen menschlichen Wissens zu machen.