Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑ Mo 12. Mär 2018, 08:24
Wenn man versucht, die Vielfalt der Kulturen nach dem von mir weiter oben skizzierten “Ausschlussverfahren” zu verstehen, fixiert man sie und stellt sie fest. Man versteht sie dann (unter der Hand) gleichsam als Monolithe; also als einerseits in sich selbst einheitlich und andererseits streng voneinander getrennt. In diesem Sinn meint Jullien "es gibt keine kulturelle Identität" wortwörtlich. Denn Kulturen sind nichts, was in sich selbst “identisch” ist. Verwandlungen, Mutationen, Transformationen machen das “Wesen” der Kultur aus. In diesem Sinne ist es ganz falsch, kulturelle Charakteristiken zu fixieren oder überhaupt von der Identität einer Kultur zu sprechen.
Also, das verstehe ich soweit und dem stimme ich auch zu. Kulturen sind wandelbar und in sich auch in der Momentaufnahme nicht homogen, ja.
Dennoch gibt es ja insoweit kulturelle Eigenarten, die sich nicht nur auf Essen und Bauweisen beziehen, sondern auf Arten und Weisen im Umgang miteinandern. Direkt sein. Hier verstehen Europäer oft nicht, warum Chinesen freundlich lächeln, man aber nicht weiß, ob das Geschäft nun zustande kommt,. oder nicht. Sich im 13:00 Uhr zu treffen kann im arabischen Raum schon mal sehr breit interpretiert werden. Sein Herz auf der Zunge zu tragen, den anderen zu berühren ... alles Dinge, bei denen manches schief gehen kann.
Und da sind wir noch gar nicht bei der Weitergabe von Narrativen angekommen.
Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑ Mo 12. Mär 2018, 08:24
Jullien zeigt das an verschiedenen Beispielen. Samuel P. Huntingtons Kampf der Kulturen ist für ihn ein "denkwürdiges" Beispiel. Nach Jullien bringt Huntington die vermeintlich wichtigsten Kulturen der Welt (die »chinesische«, die »islamische«, die »westliche«) gewissermaßen in eine einfach Listenform. Und arbeitet streng nach der Logik der Unterschiede, die Jullien selbst kritisiert. Die Auflistung von Huntington funktioniert im Grund so, dass er die verschiedenen Kulturen in ihrer Identität beschreibt und dabei ihre charakteristischen Züge aufzählt. So als könne man so etwas wie eine kulturelle Identität Punkt für Punkt abarbeiten und in einer Tabelle anordnen, so dass am Ende dabei eine einfache Typisierung herauskommt. Das Ergebnis dieser Methode ist nach Jullien ziemlich verheerend:
“Indem er sie [die verschiedenen Kulturen] auf Banalitäten reduziert, indem er sie voneinander isoliert und in das einmauert, was vermeintlich ihre Besonderheiten, ihre am klarsten konturierten Unterschiede ausmacht, indem er sie auf ihre Identität zusammenschrumpfen lässt, können die Beziehungen zwischen ihnen eigentlich nur in einem »Zusammenstoß« enden, in einem clash, wie es im amerikanischen Originaltitel heißt.“
Huntingtons Buch habe ich gelesen und kann im Grunde die Kritik nicht bestätigen. Die Tragik des Buches liegt darin, dass es an sich kenntnisreich und lesenswert ist, aber um eine Kernthese herum gestrickt ist, diei schon bei der Fertigstellung widerlegt war. Bei Heinsohn hört sich das so an:
„Huntington wusste selbst, schon vor Erscheinen des Buches, dass er falsch liegt und schwenkte auf die Youth Bulge These von Gary Fuller und später Gunnar Heinsohn um. An die gelangte er, laut Heinsohn, „erst während der Schlussredaktion, seines 1996er Kampf der Kulturen (Clash of Civilizations). Während die Öffentlichkeit seinen „alten“ Hauptgedanken religiös-kultureller Konfliktpotenziale heftig diskutiert und die Theologen fragt, was denn wirklich In Koran und Bibel stehe, hat der berühmte Autor sich längst einem anderen Gedanken verschrieben.“
(Gunnar Heinsohn, Söhne und Weltmacht, Orell-Füssli 2003, S.30)
Bei Huntington so:
"Ein letzter und der wichtigste Punkt: Die Bevölkerungsexplosion in islamischschen Gesellschaften und das riesige Reservoir an oft bechäftigungslosen Männern zwischen 15 und 30 sind eine natürliche Quelle der Instabilität und der Gewalt innerhalb des Islam und gegen Nichtmuslime. Welche anderen Gründe auch sonst noch mitspielen mögen, dieser Faktor allein erklärt zu einem großen Teil die islamische Gewalt der achtziger und neunziger Jahre."
(Samuel Huntington, Kampf der Kuturen, Europa Verlag 1996, S. 433)
Ansonsten verweist gerade Huntington auf die Zerrisenheit mancher Staaten und die damit zusammenhängende Gefahr, er nennt hier Russland, die Türkei, Mexiko und Australien, bei denen zumindest Russland und die Türkei nun das Problem auf ihre Art gelöst haben, in dem die Führung wieder deutlich autoritärer wurde, in Mexiko tobt seit langen Jahren ein ausgedehnter Bürgerkrieg, Australien scheint da bislang recht unbeschadet zu sein. Nach Jullien sollte doch das, was Huntington als Zerrissenheit ansieht, eine große Möglichkeit sein, da hier schon gelebt wurde, was ihm attraktiv erscheint, mindestens so, wie ich ihn bislang verstehe.
Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑ Mo 12. Mär 2018, 08:24
Ein weiteres Beispiel Julliens ist Europa. Seinen Punkt erläutert er an der Entstehung der Europäischen Verfassung. Es sollte seinerzeit eine Präambel geschrieben werden, die gewissermaßen in Kurzform unsere europäische Identität festhalten sollte. Doch das Vorhaben scheiterte. Es gab am Ende keine Präambel. Warum? Da man vermutlich auf die Logik der Identität fixiert war, konnte es keine Einigung geben: Die einen behaupteten zum Beispiel, Europa sei christlich. Die anderen insistierten darauf, Europa sei in erster Linie laizistisch. Fragt man nach Entweder-Oder kommt man hier natürlich zu keinem Ergebnis. Jullien:
“Was Europa in Wirklichkeit ausmacht, ist natürlich der Umstand, dass es zugleich christlich und laizistisch (und Weiteres) ist. Es hat sich nämlich im Abstand zwischen den beiden entwickelt: in dem großen Abstand von Vernunft und Religion, von Glauben und Aufklärung.”
Dem stimme ich insofern zu, als ich glaube, dass Europa nie mehr als eine Wirtschaftsunion war und vermutlich auch längere Zeit nichts anderes sein wird. Die Europabegeisterung fiindet man in Brüssel, aber sonst ist das gemeinsame Haus Europa doch ein sehr virtuelles Konstrukt. Sprachliche und kulturelle Barrieren und Unterschiede, so weit das Auge reicht, natürlich sind da Freundschaften und Austausch möglich, aber ich finde man kann die Widerlegung der These einer gemeinsamen Identität nicht an etwas demonstrieren, was nie auch nur um Ansatz eine gemeinsame Identität hatte. Die Identität ist vielleicht der Krieg gegeneinander. Kommunistische Sphären im Osten, demokratische im Westen, ein tendenziell ärmerer katholischer Süden und eine eher reicherer protestantischer Norden, mal mehr, mal weniger Atheismus usw., das war doch immer ein Papiertiger, auch wenn man heute in Bulgarien feiert, in Holland studiert und in Norwegen arbeitet, es bleiben gravierende Unterschiede in so ziemlich allem.
Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑ Mo 12. Mär 2018, 08:24
Dabei hat Jullien keinen Kompromiss im Sinn oder so etwas wie ein Mittelding. Ihm kommt es (wie schon wiederholt gesagt) an darauf an, das “Zwischen” (von Christlichem und die Laizistischem) zu denken. Ich würde das ein Spannungsfeld nennen, ein Begriff den Jullien aber nicht nutzt, soweit ich sehe. Der laizistische Pol und der Vernunft-Pol sind für Europa in ihrem Spannungsverhältnis “bestimmend”:
“So kommt es, dass sich die Anforderungen des Glaubens im Abstand zu den Anforderungen der Vernunft geschärft haben und umgekehrt (und das sogar in ein und demselben Geist: Pascal): Von daher rühren der Reichtum oder die Ressourcen dessen, was Europa ausmacht. Oder besser: dessen, was »Europa macht«. Vor diesem Hintergrund ist jede Definition der europäischen Kultur, jede identitäre Annäherung an Europa nicht nur schrecklich vereinfachend und denkfaul. Sondern sie lässt verkümmern, führt zu Enttäuschungen und demobilisiert.”
Es ist in Europa sicher gelungen dass die Religion, vor allem natürlich das Christentum und ein gewachsener Atheismus (den ich von einem verordneten, wie im Kommunismus unterschieden würde) sich gegenseitig großzügig ignorierten, deshalb wundderte mich auch das Aufblitzen dieser kurzen Dawkins-Begeisterung hier in Europa, in den Staaten mag das anders aussehen. Redet zurecht kaum mehr einer von, aber weitere Teile der post68er Gesellschaft sind, genau wie ich ganz 'natürlich' religionskritisch geprägt, Religionen standen für alles Reaktionäre. Ich bin ja auch mit Drewermann, Ranke-Heinemann usw. aufgewachsen und religiöse Menschen sonderbar bis zurückgeblieben zu finden, war normal für mich. Nicht mal boshaft, sondern mit der "Wie kann man nur?" Attitüde, weil man es doch heute besser wissen kann und weiß. Das sehe ich heute sehr deutlich anders, obwohl ich kein religiöser Mensch bin. Sowohl historisch als psychologisch oder philosophisch ist da vieles neu und deutlich anders zu bewerten. Es wäre zu viel da näher drauf einzugehen.
Ich frage mich aber, wie man Verständnis für religiöse Kulturen haben will, wenn man keines für die eigenen religiösen Wurzeln hat? Dann kann man nur auf der Basis kommunzieren, dass die anderen eben noch nicht so weit sind und schreibt ihnen mal schroff mal total einfühlsam vor, wie sie ihren Irrtum ablegen können. Ich glaube aber, dass die Krise des Naturalismus keinesfalls nur eine ist, die sich auf kosmologische Modelle und Gehirn/Geist Erklärungen bezieht, sondern, dass sie viel breiter ist und man erkennen muss, dass all die Vernünftelei zwar irgendwo gut ist, aber emotional nicht satt macht.
Europa ist einfach nicht zu vermarkten, auch wenn ich mal eine ziemlich beeindruckende Schilderung der Vorzüge des Klein-Klein gelesen habe, da werden nie im Leben alle mitgehen.
Die Nichthomogenität, die ich auch sehe, würde ich aber nicht zu einem Programm machen, da die Blocks selbst schon homogen sind. Und die Abspaltung des Rationalen, auf was wir uns seit der Aufklärung fokussieren, vom Emotionalen ist das Problem, was wir heute auf sehr vielen Ebenen haben.
Am Eklatantesten vielleicht auf der Ebene der Moral. Aber auch das wäre gesondert zu diskutieren. Dass wir aber eine Krise der Moral haben, die ihren Höhepunkt m.E. darin findet, dass sehr viele, sehr ernsthaft glauben, man könne und solle doch komplett drauf verzichten ist glaube ich was, was man sehen kann, oder?