Do 15. Mär 2018, 10:56
Es geht im Unbehagen um mehrere Themen, ganz generell auch darum, wie es zu dem Unbehagen in der Kultur kommt. Dieses Unbehagen hat eine Wurzel, die sich dann schnell verzweigt, je nach Lesart sind auch mehrere Wurzelstränge denkbar.
Kurz und gut ist die Kultur immer eine Gemeinschaft zum Schutz gegen die Natur, die uns eigentlich nur Scherereien macht. Weil dies so ist, wundert sich Freud über viele gesellschaftliche Strömungen, die die Natur geradezu verherrlichen, während von der Kultur niemand so recht begeistert ist und er forscht, warum dies so ist. Seine Antwort:
Der Preis der Kultur ist der Triebverzicht, bzw. der Triebaufschub, in eine moderne Form gebracht die Impulskontrolle. Also ein Set von Regeln, was von uns verlangt, uns zu benehmen und zu beherrschen. Vornehmlich natürlich die von Freud ausgemachten Grundtriebe der Aggression und der Sexualität.
Da das Ich sich im Grunde nicht beherrschen will, empfindet es dieses Regelset der Gesellschaft als unbehaglich, allerdings bietet die Gesellschaft zum Ausgleich Schutz an. Vor der Natur, aber auch vor Übergriffen durch andere. Dennoch bleibt eine konstante Spannung zwischen Ich und Gesellschaft bestehen.
Aus der Mixtur der einzelnen Bausteine und dem Grad ihrer Hemmung ergeben sich nun aber abgrenzbare Gesellschaften, z.B. individualistische, wie die europäoiden und eher kollektivistische. Wir finden einen unterschiedlichen Umgang mit den Komponenten Aggression und Sexualität, Religion, Mono- oder Polygamie usw.
Die Lösung ist die Sublimation, was im Grunde bedeutet, die Triebe aufzuschieben, nicht zu beseitigen und die Spannung auszuhalten. Das macht ein reifes Ich aus, dass es Ambivalenzen ertragen kann, also den inneren Konflikt, dass der Mensch, den man liebt, gleichzeitig auch der ist, der einen am meisten auf die Palme bringen und am tiefsten verletzen kann. Klingt theoretisch einfach, ist aber schwer zu ertragen. Ein Versagen dieser Ambivalenzfähigkeit ist ein Abrutschen in die alternierenden Pole der Idealisierung und Entwertung.
Etwas an sich analoges beschreibt Huntington für die Kulturen. Meistens sind Kulturen, Huntington zufolge, recht homogen, auch wenn sie sich alle mit der Zeit verändern, einige aber sind seiner Meinung nach zerrissen. Die Türkei, weil sie einerseits in die EU wollte/will und auf dem Weg in die Säkularisierung war, andererseits gibt es islamische Wurzeln. Erdogan stärkt nun wieder diese Wurzeln, macht das insofern richtig, auch wenn es uns nicht gefällt und auch nicht jenen Teilen der türkischen Gesellschaft die offener leben wollten.
Eine ähnliche Situation finden wir in Russland, wo Putin, nach der Demütigung als Regionalmacht bezeichnet zu werden nun für viele das Land zu alter „Stärke“ zurückgeführt hat, auch das braucht nicht ausgeführt zu werden. Nur kann ein Staat nicht auf die Couch gelegt werden und eine der Thesen, wie es dennoch gelingen kann, Ambivalenzen kollektiv zu tolerieren, ist, wenn eine kritische Masse kulturell Kreativer, diesen Schritt macht. Ein breiter Rest der Gesellschaft ist es gewohnt sich anzupassen und diese Bewegung mitzumachen.
Nur erleben wir gerade im fortschrittlichen Europa, die viele verstörende Tendenz, dass regressive Gruppen, die ein Einheit des Volkes beschwören an Kraft gewinnen, also eine merkwürdig kollektivistische Sehnsucht, vielleicht aber auch eine Reaktion auf einen Pluralismus, den immer mehr auch an sich differenzierte Menschen nicht mehr als gesund empfinden.
Das Regelset ist zwar noch einmal unterschiedlich innerhalb einer Gesellschaft – was man noch näher betrachten kann – aber entscheidend ist hier wie der gemeinsame, immer etwas ideale Mythos des Landes gelesen wird. So gelten Deutsche als fleißig, pünktlich, gründlich, Bier trinkend und weltoffen.
Ich glaube, dass es in Europa zwei Trends gibt. Nachdem Europa als gemeinsames Ideal im Grunde bröckelt, weil niemand so recht etwas damit anfangen kann, gibt es die eine Richtung, die versucht eine europäische Identität stärker zu beschwören, während es andere gibt, die eher die nationale Einheit betont. Jullien will ja, soweit ich das verstehe, sagen, dass nicht die kulturelle Einheit das entscheidende Moment ist, sondern die Spannung zwischen diesen Einheiten, der Übergang, der Prozess der wechselseitigen Integration, aber auch die Möglichkeit sich Versatzstücke aus entfernten Kulturen herauszugreifen und Buddhist zu werden.
Der Kern des Problems der Spannungen, die wir um das Thema Migration und der Umgang damit derzeit haben, liegt glaube ich in zwei konträren Thesen. Die eine besagt, dass, wenn man sich auf eine eigene nationale oder eben kulturelle Identität beruft, automatisch intolerant wird.
Die andere These besagt, dass man Toleranz und ein echtes Interesse an anderen, überhaupt erst auf dem Boden einer gesicherten eigenen Identität stattfinden kann.
Verkompliziert wird das durch zwei neuere Positionen. Erstens, durch eine linken Pluralismus, der die Unterschiede feiert, aber sich selbst und die eigenen Werte vergisst.
Was will man auch diskutieren, wenn man selbst nichts einzubringen hat und einfach nur alles gut, super, bereichernd findet und toleriert? Das Problem ist, dass wenn man alles bei sich toleriert, man irgendwann in der Situation ist, dass die Positionen, die man zu tolerieren bereit ist, einander nicht ausstehen können. Der Lösungsvorschlag der linken Pluralisten ist, allen anderen vorzuschlagen, die anderen doch auch zu tolerieren, wie man das selbst macht, an der Stelle wird man aber hegemonial und stülpt anderen über, was diese auch bei besten Willen nicht verstehen können, freilich ohne den Weg dahin zu weisen und zur Behauptung der Überlegenheit der eigenen Position zu stehen. Das hatte ich bereits näher ausgeführt.
Zweitens, wird das durch eine neue Rechte verkompliziert, die sich nicht mehr in stumpfer Manier mit den alten Nazis identifiziert, sondern modern, bestens vernetzt, in Teilen gebildet und onlineaffin ist, die im Grunde auch etwas befürworten, was wie ein Pluralismus aussieht und diesen deshalb erfolgreich kopieren kann, weil die meisten, die sich Pluralismus auf die Fahnen schreiben eigentlich auch keine Pluralisten sind, sondern eine pluralistische Pose einnehmen. Die neue Rechte sagt: Menschen anderer Kulturen sind voll super, sollen nur bitte bleiben, wo sie sind, denn wir passen nicht zusammen. Die lassen sich nicht mehr festnageln auf grölende Glatzen, die die Überlegenheit der weißen Rassen besingen. Sie sind smart, für bio Lebensmittel, gegen Globalisierung ...
Weiter verkompliziert und um die Anschluss an den Beginn wieder zu finden, wir das von einer Linken und einer oberflächlichen postmodernen Einstellung, die der Meinung ist, der Mensch sei an sich überhaupt nicht aggressiv, sondern erst die Kultur habe ihn dazu gemacht.
„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)