Die Autorin schreibt in ihrer Antwort:
In aller Regel verbinden wir mit Identität ein stabiles Selbstbild: Dass wir uns als Personen verstehen, die für bestimmte Überzeugungen, Beziehungen und Lebensweisen verlässlich eintreten. Identität setzt also in erster Linie
ein Selbstverhältnis voraus, das uns ermöglicht, die Frage zu beantworten, wer wir sind und wofür wir
stehen.
und weiter:
(...)muss eine Biografie kein in sich geschlossener Lebenszusammenhang sein, um von einer gleichbleibenden Identität auszugehen. Sie muss Brüche und Scherbenhaufen jedoch sinnvoll integrieren können.
Das meinte ich als Eingangsdefinition. Sie benennt die Voraussetzungen für eine Identität.
Dies auf Menschen mit kognitiven, intellektuellen Beeinträchtigungen (geistige Behinderung) angewendet, würde bedeuten, dass viele Menschen mit dieser Beeinträchtigung (geistige Behinderung) keine Identität hätten. Das stimmt so einfach nicht.
Wir "Normalen" setzen bestimmte Fähigkeiten voraus, an der wir Identität festmachen. Diese Fähigkeiten haben aber nicht alle Menschen im gleichen Umfang.
Vor meinem Auge hatte ich einige Menschen, die ich kenne, als ich das las, und sagte mir "Aber Hallo, natürlich haben diese eine eigene Identität". Sie kommunizieren, haben Vorstellungen davon, was ihnen gefällt, was nicht, davon wie sie leben wollen, und wie sie nicht leben wollen, sie können sich abgrenzen (durchaus in abgestufter Form)- Dies alles ist oft nicht auf den ersten Blick erkennbar oder nicht für uns verständlich. Wenn wir "Normalen" mit unserem Verständnis, mit unserem Vorstellungen dies beurteilen, kommt dabei oft raus, sie haben nach unseren Vorstellungen eben keine Identität. Es wird noch immer nur bei dem angesetzt, was diese Menschen nicht können- z.B. alleine und selbstständig die Brüche im Leben zu integrieren, oder und bei schwerst geistigen Behinderung die Frage, ob diese überhaupt ein Bewusstsein von sich selbst haben- anstatt bei dem anzusetzen, was sie können. (Das ist der Defizitansatz, das Gegenteil ist der Kompetenzansatz).
Ein Link zu diesem Thema:
https://www.ph-heidelberg.de/fileadmin/ ... u_2012.pdf
Menschen, die aufgrund einer Krankheit, oder Behinderung "nur" körperliche Beeinträchtigungen haben, sollte sich die Frage nach der Identität überhaupt nicht mehr stellen. Es liegt oft an den Lebensbedingungen, die ihnen vorgibt, dass sie das, was die Autorin beschreibt, nicht umsetzen können.
An Demenz/Alzheimer erkrankte Menschen sind (wohl) nicht mehr "dieselben" Menschen wie vor Ausbruch der Krankheit. Natürlich haben sie dennoch eine Identität. In dem Buch "Der alte König in seinem Exil" beschreibt der Autor folgende Szene: Er (Sohn) kommt in das Heim, in dem sein Vater jetzt lebt. Der Vater sitzt an einem Tisch mit einem ebenfalls an Alzheimer erkrankten anderen Mann. Die beiden unterhalten sich vergnügt und mit viel Lachen in einer eigenen Sprache, die der Sohn nicht versteht. Der Sohn fühlt sich etwas ausgeschlossen. Diese beiden Männer haben eine Identität. Sie kommunizieren miteinander, sie wissen wer sie sind, haben offensichtlich den gleichen Humor, und sie sind in ihrer Welt sehr wohl in der Lage, für das was die Autorin oben beschreibt, verlässlich einzutreten (wenn wir sie denn lassen). In ihrer Welt, nicht in unserer Welt, der nicht Erkrankten. Aber sie haben eine Identität.
Auch eine Persönlichkeitsänderung - besser vielleicht eine Veränderung der Einstellung zum Leben- aufgrund einer schweren Erkrankung, die mit sich bringt, dass jemand Unterstützung braucht, um das alltägliche Leben zu meistern, bewirkt doch kein Verlust der Identität. Sie hat sich vielleicht geändert. Aber die Identität ist doch nicht verloren gegangen. Sie sind doch nicht Identitätslos.
Der, die, das.
Wer, wie, was?
Wieso, weshalb, warum?
Wer nicht fragt bleibt dumm!
(Sesamstraße)