Identität und Differenz

Aspekte metaphysischer Systementwürfe und der Ontologie als einer Grunddisziplin der theoretischen Philosophie können hier diskutiert werden.
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Hermeneuticus
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Fr 11. Aug 2017, 12:22

Hegels vielleicht berühmteste logische Formel ist die "Identität von Identität und Nicht-Identität". Wohl verstanden, kann sie ein Schlüssel zum Verständnis seines Werkes sein. Aber ihre Bedeutung reicht weit darüber hinaus. Sie deckt auf, was es mit Identität schlechthin auf sich hat.

In der Philosophie-Geschichte wurde sehr viel über den Begriff der Identität nachgedacht, und das mit Recht. Denn obwohl dieser Begriff der einfachste und selbstverständlichste zu sein scheint, ist er immer noch ein offenes Problem. Davon kann man sich leicht überzeugen, wenn man den Wikipedia-Artikel "Identität" liest. Um nur einige moderne philosophische Stimmen daraus zu zitieren:
In der Philosophie der Mathematik kommt die Analyse mathematischer Gleichheit je nach Position zu unterschiedlichen Ergebnissen:
Mauthner kritisiert den Identitätsbegriff als entweder vollständig tautologisch, also „… so leer, daß er außerhalb der Logik schon den Verdacht des Blödsinns erregen müßte“, oder als Fälschung bzw. Betrug, da er vorhandene Unterschiede ignoriert oder verschweigt. „In der Wirklichkeit gibt es keine Gleichheit …“
Auch in der analytischen Philosophie ist der Begriff der Identität als Beziehung gelegentlich kritisiert worden. So heißt es etwa bei Wittgenstein (Tractatus 5.5301): „Dass die Identität keine Relation zwischen Gegenständen ist, leuchtet ein.“ Er erläutert dies unter 5.5303 mit den Worten: „Von zwei Dingen zu sagen, sie seien identisch, ist ein Unsinn, und von Einem zu sagen, es sei identisch mit sich selbst, sagt gar nichts.“ Russell hatte bereits in den Principles of Mathematics (1903) ähnlich formuliert: “Identity, an objector may urge, cannot be anything at all: two terms plainly are not identical, and one term cannot be, for what is it identical with?” (§ 64), und auch bei Frege finden sich verwandte Überlegungen: „Die Gleichheit fordert das Nachdenken heraus durch Fragen, die sich daran knüpfen und nicht ganz leicht zu beantworten sind. Ist sie eine Beziehung?“ (Über Sinn und Bedeutung, S. 25). In neuerer Zeit hat C.J.F. Williams vorgeschlagen, die Identität als Beziehung zweiter Stufe statt als Beziehung zwischen Gegenständen aufzufassen, und Kai Wehmeier hat argumentiert, dass eine objektuelle Identitätsrelation aus logischer Sicht überflüssig und aus metaphysischer Perspektive fragwürdig ist.
Es erstaunt freilich, dass der Artikel Hegel und seine Problematisierung des Identitätsbegriffs mit keiner Silbe erwähnt. Ein frappierendes Beispiel von Ignoranz, zumal die zitierten Einwände sich schon bei Hegel finden...

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Als Behauptung gelesen, besagt Hegels Formel etwa: Identität und Nicht-Identität setzen sich gegenseitig voraus und bilden darum eine Einheit. Das richtet sich kritisch gegen einen "abstrakten" oder "formellen" Identitätsbegriff, wie er in der logischen Identitätsformel a = a zum Ausdruck kommt oder auch in Leibniz' berühmtem "Gesetz" von der Identität des Ununterscheidbaren: "Zwei Dinge sind identisch, wenn sie in allen ihren Eigenschaften ununterscheidbar sind.“ Dagegen macht Hegel mit seiner Formel ein Verständnis von "konkreter" und "lebendiger" Identität geltend. Aus diesem Grund gehört die Frage nach dem Wesen des "Abstrakten" bzw. nach dem Verfahren der Abstraktion unmittelbar zum Thema.

Ich eröffne diese Diskussion ohne ausgearbeitetes Konzept. Ich möchte die diversen Gedanken, Bilder, Vorstellungen und Erinnerungssplitter, die mich bei diesem Thema umschwirren, selbst erst nach und nach in eine Ordnung bringen. Darum hätte ich nichts dagegen, wenn dieser Thread mit einem "brain-storming", einer assoziativen Sammlung von Einfällen, Hinweisen, Zitaten usw. begänne. Tut Euch also keinen Zwang an! :idea:




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iselilja
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Fr 11. Aug 2017, 17:16

Zum Abstrakten fällt mir spontan die Identifikation via Personalausweis ein. Klar ist hier, dass Person P mit Ausweis A in so gut wie keiner Hinsicht Ähnlichkeiten aufweist. Jedoch die essentiellen Informationen, die der Ausweis "enthält", lassen sich zu den prüfbaren Informationen der Person in Beziehung setzen, sodass eine informelle Identität I(A)=I(P) in abstrakter Weise bestehen kann.




Segler
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Fr 11. Aug 2017, 21:28

Identität lässt sich auf vielfältige Weise definieren.

Die Vorwürfe Hegels, Russels, und Wittgensteins beziehen sich auf die numerische Identität. Zwei Dinge können nicht numerisch identisch sein. Die numerische Identität eines Gegenstandes mit sich selbst ist nichtssagend. Es gibt aber auch andere Definitionen. So kann man qualitative Identität oder, noch schwächer, Art-Identität formulieren.

Ein Beispiel aus der Mathematik:

4 = 1 + 3

Das ist eine Form der Identität, die sich den oben genannten Vorwürfen entzieht.




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iselilja
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Fr 11. Aug 2017, 22:55

Soweit ich weiß geht der Begriff auf eine juristische Bedeutung zurück und meint im Grunde nicht mehr als "Ja, das ist er" - es ging also ursprünglich um die Identifikation von Personen im antik-juristischen Sinne. Im Wiktionary findet sich allerdings eine etwas andere Etymologie, die allerdings auch nur bis ins 18.Jh reicht. Dort wird der Wortstamm ens ganz weggelassen und stattdessen das Ursprungswort idem herangezogen. Hm. Keine Ahnung, warum.

Mit den späteren vor allem math. logischen Definitionen, die sich mit dem Problem der Identifikation von Abstrakta auseinanderzusetzen hatten, traten dann allerdings Begriffsprobleme auf. Wie es allerdings genau dazu kam, dass man zusätzlich zu aequus noch idens für notwendig hielt, kann ich mir auch nicht erklären. Vielleicht finden wir ja bei Hegel eine Antwort? :-)




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iselilja
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Mo 14. Aug 2017, 18:23

Ich möchte hier (ergänzend zu Hegel) auch auf die lange Beschäftigung in der Antike hinweisen. Die fundamentalen Fragen wurden dort bereits (m.E. umfassend) erläutert. Was ist das Eine? Was ist Gleichheit? Was ist Ähnlichkeit? Was bedeutet diesseits und jenseits? etc.

Denn ich musste gerade die letzten Tage feststellen, dass die Bedeutung des Begriffes Identität vielen überhaupt nicht mehr bewußt ist, obwohl sie ihn alltäglich dennoch intuitiv richtig verwenden.

Zum näheren Verständnis müssen wir allerdings eine Zäsur machen und zwar dort, wo die Mathematik mit ihren Definitionen begann, die Bedeutung des Begriffes ins Abstrakte zu verschieben. Klar ist, dass sich ontologische Zusammenhänge nicht ohne weiteres in rein abstrakte Zusammenhänge verschieben lassen - insofern ist die Notwendigkeit einer neuen Bedeutung des Begriffes nachvollziehbar. Das bedeutet jedoch nicht, dass die math. Bedeutung die ontologische ersetzen kann.

Identität meint schlicht und einfach "dieses und nichts andres". Wenn man eine Person nach Jahren wieder trifft, dann hat man dieselbe (genau diese) Person wieder getroffen, nicht irgend eine andere (andernfalls hat man sie nicht wiedergetroffen, sondern eine andere Person getroffen). Sicher, sie hat sich verändert, weist Unterschiede auf - aber es ist dieselbe Person. DAS bedeutet Identität.

Wie macht man nun im Abstrakten (im Reicht der Zahlen bspw.) das deutlich, was damit gemeint ist. Denn die Mathematik behandelt ihrem Anspruch nach gar keine ontologischen Fragestellungen, sie behandelt nur eine Kategorie des Entitären, nämlich die Quantität. Und dennoch scheint es nötig auf diesen Aspekt einzugehen, da man sonst bspw. auch nicht sagen könnte, welcher Term was bedeutet. 2+3 = 10-5 = 1+4 ..diese Terme nun sind gleichwertig aber nicht identisch. Auch deren Ergebnis 5 ist nicht mit 5 identisch, sondern gleichwertig (also gleich =). Der Term in der Mitte nun ist subtraktiv, die beiden anderen additiv. Die Aufgabenstellung: wähle aus den sichtbaren Termen denjenigen aus, der subtraktiv ist, setzt eine Identifikation voraus, denn nur durch Identifikation (der Term in der Mitte ist subtraktiv (analog: den Mann habe ich gestern schon gesehen)) ist das Urteil entsprechend möglich. Vertauscht man nun die Reihenfolge der drei Terme, wird man dennoch den subtraktiven Term wieder erkennen und auf ihn zeigen können - sprich identifizieren.

Ein anderes Beispiel für Identität in der Mathematik wären Ableitungen wie x' von x. Hier ist offensichtlich was gemeint ist. "Strich" weist darauf hin, dass sich x verändert, aber dennoch dem Wesen nach (hier also des abstrahierten Gehaltes nach) x bleibt.

All die Begriffsirrtümer beruhen nur darauf, dass Gleichheit als Identität missverstanden wird. Das eine hat aber mit dem anderen nichts zu tun. Sicher ist Gleichheit als Kriterium nötig um Identität beurteilen zu können, dennoch sind beide an sich schon situative Urteile mit unterschiedlicher Bedeutung.




Hermeneuticus
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Mo 14. Aug 2017, 21:24

Ein weiterer Gedankensplitter:
Abstrakta werden aus Konkreta dadurch gebildet, dass über letztere invariant bezüglich einer Äquivalenzrelation gesprochen wird. Dabei bedeutet die Invarianz die Unveränderlichkeit bezüglich wahr und falsch. (...) Für eine gelungene Anwendung des Abstraktionsverfahrens hat man sich also zu fragen, ob eine und wenn ja, welche Äquivalenzrelation vorliegt bzw. bestimmt werden kann, relativ zu der invariant Aussagen über konkrete Gegenstände gemacht werden können.

(aus: P. Janich, Sprache und Methode, S.148)
Als Beispiel für das Abstraktionsverfahren führt Janich Zahlen an. Vier, IIII, 4, 0100, quattro, four... sind verschiedene Zahlwörter, die alle eine Zahl mit demselben Zählergebnis bezeichnen. Hinsichtlich der Zählgleichheit sind diese verschiedenen Ausdrücke also gleichwertig, äquivalent. Oder anders gesagt: Hinsichtlich des Zählergebnisses lässt sich über die verschiedenen Zahlwörter invariant sprechen, ohne dass aus einer wahren Aussage eine falsche (und umgekehrt) würde. Somit ist "die Zahl 4" ein Abstraktor, der einen abstrakten Gegenstand bezeichnet, und zwar in Relation zu den konkreten Zahlwörtern.

Wieso ist diese (auf Frege zurückgehende) Rekonstruktion der Abstraktion für unser Thema relevant?
  • Weil sie abstrakte Gegenstände als Resultat aus einer Reflexion interpretiert. D.h. es wird klargestellt, dass Abstrakta nichts "Gegebenes" sind, über das man stolpern könnte wie über einen herumliegenden Stein. Abstrakta sind vielmehr Gegenstände nur im übertragenen Sinne bzw. Gegenstände zweiter Stufe.
  • Weil das Abstraktum präzise in seinem Verhältnis zu den Konkreta angegeben wird. Und dieses Verhältnis ist derart bestimmt, dass das Abstrakte eine Pluralität von konkreten Gegenständen voraussetzt. Die Konkreta bilden die "Abstraktionsbasis", die stets anzugeben ist, weil die "Identität" des Abstraktums nur in Relation zu dieser Basis aus verschiedenen Elementen korrekt bestimmt ist. Oder anders gesagt: Die Identität des abstrakten Gegenstandes beruht nicht auf einer (tautologischen) Gleichheit "mit sich selbst", sondern auf einer bestimmten Negation von Unterschieden.




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iselilja
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Mo 14. Aug 2017, 23:03

Hermeneuticus hat geschrieben : Weil das Abstraktum präzise in seinem Verhältnis zu den Konkreta angegeben wird. Und dieses Verhältnis ist derart bestimmt, dass das Abstrakte eine Pluralität von konkreten Gegenständen voraussetzt. Die Konkreta bilden die "Abstraktionsbasis", die stets anzugeben ist, weil die "Identität" des Abstraktums nur in Relation zu dieser Basis aus verschiedenen Elementen korrekt bestimmt ist. Oder anders gesagt: Die Identität des abstrakten Gegenstandes beruht nicht auf einer (tautologischen) Gleichheit "mit sich selbst", sondern auf einer bestimmten Negation von Unterschieden.
Der oft zitierte und sicher auch genauso oft kritisierte Satz "A ist mit A identisch" oder auch oft in der Form "A ist mit sich selbst identisch" ist an sich nicht falsch (wie ich weiter oben bereits versucht habe zu erklären). Allerdings (Du weist bereits darauf hin) die Tautologie, die sich aus A=A ergibt, lässt ihn unsinnig erscheinen. Das liegt aber daran, dass man für Identität damals keinen eigenen Operator eingeführt hat, was man wohl hätte tun müssen. Das heißt, dieses "=" soll eigentlich die Identität formalisiert darstellen. Der Gleichheitsoperator ist schuld, dass Identität mit Gleichheit fälschlicher Weise all zu oft gleichgesetzt wird.

Zur Negation von Unterschieden.. da hatte ich die letzten Tage reichlich zu lesen und diskutieren. Letztendlich (ich hoffe allerdings, ich werde noch eines besseren belehrt) führt dieser Verweis, dass es im Grunde auf die richtige Behandlung der Unterschiede ankäme zu der falschen Einsicht, dass A=A Identität Im Sinne von Ununterscheidbarkeit ergo Gleichheit bedeute. Ich will auch nicht einer womöglich ergiebigeren Diskussion vorgreifen. Aber die Unterscheidbarkeit ersetzt nicht die Identität. Das lass ich jetzt einfach mal so als Gedankensplitter stehen. :-)




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