Das Gehirn - ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption

Psychiater und Philosoph
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Jörn Budesheim
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www.information-philosophie.de hat geschrieben : Zusammenfassung

Denkt das Gehirn? Ist es der Schöpfer der erlebten Welt, der Konstrukteur des Subjekts? Dieser verbreiteten Deutung der Neurowissenschaften stellt das Buch eine ökologische Konzeption gegenüber: Das Gehirn ist vor allem ein Vermittlungsorgan für die Beziehungen des Organismus zur Umwelt und für unsere Beziehungen zu anderen Menschen. Diese Interaktionen verändern das Gehirn fortlaufend und machen es zu einem biographisch, sozial und kulturell geprägten Organ. Fazit: Es ist nicht das Gehirn für sich, sondern der lebendige Mensch, der fühlt, denkt und handelt.

Mit der 4. Auflage legt der Autor eine erneut aktualisierte und erweiterte Fassung seines wegweisenden Werkes vor, das von der Fachwelt und Presse begeistert aufgenommen wurde. '''Eine Kritik der neuronalen Vernunft ... eine fesselnde Studie ... Fuchs hat das befreiende Wort gesprochen, auf das die neurowissenschaftliche Debatte hierzulande lange hat warten müssen.''

Frankfurter Allgemeine Zeitung: ''Ein fundamentaler phänomenologisch-philosophischer Gegenentwurf einer Ökologie des Gehirns, die das Gehirn wieder in den Körper und den Körper wieder in die Umwelt verlegt.'' (Hier geht es zu der Rezension)

''Mit seinem Buch ''Das Gehirn - ein Beziehungsorgan'' profiliierte sich Thomas Fuchs als ein führender Vertreter in der Philosophie der Psychiatrie und Neurowissenschaften in Deutschland.''' Psychologie heute.

Prof. Dr. Dr. Thomas Fuchs, Psychiater und Philosoph, leitet die Sektion Phänomenologische Psychopathologie und Psychotherapie an der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg.

Hier kann man das Buch "Das Gehirn - ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption" von Thomas Fuchs als PDF herunterladen > https://www.researchgate.net/publicatio ... Konzeption




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Jörn Budesheim
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www.information-philosophie.de hat geschrieben :

Anthropologie: Thomas Fuchs sieht das Gehirn als Beziehungsorgan

Thomas Fuchs sieht das Gehirn als Beziehungsorgan

Von seinen Fachgebieten her, der Psychiatrie und der psychologischen Medizin, erarbeitet Thomas Fuchs, Professor an der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg, in seinem Buch einen Gegenentwurf zu der für ihn reduktionistischen Sichtweise, die das Gehirn einseitig als Organ des Geistigen und nicht als Organ eines Lebewesens sieht.

Für Fuchs führt der in den Naturwissenschaften bislang so erfolgreiche Weg der schrittweisen Elimination des Subjektiven in eine methodologische Sackgasse: Die Abtrennung des jeweils Subjektiven von den Phänomenen ist dann nicht mehr anwendbar, wenn es um die Reduktion der Subjektivität selbst geht. Im Falle des Gehirns gerät der Reduktionismus in unlösbare Aporien. Die Rede über Gehirne setzt voraus, was angeblich von ihnen hervorgebracht werden soll: bewusste und sich miteinander verständigende Personen. Er sieht in der Neurobiologie eine spezialisierte Form menschlicher Praxis, die der Lebenswelt entstammt und die nicht einen Standpunkt außerhalb von ihr gewinnen kann. Die alltäglich erlebte und vertraute Welt, in der wir gemeinsam leben, bleibt unsere primäre und eigentliche Wirklichkeit. Sie ist nicht das bloße Produkt einer anderen, nur wissenschaftlich erkennbaren Realität, kein Scheinbild oder Konstrukt des Gehirns, sondern die Grundlage aller wissenschaftlichen Erkenntnis ...

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Jörn Budesheim
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Mi 17. Jan 2024, 16:13

Nauplios hat geschrieben :
So 14. Jan 2024, 19:55
Von einer "existenziellen Paradoxie" spricht Thomas Fuchs gleich zu Beginn seiner Abhandlung (S. 13)

Kritisch gegen den Konstruktivismus wendet er ein:

"Nehmen wir an, ich würde bei Bewusstsein am offenen Gehirn operiert (was möglich ist, weil das Gehirn über keine Schmerzempfindung verfügt) und könnte während der Operation mittels eines Spiegels mein eigenes Gehirn sehen– würde dann mein Gehirn sich selbst sehen? Doch eigentlich träumt mein Gehirn ja nur eine Welt, und es träumt mich selbst. Ich aber, obgleich selbst ein Traum, träume nun auch mein Gehirn, das zugleich mich träumt ... Zerstäubungen der Stirne ... Entschweifungen der Schläfe ... Es wird Zeit, aus solchen Albträumen zu erwachen." (S. 15)

Zur Illustration bringt er das Bild von René Magritte: La condition humaine.

Sind Paradoxien per se Albträume?
Nauplios hat geschrieben :
So 14. Jan 2024, 19:59
Der Ausweg aus solchen Paradoxien: Verkörperte Subjektivität.




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Jörn Budesheim
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Mi 17. Jan 2024, 16:28

Hier der fragliche Ausschnitt in einem etwas größeren Zusammenhang:
In Gottfried Benns Erzählung „Gehirne‘‘ aus dem Jahr 1916 begegnen wir Dr. Rönne, einem jungen Arzt, der als Pathologe zwei Jahre lang Gehirne seziert hat. Diese Tätigkeit löst schließlich eine existenzielle Krise in ihm aus. Er verliert den Kontakt zur Wirklichkeit, und sein Grübeln kreist nur noch um die Objekte seiner Sektionen:
  • „Oft fing er etwas höhnisch an: er kenne diese fremden Gebilde, seine Hände hätten sie gehalten. Aber gleich verfiel er wieder: sie lebten in Gesetzen, die nicht von uns seien, und ihr Schicksal sei uns so fremd wie das eines Flusses, auf dem wir fahren. Und dann ganz erloschen, den Blick schon in der Nacht: um zwölf chemische Einheiten handele es sich, die zusammengetreten wären ohne sein Geheiß, und die sich trennen würden, ohne ihn zu fragen‘‘ (Benn 1950).
Die Erkenntnis, sich selbst einem solchen materiellen Gebilde zu verdanken, stürzt Rönne in eine radikale Selbstentfremdung: „Wo bin ich hingekommen? Wo bin ich? Ein kleines Flattern, ein Verwehen.‘‘ Er verliert den festen Boden seiner Existenz und verfällt am Ende in Wahnsinn:
  • „Was ist es denn mit den Gehirnen? Ich wollte immer auffliegen wie ein Vogel aus der Schlucht; nun lebe ich außen im Kristall. Aber nun geben Sie mir bitte den Weg frei, ich schwinge wieder – ich war so müde – auf Flügeln geht dieser Gang – mit meinem blauen Anemonenschwert – in Mittagsturz des Lichts – in Trümmern des Südens – in zerfallendem Gewölk – Zerstäubungen der Stirne – Entschweifungen der Schläfe‘‘.
Die Krise des jungen Arztes resultiert aus einer existenziellen Paradoxie: Er selbst, der Beobachtende, Forschende und Denkende, scheint nichts weiter zu sein als das Objekt seiner Studien, nämlich ein Klumpen grauer Materie, die ihren eigenen Gesetzen folgt und mit der menschlichen Welt nichts zu tun hat.

Und doch beruht Rönnes Krise letztlich nur auf einer Mystifikation, der er ebenso unterliegt wie viele Neurowissenschaftler heute: Denn es ist gar nicht das Gehirn, das denkt. Was Rönne in den Händen hält, oder was der Hirnforscher heute auf seinen Tomogrammen sieht, ist nicht der „Sitz der Seele‘‘, nicht die Person selbst, ja nicht einmal ihr einziges Trägerorgan.

Diese Behauptung wird weithin auf Ungläubigkeit treffen. Ist denn nicht längst erwiesen, dass alles, was uns als Personen ausmacht, in den Strukturen und Funktionen des Gehirns besteht?2 – Nun, gewiss bestreitet niemand, dass das Gehirn inniger mit der Subjektivität und Personalität eines Menschen verknüpft ist als etwa seine Hand oder seine Milz – ohne diese wäre er immer noch die gleiche Person wie zuvor. Nach vollständigem Erlöschen aller Großhirnfunktionen jedoch würde er zwar noch leben, könnte aber nichts mehr erleben und sich in keiner Weise mehr zum Ausdruck bringen. Doch können wir deshalb eine Person mit ihrem Gehirn identifizieren?

Nun, was mich selbst betrifft, so habe ich mein Gehirn zwar noch nicht kennengelernt, aber jedenfalls ist es nicht 1,82 Meter groß, es ist kein Deutscher, kein Psychiater; es ist auch nicht verheiratet und hat keine Kinder. Das stellt meine Bereitschaft zur Identifikation mit diesem Organ bereits auf eine harte Probe.3 Aber es wird noch bedenklicher: Mein Gehirn sieht auch nichts und hört nichts, es kann nicht lesen, nicht schreiben, tanzen oder Klavier spielen – eigentlich kann es selbst überhaupt nur wenig. Es moduliert elektrophysiologische Prozesse, weiter nichts. Recht besehen, bin ich doch eher froh, nicht mein Gehirn zu sein.

Doch der Hirnforscher, dem ich dies darlege, würde nur nachsichtig den Kopf schütteln über meine Naivität und versuchen, mich aufzuklären: „Es erscheint Ihnen nur so, als wären Sie mehr oder etwas anderes als Ihr Gehirn. Alles, was Sie sind und tun, entsteht nur in ihm. Tatsächlich sehen Sie, wenn Sie mich jetzt ansehen, nur ein von Ihrem Gehirn erzeugtes Bild, nicht die Wirklichkeit. Und wenn Sie Klavier spielen, erzeugt Ihr Gehirn den Raum, in dem Sie zu spielen glauben, die Töne, die Sie zu hören meinen, und es steuert alle Ihre Bewegungen. Es bringt auch Ihren Entschluss hervor, Klavier zu spielen, ja sogar Ihr Gefühl, Sie selbst zu sein. All das können wir mit geeigneten Verfahren in Ihrem Gehirn feststellen. Deshalb ist es grundsätzlich richtig, wenn ich sage, Sie seien Ihr Gehirn.‘‘

Von diesen wissenschaftlichen Erkenntnissen belehrt, bin ich zunächst tief beeindruckt von den Fähigkeiten meines Gehirns. Sollte ich mich doch so getäuscht haben über die Welt und über mich selbst? All das wäre in Wahrheit nur das Erzeugnis eines knapp 2 Kubikdezimeter großen, blinden Organs, verborgen im Dunkel meines Schädels? – Wie den armen Rönne beginnt mich ein metaphysischer Schwindel zu erfassen. Nun, vorläufig kann ich mich damit beruhigen, dass, soweit mir bekannt, bislang noch kein Hirnforscher bei seiner Tätigkeit dem Wahnsinn verfallen ist. Doch vielleicht, so argwöhne ich, liegt dies ja nur an einer nicht genügenden Konsequenz des Denkens. Womöglich rettet sich der Hirnforscher ja nur im letzten Moment immer wieder in die Sicherheit der Lebenswelt zurück. Denn die Paradoxien, in die dieses neurowissenschaftliche Menschenbild uns stürzen könnte, sind tatsächlich schwindelerregend: Was ist Wirklichkeit, was Schein? Existiert die Welt nur in meinem Kopf? Bin ich nur ein Wachtraum meines Gehirns? Das zumindest ist die Auffassung von Gerhard Roth:
  • „Unser Ich, das wir als das unmittelbarste und konkreteste, nämlich als uns selbst, empfinden, ist – wenn man es etwas poetisch ausdrücken will – eine Fiktion, ein Traum des Gehirns, von dem wir, die Fiktion, der Traum nichts wissen können‘‘ (Roth 1994, 253).
Das führt zu verwirrenden Konsequenzen. Nehmen wir an, ich würde bei Bewusstsein am offenen Gehirn operiert (was möglich ist, weil das Gehirn über keine Schmerzempfindung verfügt) und könnte während der Operation mittels eines Spiegels mein eigenes Gehirn sehen – würde dann mein Gehirn sich selbst sehen? Doch eigentlich träumt mein Gehirn ja nur eine Welt, und es träumt mich selbst. Ich aber, obgleich selbst ein Traum, träume nun auch mein Gehirn, das zugleich mich träumt ... Zerstäubungen der Stirne ... Entschweifungen der Schläfe ...
Es wird Zeit, aus solchen Albträumen zu erwachen.




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Nauplios hat geschrieben :
Mo 15. Jan 2024, 12:12
[...]

"Er selbst, der Beobachtende, Forschende und Denkende [gemeint ist der junge Arzt Dr. Rönne aus Gottfried Benns Erzählung Gehirne] scheint nichts weiter zu sein als das Objekt seiner Studien ... " (Thomas Fuchs; Das Gehirn - ein Beziehungsorgan; S. 14)

Der "Beobachtende" kommt auf beiden Seiten der Beobachtung vor: als Beobachter ("er selbst") und als Beobachteter ("als Objekt seiner Studien"). Fuchs spricht von einer "Paradoxie". [...]

"Menschliche Subjektivität ist verkörperte oder leibliche Subjektivität", schreibt Fuchs in einem Artikel für die "Information Philosophie"

Damit wird die "Paradoxie", die Fuchs sieht und die auch ich sehe, entfaltet, unsichtbar gemacht, invisibilisiert.
[...]




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Nauplios ist der Ansicht, dass die "Paradoxie", die Fuchs sieht und die auch er sieht, mit Hilfe des Konzepts der "verkörperten Subjektivität" entfaltet, unsichtbar gemacht, invisibilisiert wird.

Ich lese den Text von Fuchs jedoch anders. Der "Beobachtende" kommt eben gerade nicht auf beiden Seiten der Beobachtung vor: als Beobachter ("er selbst") und als Beobachteter ("als Objekt seiner Studien")! Rönnes Krise basiert letztlich nur auf einer Mystifikation, der er ebenso unterliegt wie viele Neurowissenschaftler heute, schreibt Fuchs. Was Rönne in den Händen hält, ist gerade nicht die Person selbst, der Beobachtete kommt also gemäß Fuchs nicht auf beiden Seiten der Beobachtung vor, denn er selbst ist gar nicht identisch mit dem Objekt seiner Studien.

Rönne mag glauben in einer existenziellen Paradoxie zu stecken, aber er irrt sich schlicht. Deswegen gilt es auch nicht, eine angebliche Paradoxie zu invisibilisieren, sondern deutlich zu machen, auf welchen verfehlten Voraussetzungen der Glaube an sie beruht.
Fuchs hat geschrieben : Die Krise des jungen Arztes resultiert aus einer existenziellen Paradoxie: Er selbst, der Beobachtende, Forschende und Denkende, scheint nichts weiter zu sein als das Objekt seiner Studien, nämlich ein Klumpen grauer Materie, die ihren eigenen Gesetzen folgt und mit der menschlichen Welt nichts zu tun hat.

Und doch beruht Rönnes Krise letztlich nur auf einer Mystifikation, der er ebenso unterliegt wie viele Neurowissenschaftler heute: Denn es ist gar nicht das Gehirn, das denkt. Was Rönne in den Händen hält, oder was der Hirnforscher heute auf seinen Tomogrammen sieht, ist nicht der „Sitz der Seele‘‘, nicht die Person selbst, ja nicht einmal ihr einziges Trägerorgan.




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Mi 17. Jan 2024, 17:43

Das sind doch zwei Paar Schuhe, Menschen untereinander und Mensch und Umwelt.
Das Gehirn ist dann ein soziales Organ, wenn ich es mit Menschen zu tun habe. Sonst nicht. Sonst kann man nicht von einem Beziehungsorgan reden, es sei denn, man verwässert den Begriff Beziehung völlig.

Das Gehirn denkt schon. Die wesentlichen Anteile, die zum Denken gehören, passieren im Gehirn. Aber es nimmt nicht wahr. Zum Wahrnehmen haben wir die fünf Organe/Sinne.
Also, das Gehirn denkt, kann man sagen. Ist einfach ein bisschen sonderbar. Vielleicht anders herum. Ohne Gehirn kein Denken.

Kurz: Der eigentliche Denkprozess findet im Gehirn statt.



Ohne Gehirn kein Geist!

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Mi 17. Jan 2024, 17:55

Ich habe etliche Quellen gepostet, damit du dich mit den Sichtweisen von Fuchs vertraut machen kannst.




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