Aus der Mathematik lernen

Die Philosophie der Mathematik fragt, ob mathematische Objekte wie Zahlen existieren. Sie fragt nach der erstaunlichen Effektivität mathematischer Modelle in den Naturwissenschaften und wie mathematische Erkenntnisse gewonnen werden.
Wolfgang Endemann
Beiträge: 1286
Registriert: Di 23. Apr 2024, 14:30

So 7. Jul 2024, 10:22

Hier liegen zwei Erklärungsversuche zum Unterschied von analytischen Urteilen (a) und synthetischen (s) vor. Der erste ist unbrauchbar, weil er völlig auf der Oberfläche von Beispielsätzen verbleibt.

"Analytische Urteile
Junggesellen sind unverheiratet. (1)
Katzen sind Tiere. (2)
Tische sind Möbelstücke. (3)
Brüder sind männliche Geschwister. (4)
Goldringe bestehen aus Gold. (5)
Uhren messen die Zeit. (6)

Synthetische Urteile
Junggesellen sterben früher. (1)
Katzen sind eigen. (2)
Tische sind selten aus Stein. (3)
Brüder gibt es öfter als Schwestern. (4)
Goldringe sind teuer. (5)
Uhren sind Statussymbole. (6)"

(Ich habe nummeriert, um darauf eingehen zu können)

Die Urteile a1 bis a6 sind korrekt. Sie beruhen auf dem aristotelischen Sprachaufbau, also sind 1. widerspruchsfrei definiert (wie a1 und a6) und stehen 2. im Falle von a2 bis a5 in einem korrekten Teil-Ganzes-Verhältnis (mengentheoretisch: Enthaltensein). Nach diesen Beispielsätzen sind a-Urteile trivial.

s2 ist eine sinnlose Aussage, wäre s2 verletzt, wäre es eine leere, aristotelisch unkorrekt gebildete Aussage. Grundlage eines Allgemeinbegriffs (wie des Gattungsbegriffs) ist eine unterscheidbare Gemeinsamkeit, das, was Katzen als Katzen erkennbar macht und von anderen Tierarten unterscheidet. Das gilt für alle 'Tierarten. Wenn mit s2 die Individuiertheit der Katzen, dh die große Variationsbreite der Individualwesen, gemeint ist, dann ist das trivial oder unbegründet (trivial, weil Katzen hochentwickelte Tiere sind, unbegründet, weil wir ihre Eigenartigkeit nur mit der Differenz zu unserer Eiugenartigkeit messen).

Der strenge Begriff der Kontingenz meint eine Tatsache, die keinen erkennbaren Grund hat. Das sind zB Naturkonstanten (jedenfalls müssen sie als kontingent gelten, solange man sie noch nicht auf Gesetzmäßigkeiten zurückführen kann). s1 und s4 können weitgehend wissenschaftlich begründet werden, sind also nicht kontingent. Insbesondere s3 gilt nicht für die Steinzeit, und in neuerer Zeit ist s3 funktional erklärbar. s5 und s6 sind falsche Verallgemeinerungen.

Diese beispielhaften Erläuterungen taugen nichts. Dann schauen wir uns die begriffliche Unterscheidung an. Daß es unendlich viele Primzahlen gibt, kann eine kompetente Sprecherin nicht einsehen, es folgt aber aus der Definition der Primzahleigenschaft, ist also im Begriff enthalten, man muß mathematisch nachschauen. Der Satz ist nicht analytisch. Aber synthetisch ist er auch nicht, den in keiner möglichen Welt kann die Zahl der Primzahlen endlich sein.

Diese Definition von a und s Urteilen ist Unsinn.




Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 28172
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

So 7. Jul 2024, 10:35

Stefanie hat geschrieben :
Sa 6. Jul 2024, 22:46
Ich habe nach einem Beispiel gesucht, in dem es nicht um Körper, Schwere, Ausdehnung geht, also ohne naturwissenschaftlichen Bezug.
Wolfgang Endemann hat geschrieben :
So 7. Jul 2024, 10:22
... Der erste ist unbrauchbar, weil er völlig auf der Oberfläche von Beispielsätzen verbleibt.
Es wurde nach Beispielen [ohne naturwissenschaftlichen Bezug] gefragt und das habe ich geliefert...




Benutzeravatar
Stefanie
Beiträge: 8759
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 20:09

So 7. Jul 2024, 10:38

Herr Endemann, noch charmanter geht es nicht?



Der, die, das.
Wer, wie, was?
Wieso, weshalb, warum?
Wer nicht fragt bleibt dumm!
(Sesamstraße)

Benutzeravatar
Stefanie
Beiträge: 8759
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 20:09

So 7. Jul 2024, 10:45

Kurze, einfache Definitionen. Beruhend auf Kant.

Ein „analytisches“ Urteil bezieht sich auf Prädikate, die bereits im Subjekt enthalten sind; diese Aussagen erläutern gewissermassen nur.

Synthetische Urteile verbinden ein Subjekt mit einem Prädikat, das im Begriff des Subjekts nicht bereits enthalten ist. Also sind synthetische Urteile Erkenntnisse, die unser Wissen „erweitern“, insofern eine zuvor unbekannte Eigenschaft des Subjekts an diesem festgestellt wird.


Die Beispiele mit der Katze passen.
Wer schon mal eine Katze hatte oder noch hat, wird das "eigen" zu 100% bestätigen. Erfahrungswissen. Die empirischen Studien dazu kann man sich millionenfach auf Youtube anschauen.



Der, die, das.
Wer, wie, was?
Wieso, weshalb, warum?
Wer nicht fragt bleibt dumm!
(Sesamstraße)

Wolfgang Endemann
Beiträge: 1286
Registriert: Di 23. Apr 2024, 14:30

So 7. Jul 2024, 10:52

@ Stefanie
Ich wollte nicht uncharmant sein. Aber ich muß doch auf Logik beharren. Wenn ein Widerspruch auftaucht, muß ich die Aussage, die zu ihm führt, verwerfen. Bitte das nicht persönlich zu nehmen. Ich hatte am Anfang der Diskussion darum gebeten, die Sache locker als einen Kantschen Irrtum zu nehmen, der von Kant aufgrund des bekannten Wissens der Welt durchaus naheliegend war, der jedoch heute neu zu bewerten ist. Ich bin kein Antikantianer, eher im Gegenteil. Aber es muß möglich sein, diesen Sachverhalt neu zu klären, auch wenn das heißt, bestimmte Argumente definitiv zurückzuweisen. Diese Diskussion wurde nicht von mir verschärft, ich habe nur reagiert.




Wolfgang Endemann
Beiträge: 1286
Registriert: Di 23. Apr 2024, 14:30

So 7. Jul 2024, 11:05

Wie ich schon sagte: die Unendlichkeit der Menge der Primzahlen liegt im Begriff, ist aber nicht unmittelbar erkennbar. Damit ist sie nach der einen Definition analytisch, nach der anderen nicht. Und das gilt für alle nichttrivialen mathematischen Sachverhalte. Hier spielt dann noch eine Rolle der spezifische Charakter der mathematischen Sachverhalte, sie werden heute, nach der großen Grundlagenkrise der Mathematik, als axiomatisierte verstanden, dh nicht als Realstrukturen, sondern als mögliche, setzbare, als hypothetische Wahrheit. Die Sache verkompliziert sich, weil es Begriffsrealisten gibt.




Benutzeravatar
Stefanie
Beiträge: 8759
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 20:09

So 7. Jul 2024, 11:10

Meine Meinung ist, man kann nur etwas widerlegen, was verstanden wurde.

Es ist erstmal unerheblich, ob das Beispiel von Kant selber (Körper Ausdehnung, schwer) nach heutigen Stand des Wissens vielleicht von synthetischen Urteil zu einem analytischen Urteil geworden ist.
Es geht um die dahinter stehende Grundannahme, das mit dem Prädikat, Subjekt und dieses Erfahrungswissen.

So ich räume jetzt mich und meine Wohnung auf; wer weiß vielleicht stopler ich dabei über etwas, was mein Erfahrungswissen erweitert.



Der, die, das.
Wer, wie, was?
Wieso, weshalb, warum?
Wer nicht fragt bleibt dumm!
(Sesamstraße)

Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 28172
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

So 7. Jul 2024, 11:18

In einer wohlwollenden und konstruktiven Atmosphäre würde ich hier einfach flapsig ergänzen, dass Kant ja auf der "Suche" war nach Urteilen die analytisch sind, aber dennoch unser Wissen erweitern.




Benutzeravatar
Stefanie
Beiträge: 8759
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 20:09

So 7. Jul 2024, 12:15

Irrte Kant in seiner Grundthese, analytische und synthetische Urteile und Erfahrungswissen, oder mit seinem Beispiel Körper Schwere Ausdehnung? Das ist ein Unterschied.
Wie heißt der Spruch so schön, übertragbar auf alle Philosophen. Mit Kant gegen Kant und nicht Mit meinen Begriffen gegen Kant.



Der, die, das.
Wer, wie, was?
Wieso, weshalb, warum?
Wer nicht fragt bleibt dumm!
(Sesamstraße)

Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 28172
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

So 7. Jul 2024, 13:10

Ich meine, dass der Grundgedanke richtig ist, ob die Analysen zu manchen Begriffen im Einzelnen korrekt sind, darüber kann man natürlich gerne streiten.




Wolfgang Endemann
Beiträge: 1286
Registriert: Di 23. Apr 2024, 14:30

So 7. Jul 2024, 13:18

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 7. Jul 2024, 11:18
In einer wohlwollenden und konstruktiven Atmosphäre würde ich hier einfach flapsig ergänzen, dass Kant ja auf der "Suche" war nach Urteilen die analytisch sind, aber dennoch unser Wissen erweitern.
Dem stimme ich nicht nur subjektiv zu, sondern es ist analytisch wahr und erweitert unser Wissen. Es ist die Begriffsanalyse der analytischen Sätze der Mathematik, daß sie implizites Wissen in explizites verwandeln und so unser explizites Wissen erweitern.




Wolfgang Endemann
Beiträge: 1286
Registriert: Di 23. Apr 2024, 14:30

So 7. Jul 2024, 13:26

Stefanie hat geschrieben :
So 7. Jul 2024, 12:15

Wie heißt der Spruch so schön, übertragbar auf alle Philosophen. Mit Kant gegen Kant und nicht Mit meinen Begriffen gegen Kant.
Zweimal nein.
1. Es gab genug Philosophen , die völlig danebenlagen. Mit denen kann man nicht gegen sie positive Erkenntnisse erzeugen, allenfalls die ihres Danebenliegens.
2. geht es gerade nach Kant darum, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, wenn wir nur mit Hilfe anderer zur Erkenntnis gelangen, sind wir unmündig.




Benutzeravatar
Stefanie
Beiträge: 8759
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 20:09

So 7. Jul 2024, 13:46

Nöö.

Zuerst versucht man das Original zu verstehen, was schrieb Kant, was meinte Kant, welche Begriffe hat er verwendet oder vielleicht sogar erst entwickelt, usw. Das ist die Grundlage. Das kam mir hier in der Diskussion viel zu kurz.



Der, die, das.
Wer, wie, was?
Wieso, weshalb, warum?
Wer nicht fragt bleibt dumm!
(Sesamstraße)

Benutzeravatar
Quk
Beiträge: 4329
Registriert: So 23. Jul 2023, 15:35

So 7. Jul 2024, 14:18

Wolfgang Endemann hat geschrieben :
So 7. Jul 2024, 13:26
Stefanie hat geschrieben :
So 7. Jul 2024, 12:15

Wie heißt der Spruch so schön, übertragbar auf alle Philosophen. Mit Kant gegen Kant und nicht Mit meinen Begriffen gegen Kant.
1. Es gab genug Philosophen , die völlig danebenlagen. Mit denen kann man nicht gegen sie positive Erkenntnisse erzeugen, allenfalls die ihres Danebenliegens.
Ist dieses Danebenliegen nicht das, was Stefanie meinte? (Kants Danebenliegen mit Kant aufzeigen.)




Wolfgang Endemann
Beiträge: 1286
Registriert: Di 23. Apr 2024, 14:30

So 7. Jul 2024, 15:12

"Zuerst versucht man das Original zu verstehen, was schrieb (x), was meinte (x), welche Begriffe hat er verwendet oder vielleicht sogar erst entwickelt, usw. Das ist die Grundlage."
Nein, nicht DIE Grundlage. Das kann man immer mal wieder so machen, und hauptsächlich, wenn man sich neu in einer Disziplin bewegt, später immer weniger. Dagegen muß die eigene Reflexion immer weiter wachsen. Gerade Kant hat den Wert des Selberdenkens sehr hoch angesetzt.
Adorno hat mal gesagt, man muß mit Kant Hegel kritisieren und mit Hegel Kant. Das kann man aber nur, wenn man selbst einen Weg, eine Metaebene zu finden versucht. Sonst bleibt es ein scholastischer Streit.




Wolfgang Endemann
Beiträge: 1286
Registriert: Di 23. Apr 2024, 14:30

So 7. Jul 2024, 15:17

@ Quk
Siehe meinen Vorkommentar. Aber soweit es das eingeschränkte Ziel war, ist das schon in Ordnung. Ich dachte allerdings, hier geht es nicht um Kants Konzept, sondern um die Einordnung des mathematischen Denkens.




Benutzeravatar
Quk
Beiträge: 4329
Registriert: So 23. Jul 2023, 15:35

So 7. Jul 2024, 15:34

Wolfgang Endemann hat geschrieben :
So 7. Jul 2024, 15:12
"Zuerst versucht man das Original zu verstehen, was schrieb (x), was meinte (x), welche Begriffe hat er verwendet oder vielleicht sogar erst entwickelt, usw. Das ist die Grundlage."
Nein, nicht DIE Grundlage. Das kann man immer mal wieder so machen, und hauptsächlich, wenn man sich neu in einer Disziplin bewegt, später immer weniger. Dagegen muß die eigene Reflexion immer weiter wachsen. Gerade Kant hat den Wert des Selberdenkens sehr hoch angesetzt.
Adorno hat mal gesagt, man muß mit Kant Hegel kritisieren und mit Hegel Kant. Das kann man aber nur, wenn man selbst einen Weg, eine Metaebene zu finden versucht. Sonst bleibt es ein scholastischer Streit.
Sehe erneut einen unnötigen Einwand. Stefanie erwähnt die Grundlage. Grundlagen sind keine Erweiterungen, sondern Grundlagen. Wolfgang sagt, Grundlagen sind verwendbar, aber die eigene Reflexion müsse weiter wachsen. In dieser Forderung nach Weiterwachsen sehe ich keinen Einwand gegen Stefanies Forderung, mit einer Grundlage zu beginnen. Und Stefanie hat bestimmt nichts gegen ein Weiterwachsen nachdem die Grundlage geklärt ist.




Benutzeravatar
Stefanie
Beiträge: 8759
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 20:09

So 7. Jul 2024, 16:47

Quk
Und Stefanie hat bestimmt nichts gegen ein Weiterwachsen nachdem die Grundlage geklärt ist.
Genau.



Der, die, das.
Wer, wie, was?
Wieso, weshalb, warum?
Wer nicht fragt bleibt dumm!
(Sesamstraße)

Wolfgang Endemann
Beiträge: 1286
Registriert: Di 23. Apr 2024, 14:30

So 7. Jul 2024, 17:37

Gut, dann sind wir uns ja fast einig. Ich schränke ein: fast, denn eine Schichtung Grundlagen-Weiterdenken ist auch nicht ganz richtig. Der Erkenntnisprozeß ist progressiv-regressiv, nicht linear, in einer Kreisbewegung wie der der Reflexion ist ja nicht eindeutig, was vorne, was hinten ist. Und manchmal sind Revolutionen nötig, die das ganze bisherige Gebäude zum Einsturz bringen.




Benutzeravatar
Stefanie
Beiträge: 8759
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 20:09

So 7. Jul 2024, 17:39

Damit eine Revolution erfolgreich ist, muss man wissen, wie das Gebäude aufgebaut ist, sonst findet man nicht die richtige Stelle, an der man ansetzen muss, damit das Gebäude zusammen fällt.



Der, die, das.
Wer, wie, was?
Wieso, weshalb, warum?
Wer nicht fragt bleibt dumm!
(Sesamstraße)

Antworten