Seite 1 von 45

Markus Gabriel - Warum es die Welt nicht gibt

Verfasst: Sa 22. Jul 2017, 14:25
von Dia_Logos
IMPULSBEITRAG

Markus Gabriel - Warum es die Welt nicht gibt

Markus Gabriel ist einer der bekanntesten Philosophen des Neuen Realismus in Deutschland. Gegenstand dieses Thread ist ein Vortrag von ihm, den man sich bei Youtube anschauen kann. In diesem Vortrag stellt Gabriel seine berühmte und für manche berüchtigte These dar, warum es die Welt nicht geben kann. Der Vortrag ist nicht gerade kurz, er dauert nahezu 2 Stunden. Dafür ist er gut aufgebaut, kommt fast ohne Philosophen-Slang aus und ist relativ leicht verständlich.

In diesem Thread soll es darum gehen, die diversen Thesen des Vortrags nachzuvollziehen und ggf. zu kritisieren. Die Kenntnis des Videos ist natürlich Voraussetzung zur Teilnahme an dem Thread. Kommentierende Beiträge bitte einfach mit einem "Zeitindex" versehen, damit man die fragliche Stelle im Video leicht finden kann.


Re: Markus Gabriel - Warum es die Welt nicht gibt

Verfasst: Do 3. Aug 2017, 10:15
von Tosa Inu
Ich habe in den Vortrag mal reingehört: Klingt gut, da mache ich mit.
Ich muss mir den aber häppchenweise draufschaufeln.

Re: Markus Gabriel - Warum es die Welt nicht gibt

Verfasst: Do 3. Aug 2017, 10:25
von Jörn Budesheim
Super!

Re: Markus Gabriel - Warum es die Welt nicht gibt

Verfasst: Do 3. Aug 2017, 10:53
von Tosa Inu
Ich mach mal bei Minute 33 ein Break:
"Existieren heißt, unter einen Begriff fallen." (M.Gabriel)
Ist das hier im kleinen Kreis konsensfähig?

Ergänzend: Gibt es für Russells Antinomie (Die Menge aller Mengen kann sich nicht selbst enthalten) eigentlich eine allgemein akzeptierte Lösung? Denn darauf läuft es ja bei Gabriels Vortrag (bis Minute 33) auch hinaus. Die Welt kann sich nicht selbst enthalten.

Re: Markus Gabriel - Warum es die Welt nicht gibt

Verfasst: Do 3. Aug 2017, 12:04
von Tosa Inu
:roll: Hier hätte es geholfen weiter zu hören, mache ich dann erst mal und melde mich später.

Re: Markus Gabriel - Warum es die Welt nicht gibt

Verfasst: Do 3. Aug 2017, 12:13
von Jörn Budesheim
Yepp. Denn diesen Punkt kritisiert Gabriel schließlich, weil er zu absurden Konsequenzen führt :-)

Re: Markus Gabriel - Warum es die Welt nicht gibt

Verfasst: Do 3. Aug 2017, 19:53
von Tosa Inu
Bin durch, finde ich recht überzeugend argumentiert. Gabriel will da zwischen Konstruktivismus und Physikalismus durch. Ich glaube dennoch, dass am Ende Pattstellungen übrig bleiben, da man weiterhin einen ontologischen Physkalismus behaupten könnte, der einfach epistemologisch nichts hergibt, was er aber auch nicht muss.

Bleibt also die Fragen nache dem 'Stoff', aus dem die 2en sind, oder die Enhörner.

Ein kleines Gabriel Vokabelheft:

Ontologie = Lehre vom Sein
Metaphysik = Lehre von Allem
Existenz = Erscheinung in einem Sinnfeld
Sinn = Erwartungsperspektive
Welt = Sinnfeld aller Sinnfelder = unmöglich
ontologische Realität = etwas existiert (wirklich) in einem Sinnfeld (nicht nur, weil man drüber redet)

Re: Markus Gabriel - Warum es die Welt nicht gibt

Verfasst: Fr 4. Aug 2017, 05:44
von Jörn Budesheim
In dem Buch, um dass es geht, bringt Gabriel selbst sehr, sehr knappe Erläuterung der Begriffe im Glossar. Zur leichteren Orientierung bringe ich diese "Definitionen" oder vielleicht besser Faustregeln, gewissermaßen als Ergänzung zu dem, was du geschrieben hast.

Sinn: Die Art, wie ein Gegenstand erscheint.

Sinnfelder: Orte, an denen überhaupt etwas erscheint.

Bild
[Anmerkung: Die darf man sich aber nicht generell nach dem Vorbild von Feldern ausmalen, die Reihe der natürlichen Zahlen ist auch ein Feld.]

Sinnfeldontologie: Die Behauptung, dass es nur dann etwas und nicht nichts gibt, wenn es ein Sinnfeld gibt, in dem es erscheint.

Welt: Das Sinnfeld aller Sinnfelder, das Sinnfeld, in dem alle anderen Sinnfelder erscheinen.

Ontologie: Traditionell bezeichnet der Ausdruck die Lehre vom Seienden. In diesem Buch wird »Ontologie« als Analyse der Bedeutung von »Existenz« verstanden.

Metaphysik: Das Unternehmen, eine Theorie des Weltganzen zu entwickeln.

Erscheinung: »Erscheinung« bezeichnet einen allgemeinen Ausdruck für »Vorkommen« oder »Vorkommnis«. Erscheinungen können abstrakte Gebilde wie Zahlen oder konkrete, materielle Gebilde wie raumzeitliche Dinge sein.

Existenz: Die Eigenschaft von Sinnfeldern, dass etwas in ihnen erscheint.

Gegenstandsbereich: Ein Bereich, der eine bestimmte Art von Gegenständen enthält, wobei Regeln feststehen, die diese Gegenstände miteinander verbinden.

Re: Markus Gabriel - Warum es die Welt nicht gibt

Verfasst: Fr 4. Aug 2017, 06:32
von Jörn Budesheim
Tosa Inu hat geschrieben : Bleibt also die Fragen nache dem 'Stoff', aus dem die 2en sind, oder die Enhörner.
Ja, spannende Frage. Bei materiellen Dingen, so scheint es zumindest, kann man sich diese Frage noch einigermaßen leicht verständlich machen. Die Tasse rechts von mir dürfte, um es einfach zu sagen, aus Atomen in einer bestimmten Gitterstruktur bestehen.

Nach meinem Gefühl, ist die Frage jedoch von etwas inspiriert, wovon Gabriel gerade weg will. Das Paradigma der Frage scheinen die materiellen Gegenstände zu sein. Und ihr Sein wird als Muster für alles genommen. (Das ist natürlich jetzt erstmal eine Unterstellung, das gebe ich gerne zu.)

Aber wohin führt die Frage, wenn man nach dem Stoff der Zahlen fragt? Eine 2 besteht aus nichts, sie ist kein materieller Gegenstand. Vielleicht könnte man sagen, der Stoff, aus dem die natürlichen Zahlen bestehen, sind eben die einzelnen Zahlen und ihre Relationen.

Bei Romanen, Filmen oder Theaterstücken fragt man ja tatsächlich manchmal nach dem Stoff. Gemeint ist dabei natürlich die Geschichte, die erzählt wird, wenn eine erzählt wird. Vielleicht sind Begriffe der Stoff der Philosophie... Ob man die Frage nach dem Stoff generalisieren kann oder gar muss, weiß ich nicht. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass man nicht sehr weit damit kommt, wenn man den Begriff Stoff nach dem Muster der Materie versteht und nicht für jedes einzelne Sinnfeld einen eigenen Stoffbegriff ansetzt. :)

Re: Markus Gabriel - Warum es die Welt nicht gibt

Verfasst: Fr 4. Aug 2017, 08:19
von Tosa Inu
Die „2“, wo immer sie auftaucht, kann als konkrete Repräsentation wohl nicht ohne physikalische Basis oder Verknüpfung gedacht werden. Schwieriger als ihre Darstellung als Ziffer ist vielleicht die Darstellung im Hirn. Wird man je ihren Ort oder die Art herzeigen können? Kann man irgendwann sagen: „So sieht ein Hirn aus, das „2“ denkt.“?
Die Sinnfelder könnten dennoch nur eine Verschärfung oder Betonung der Differenz zwischen Ontologie und Epistemologie sein.
Was ersetzt werden muss, ist, glaube ich, die Idee, dass die 2 und das Einhorn nun von der res cogitans zu irgendwas, irgendwo im Kopf werden.
Was mir immer deutlicher geworden ist, ist, dass es weniger die Repräsentation ist, um die es geht, sondern, dass es einen Einfluss hat, was ich denke. Es ist nicht folgenlos. Es ist nicht die an sich belanglose, private Bearbeitung von Fakten aus der Außenwelt, die sich dann irgendwo im Kopf als eine Art Echo brechen und verklingen. Die je private Welt ist oder wird eine andere, je nach dem, in oder mit welchem Weltbild jemand lebt. Und eben nicht nur der mehr oder weniger gut erfasste Ausschnitt einer letztendlich dann doch für alle gleiche Realität.

Gabriel wehrt sich gegen den Begriff „Weltbild“, aber nur in dem Sinne, dass man sich kein Bild von der Welt als Ganzes machen kann. Führt man sich vor Augen, dass damit ein Ausschnitt aus vielen anderen Möglichkeiten gemeint ist, markiert der Begriff die Unterschiede recht schön und fällt mit den Sinnfeldern zusammen. Die Heilige Jungfrau Maria erscheint im Sinnfeld/Weltbild Christ anders, als im Sinnfeld/Weltbild Atheist.

Aber wie weit reicht das, über bloße gesellschaftliche Zuordnungen hinaus? Darüber hinaus, dass es eben eine Gruppe von Menschen gibt, die denkt, dass Maria die Mutter Gottes ist und eine andere Gruppe, die das für ein Märchen hält? Darüber hinaus, dass sich eben ein warmes Gefühl der Zugehörigkeit ergibt, wenn man dieser oder jener sozialen Gruppe angehört?

Wie schaufelt man dem Bereich der „meine Welt“ ausmacht, mit Existenzen und damit Sinnfeldern, die es so manchmal nur für mich gibt, die angemessene Bedeutung zu? Wie stellt man dar, dass diese private Sinnzuschreibung eingefädelt ist in den objektive Verlauf der Welt? Ohne darauf auszuweichen, dass dieser Gedanke eben jenes Bündel Hirnzellen affiziert, das dann weitere anstößt, was nach gegenwärtigem Wissensstand ein vorläufiges Modell ist und vermutlich auch nie über diesen Status hinaus kommen wird?

Re: Markus Gabriel - Warum es die Welt nicht gibt

Verfasst: Fr 4. Aug 2017, 08:41
von Jörn Budesheim
Tosa Inu hat geschrieben : Die „2“, wo immer sie auftaucht, kann als konkrete Repräsentation wohl nicht ohne physikalische Basis oder Verknüpfung gedacht werden. Schwieriger als ihre Darstellung als Ziffer ist vielleicht die Darstellung im Hirn. Wird man je ihren Ort oder die Art herzeigen können? Kann man irgendwann sagen: „So sieht ein Hirn aus, das „2“ denkt.“?
Würdest du sagen, das Bild eines Hauses und ein Haus sind einfach dasselbe? Ich vermute doch nicht, oder? Das gleiche gilt meines Erachtens für die Zahlen. Zahlen sind nicht Repräsentationen von Zahlen.

Re: Markus Gabriel - Warum es die Welt nicht gibt

Verfasst: Fr 4. Aug 2017, 09:14
von Tosa Inu
Du meintest, dass Ziffern nicht Repräsentationen von Zahlen sind? Sonst verstehe ich es nicht.

Beim Haus ist klar, es ist aus Materie. Aber was ist eine "2", "II" oder "Zwei"? Wo hat sie ihren Ursprung?

Re: Markus Gabriel - Warum es die Welt nicht gibt

Verfasst: Fr 4. Aug 2017, 09:16
von Jörn Budesheim
Nach dem Ursprung von Zahlen zu fragen, wird meiner Ansicht nach, dem was Zahlen sind, nicht gerecht. Zahlen haben keine Ausdehnung in der Zeit und auch natürlich keine Ausdehnung im Raum. Anders gesagt, Raum und Zeit sind nicht das Feld, in dem Zahlen erscheinen.

Re: Markus Gabriel - Warum es die Welt nicht gibt

Verfasst: Fr 4. Aug 2017, 09:19
von Jörn Budesheim
Tosa Inu hat geschrieben : Du meintest, dass Ziffern nicht Repräsentationen von Zahlen sind? Sonst verstehe ich es nicht.

Beim Haus ist klar, es ist aus Materie. Aber was ist eine "2", "II" oder "Zwei"? Wo hat sie ihren Ursprung?
Ich meine eigentlich genau das Gegenteil :) Ziffern sind Repräsentationen von Zahlen, aber keine Zahlen. So wie das Bild eines Hauses eben kein Haus ist.

Ich glaube übrigens auch nicht, dass ein Haus so ohne weiteres aus Materie ist. Deswegen war mein Beispiel mit der Tasse vielleicht auch etwas unpräzise...

Re: Markus Gabriel - Warum es die Welt nicht gibt

Verfasst: Fr 4. Aug 2017, 10:13
von Tosa Inu
Nach dem Ursprung von Zahlen zu fragen, wird meiner Ansicht nach, dem was Zahlen sind, nicht gerecht. Zahlen haben keine Ausdehnung in der Zeit und auch natürlich keine Ausdehnung im Raum. Anders gesagt, Raum und Zeit sind nicht das Feld, in dem Zahlen erscheinen.
Man könnte Zahlen als Erfindungen oder Zuschreibungen deklarieren. Wenn sie nicht in Raum und Zeit vorkommen, wo dann? Anders gefragt: Haben wir als Menschen überhaupt Zugang zu etwas, außerhalb von Raum und Zeit und was könnte das sein?

Re: Markus Gabriel - Warum es die Welt nicht gibt

Verfasst: Fr 4. Aug 2017, 10:20
von Jörn Budesheim
Die Antwort von Markus Gabriel, der ich mich anschließe, lautet die 5 beispielsweise kommt im Feld der natürlichen Zahlen vor. Das ist ja der Witz der Sinnfeld Ontologie :-) ganz offensichtlich ist es so, dass wir Zahlen erfassen können. Zahlen sind auch nicht außerhalb von Raum und Zeit, denn das ist wieder eine räumliche Zuschreibung.

Re: Markus Gabriel - Warum es die Welt nicht gibt

Verfasst: Fr 4. Aug 2017, 10:50
von Tosa Inu
Die Frage ist, ob - und wenn ja, wie - Sinnfelder reduziert werden können. Das muss ja nicht allumfassend geschehen, so dass man Ende nur noch Physik (oder etwas in der Art) übrig bleibt.

Beispielsweise kann es alternative und inkompatible Theorien über etwas geben und da scheint es mir unangemessen, zu sagen, dass dies einfach nur verschiedene Sinnfelder seien.

Re: Markus Gabriel - Warum es die Welt nicht gibt

Verfasst: Fr 4. Aug 2017, 11:01
von Tosa Inu
Worin siehst Du den Vorteil der Sinnfeld-Theorie? Was kann man damit erklären, beschreiben oder darstellen, was vorher nicht gelang?

Re: Markus Gabriel - Warum es die Welt nicht gibt

Verfasst: Fr 4. Aug 2017, 11:11
von Jörn Budesheim
Bild

Der Hauptvorteil der Sinnfeld-Ontologie ist, meines Erachtens, dass sie ein sehr guter Kandidat für die Wahrheit ist :-)

mir gefällt daran besonders, dass viele Bereiche, insbesondere solche, die mit uns selbst zu tun haben, damit als eigenständige erklärt werden können, also als Bereiche eigenen Rechts und nicht als bloß abgeleitete oder scheinbare. Dass aus ihr eine bunte Ontologie folgt, ist für mich überaus attraktiv. Für mich gehört sie zum Projekt der Aufklärung und zu dem Versuch, der Metaphysik des "alles ist X" den Garaus zu machen. Dass man mit dieser Ontologie sowohl Postmodernismus als auch Naturalismus hinter sich lassen kann, nimmt mich sehr für sie ein. :-)

Re: Markus Gabriel - Warum es die Welt nicht gibt

Verfasst: Fr 4. Aug 2017, 11:39
von Tosa Inu
Der Hauptvorteil der Sinnfeld-Ontologie ist, meines Erachtens, dass sie ein sehr guter Kandidat für die Wahrheit ist
Gerade dann muss man die Sinnfelder beschränken, denn sonst ist etwas einfach eine Wahrheit des Trump-Sinnfeldes. Übergeordnete Spielregeln müssen her. Da sind wir dann schnell wieder bei Logik und Physik, oder?
mir gefällt daran besonders, dass viele Bereiche, insbesondere solche, die mit uns selbst zu tun haben, damit als eigenständige erklärt werden können, also als Bereiche eigenen Rechts und nicht als bloß abgeleitete oder scheinbare.
Dann müssten aber - Thema: Wahrheit - auch die Geltungs- oder Wahrheitskriterien der Bereiche her.
Wenn aber Rechtsurteil A vollkommen anders ist, als Rechtsurteil B (eines anderen Landes) oder ästhetisches Urteil A völlig anders, als B ist das zu zerfasert.

Zu sagen, Juristerei, Ethik oder Äshetik seien eigenständig könnte eine bloße Behauptung sein. Kann man auch zeigen, dass die Eigenständigkeit der Physik (physischen "Dinge") oder Logik eine Bahauptung ist?

Eine Quasi-Eigenständigkeit wurde doch z.B. dem Recht ja ohnehin bereits zugesprochen. Niemand hat behauptet, man müsse das Recht logisch oder naturalistisch beweisen, auch wenn natürlich eine juristische Beweisführung nicht der Logik oder dem physikalisch Möglichen widersprechen darf. Aber gerade ontologisch ist doch da eigentlich kein neuer Bereich eröffnet, oder sehe ich das falsch? Falls ja, warum?