Das Höhlengleichnis

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Jörn Budesheim
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Mo 15. Apr 2024, 08:21

Siebentes Buch 1

»Und nun«, fuhr ich fort, »vergleiche unsere Natur hinsichtlich Bildung und Unbildung mit folgendem Zustand: Stelle dir Menschen vor, etwa in einer unterirdischen, höhlenartigen Behausung mit einem Ausgang, der sich über die ganze Breite der Höhle zum Tageslicht hin öffnet; in dieser Höhle sind sie von Kindheit an, gefesselt an Schenkeln und Nacken, so dass sie an Ort und Stelle bleiben müssen und nur geradeaus schauen können; den Kopf können sie wegen der Fesseln nicht herumdrehen; Licht erhalten sie durch ein Feuer, das hinter ihnen weit oben in der Ferne brennt; zwischen diesem Feuer und den Gefesselten führt oben ein Weg; an ihm entlang stelle dir einen niedrigen Maueraufbau vor, ähnlich wie Schranken bei den Gauklern vor den Zuschauern errichtet werden, über die hinweg sie ihre Kunststücke zeigen.«

»Ich sehe es vor mir«, sagte er.

»Stelle dir nun längs dieser Mauer Menschen vor, die allerlei Geräte vorbeitragen, die über diese Mauer hinausragen, Statuen von Menschen und anderen Lebewesen aus Holz und Stein und alle möglichen Erzeugnisse menschlicher Arbeit, wobei die Vorbeitragenden, wie es ja natürlich ist, teils reden, teils schweigen.«

»Ein seltsames Gleichnis und seltsame Gefesselte, von denen du da sprichst«, sagte er.

»Ein Ebenbild von uns«, erwiderte ich. »Denn haben diese Leute von sich und den anderen je etwas anderes gesehen als die Schatten, die das Feuer auf die gegenüberliegende Wand der Höhle wirft?«

»Wie denn«, sagte er, »wenn sie zeitlebens gezwungen sind, ihre Köpfe unbeweglich zu halten?«

»Gilt nicht dasselbe auch von den Gegenständen, die vorbeigetragen werden?«

»Gewiss.« »Wenn sie nun miteinander sprechen könnten, glaubst du nicht, sie würden das, was sie da sehen, für die wahren Dinge halten?«

»Notwendigerweise.«

»Wie aber, wenn das Gefängnis auch noch einen Widerhall von der gegenüberliegenden Wand her hätte? Wenn dann einer der Vorübergehenden spräche, glaubst du, sie würden meinen, dass etwas anderes spräche als der vorbeiziehende Schatten?«

»Nein, beim Zeus«, sagte er.

»Überhaupt werden sie«, fuhr ich fort, »nichts anderes für wahr halten als die Schatten der verfertigten Gegenstände.«

»Unbedingt«, sagte er.

(Übersetzt von Gernot Krapinger. Die Übersetzung von Schleiermacher gibt es online frei verfügbar, z.B hier: https://www.studium-universale.de/plato ... hnis-text/)




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Jörn Budesheim
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Mo 15. Apr 2024, 08:36

Worum geht es? Wenn wir uns an den Anfang des Textes halten, dann geht es um Bildung und Unbildung. Es ist meines Erachtens wichtig, das festzuhalten.

Mit den Menschen in der Höhle sind wir selbst gemeint »Ein Ebenbild von uns«, erklärt Sokrates. Hinter unserem Rücken geschehen Dinge, die wir nicht wahrnehmen, die aber unsere Sicht der Wirklichkeit bestimmen. Man könnte vielleicht sagen, dass wir Gefangene bestimmter Überzeugungen sind, weil wir den Mechanismus nicht durchschauen, der uns unsere Sicht der Dinge aufzwingt.

Das ist der Zustand der Unbildung, in dem man zusammen mit anderen an bestimmte Dinge glaubt, die man nicht überprüft hat und auch nicht ohne weiteres überprüfen kann, weil "man" in den allgemeinen Strukturen gefangen ist.

Vielleicht können wir hier einmal das Gleichnis betrachten, ohne uns ausschließlich auf die vermeintlichen platonischen Himmel zu kaprizieren, was offensichtlich nur dazu führt, den eigentlichen Inhalt des Buches und seine Methode der Erkenntnisgewinnung zu verschleiern. Das Werk, in dem das Gleichnis steht, heißt schließlich "Der Staat". Und im ersten Buch geht es um die Frage, was eigentlich unter Gerechtigkeit zu verstehen ist. Statt diesen und andere Begriffe einfach hinzunehmen, also im Zustand der Unbildung zu verharren, rüttelt Sokrates seine Mitbürger auf und fragt nach den Voraussetzungen unserer Urteilsbildung: Was ist eigentlich Gerechtigkeit? Ziel ist es, so könnte man vielleicht sagen, im Dialog die Fesseln abzulegen, den Blick zu wenden und so die eigene Situation zu durchschauen, also, wenn man so will, eine Form der Aufklärung.




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Mo 15. Apr 2024, 09:12

So charakterisiert Platon Sokrates oft: Wichtig ist der erste Schritt vom Irrtum zum Nichtwissen. Falsche Überzeugungen müssen erst aus dem Weg geräumt werden, damit Erkenntnis möglich wird. Auch hier kann man sagen, dass dies das Selbstverständnis der Philosophie nachhaltig beeinflusst hat. Es ist eben oft die Aufgabe der Philosophie, weit verbreitete Annahmen in Frage zu stellen, zu kritisieren und zu prüfen, ob wir überhaupt gute Gründe haben, das anzunehmen, oder ob wir nicht vielleicht grundlos etwas annehmen, was vielleicht ganz anders sein könnte.

(Wilholt in seiner Vorlesung über die Geschichte der Philosophie)

Der Schritt vom Irrtum zum Nichtwissen besteht (zumindest unter anderem) darin, die eigene Situation besser zu verstehen. Das heißt, die Gefangenen befinden sich im Irrtum, wissen es aber im Grunde nicht; der entscheidende Schritt wäre, zumindest zu begreifen, dass man sich in der Situation des Nichtwissens befindet, und nicht einfach Gefangener des eigenen Irrtums zu bleiben. Das ist meines Erachtens ein Sinn des Gleichnisses, einen Blick auf die eigene Situation zu werfen, zumindest so, wie Sokrates sie sieht.




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Mo 15. Apr 2024, 09:30

Wichtig erscheint mir auch der geschichtliche Hintergrund. Sokrates lebte vor ca. zweieinhalbtausend Jahren in Athen. Athen gilt gemeinhin als Wiege der Demokratie. In der Region gab es aber noch andere bedeutende sogenannte Stadtstaaten, die ganz andere Regierungsformen "ausprobierten", z.B. Sparta, Theben und andere. Zwischen diesen Stadtstaaten (und nicht nur zwischen ihnen) kam es häufig zu Konflikten, die teilweise auch zu Kriegen führten. Mit anderen Worten: Die Frage nach dem richtigen Staat war damals von großer Dringlichkeit. Ich denke, das ist auch ein Hintergrund (Huch?), den man im Hinterkopf haben sollte, wenn man das Höhlengleichnis liest. Es geht nicht nur um irgendeine Form von Erkenntnistheorie.

Aber ist diese Frage heute nicht mehr aktuell? Wohl kaum. Was also ist der gerechte Staat?

Zu dem spannenden historischen Hintergründen gibt es hier eine Vorlesung.

*Platon ca. 428 v. Chr. bis 348 v. Chr.




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Fr 19. Apr 2024, 18:11

Platon, in Höhlengleichnis hat geschrieben : in dieser Höhle sind sie von Kindheit an, gefesselt an Schenkeln und Nacken, so dass sie an Ort und Stelle bleiben müssen und nur geradeaus schauen können; den Kopf können sie wegen der Fesseln nicht herumdrehen;
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 15. Apr 2024, 08:36
Man könnte vielleicht sagen, dass wir Gefangene bestimmter Überzeugungen sind, weil wir den Mechanismus nicht durchschauen, der uns unsere Sicht der Dinge aufzwingt.
Stefanie aus Süddeutsche Kant "Was ist Aufklärung" zitierend hat geschrieben : "Satzungen und Formeln", so Kant, "sind die Fußschellen einer immerwährenden Unmündigkeit."
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 15. Apr 2024, 08:36
Worum geht es? Wenn wir uns an den Anfang des Textes halten, dann geht es um Bildung und Unbildung. Es ist meines Erachtens wichtig, das festzuhalten.
...
Ziel ist es, so könnte man vielleicht sagen, im Dialog die Fesseln abzulegen, den Blick zu wenden und so die eigene Situation zu durchschauen, also, wenn man so will, eine Form der Aufklärung.




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Fr 19. Apr 2024, 19:58

Omri Boehm - um dessen Buch "radikaler Universalismus" es in dem vorhergehenden Zitat aus der Süddeutschen ging - geht in dem nämlichen Buch der Frage nach, was es bei Kant bzw. in seinem Aufsatz "Was ist Aufklärung" eigentlich heißt, selbst zu denken, bei Kant liest er dann folgendes:

"[Kant räumt] unmittelbar nach seinem Gebot zum Selbstdenken ein, dass die meisten Menschen dieses nicht aus eigener Kraft leisten können. Er ist der Meinung, dass Aufklärung erst durch »Wenige« erreicht werden muss, denen es gelingt, »durch eigene Bearbeitung ihres Geistes […] das Joch der Unmündigkeit selbst« abzuwerfen. Wenn und nur wenn diese besonderen wenigen anschließend »den Geist einer vernünftigen Schätzung des eigenen Werths und des Berufs jedes Menschen selbst zu denken um sich verbreiten«, ist eine Aufklärung der und durch die Öffentlichkeit möglich."

Ich denke, auch hier haben wir eine deutliche Parallele zu Platons Höhlengleichnis. Denn auch bei Platon macht sich schließlich nicht die gesamte Höhlengesellschaft gemeinsam auf den Weg aus der Höhle ans Licht der Aufklärung.




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Fr 19. Apr 2024, 20:11

In den letzten Tagen ist mir noch ein anderes Motiv durch den Kopf gegangen, für das ich leider keine Quelle gefunden habe, ich habe es oben schon erwähnt, nämlich die Vorstellung, dass hinter dem eigenen Rücken etwas geschieht, das das eigene Denken und Handeln bestimmt, ohne dass man sich dessen bewusst ist.

Bekannte Kandidaten dafür sind natürlich das Unbewusste, gesellschaftliche Traditionen oder Strukturen. Wenn man naturalistisch sein möchte, kann man auch das Gehirn als dasjenige nehmen, was sozusagen hinter dem eigenen Rücken entscheidet, was wir denken und tun, was den Vorteil hat, dass es zu einer anatomischen Kuriosität führt.

Für mich ist die Frage offen, ob diese Dinge in der Tradition Platons stehen oder ob alle zusammen in einer Tradition stehen, aus der schon Platon geschöpft hat.




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Sa 20. Apr 2024, 07:03

Ich habe gestern zufällig ein Buch über antike und moderne Skepsis in die Hand genommen. Die Skepsis der Antike hat ihren Ursprung in der vorsokratischen Metaphysik, die auf der grundlegenden Unterscheidung zwischen Sein und Schein basiert. Dabei spielen die griechische Religion und Literatur eine große Rolle: In der griechischen Tragödie und bei Homer werden die Helden durch die Macht der Verblendung getäuscht und erkennen die wahre Natur der Welt nicht. Tragik und Metaphysik hängen also eng zusammen. Es ist offensichtlich, dass auch das Höhlengleichnis vor diesem Hintergrund zu sehen ist:

"Die antike Skepsis geht auf die vorsokratische Metaphysik zurück. Diese entspringt einer einfachen Unterscheidung, nämlich der Unterscheidung zwischen Sein und Schein. Die griechische Kultur, von der sich die meisten der tradierten metaphysischen Grundbegriffe herleiten, welche in die europäischen Begriffssprachen von Philosophie und Wissenschaft eingegangen sind, basiert zu wesentlichen Teilen auf dieser Unterscheidung, die ihre Vorgeschichte in der griechischen Religion und Literatur hat.

Die Unterscheidung von Sein und Schein ist kein philosophisches Artefakt, keine plötzliche Entdeckung eines reinen Denkens, sondern Ausdruck einer Erfahrung mit der auf eine bestimmte Weise gedeuteten Welt. In der griechischen Tragödie und bereits bei Homer werden die Heroen in ein tragisches Geschehen verstrickt, indem sie durch Atê, die Macht der Verblendung, getäuscht werden und nicht mehr sehen, wie es wirklich um sie bestellt ist. Bei Homer ist Atê gar eine Tochter des Zeus, die im Bündnis mit dessen Gattin sogar ihn, den mächtigsten unter den Göttern, getäuscht hat (Ilias, 19. Gesang, 91ff.).

Die Erfahrung, dass die Götter und schließlich auch die Mitmenschen anders erscheinen können, als sie sind, gibt Anlass zu einer Reflexion darauf, wer oder was sie wirklich sind. Denn ohne die Besinnung auf das Sein, das sich hinter dem Schein verbirgt, laufen wir ständig Gefahr, Opfer eines grausamen Schicksals zu werden. Unsere existenzielle Aufgabe als Sterbliche (und d.h. als endliche Wesen) besteht darin, den Schein möglichst zu durchschauen. Das menschliche Leben wird von der klassischen griechischen Literatur, insbesondere im Epos und in der Tragödie, grundsätzlich als die Auseinandersetzung zwischen Sein und Schein verstanden. Wir sind im Leben der beständigen Gefahr ausgesetzt, uns und unsere Mitwelt nicht so zu erkennen, wie sie wirklich ist.

Der Verdacht, dass selbst die Götter etwas im Schilde führen könnten, das den Sterblichen verborgen ist und allenfalls vom Dichter dargestellt werden kann, ist für die frühgriechische Literatur und für die Tragödie leitend. Der Unterschied zwischen Sein und Schein, der die Metaphysik begründet, ist also im Ursprung des Abendlandes kulturell verankert.2 Insofern liegt auch Friedrich Nietzsche völlig richtig, wenn er von der vorsokratischen Philosophie als einer »Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen« spricht. In der Tat gehören Tragik und Metaphysik zueinander, insofern sie auf dem Unterschied von Sein und Schein in der Form eines Unterschieds zwischen den Göttlichen und den Sterblichen aufbauen.

Daher wird das Denken, der Logos, der allein uns einen Zugang zum wahren Sein eröffnet, in der vorsokratischen Philosophie auch als göttlich aufgefasst, was den prophetischen Gestus erklärt, mit dem viele Vorsokratiker auftreten. Die Suche nach dem wahren Sein führt die Vorsokratiker ständig auf die Einsicht des Scheincharakters unseres gewöhnlichen Wissens, das daher als bloße Annahme, als Doxa der Sterblichen, entlarvt wird, die nicht wissen, was wirklich der Fall ist...


(Markus Gabriel)




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So 21. Apr 2024, 17:01



Scobel über das Höhlengleichnis, auch ein gewisser Hans Blumenberg hat einen Gastauftritt.

(Dass man den Film Matrix als spätes Echo des Höhlengleichnisses sehen kann, wurde schon erwähnt, aber ich habe den Film Welt am Draht von Rainer Werner Fassbender ganz vergessen, auf den Scobel noch hinweist.)

Hier Ausschnitte aus der Caption des Films: "Was trägt dieses uralte Gleichnis dazu bei, jetzt die Wirklichkeit zu erkennen?
...
Verkürzt gesagt behauptet Platon, dass wir in einer Höhle sitzen. Alles was wir sehen, sind Schatten an der Wand. Wenn Platon heute gelebt hätte, hätte er sicher gesagt, die Höhle ist ein digitaler Bunker. Und die Schatten das sind die Muster und Bilder und Icons und Schriften auf den gläsernen, glatten Benutzeroberflächen, über die wir streichen, um an die Wirklichkeit dahinter zu kommen oder sie zu erkennen.
...
Wenn man Platons Absicht heute mit einem Modewort umschreiben müsste, kann man sagen, dass es Platon darum geht, dass ihr ein echtes Transformationserlebnis durchlebt. Plato will, dass wir alle durch das Licht zu einer besseren, anderen, heute würden wir sagen nachhaltig transformierten Lebensweise gelangen.

Was Platons uraltes Gleichnis mit der Matrix-Trilogie, Descartes und dem Thema Erleuchtung zu tun hat? Darum geht's im Video."




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