Ich selbst verstehe unter dem „Neuen Realismus“ im allgemeinen die systematische Anerkennung
der Tatsache, daß unser Gedanken über Reales genau so real sind wie alles andere. Realität
hängt nicht davon ab, ob etwas in maximal robuste Tatsachen eingebettet ist, sie hängt
lediglich von Tatsachen ab. Wendet man diese Grundidee auf die Ontologie an, ergibt sich
meines Erachtens eine neue Möglichkeit, Existenz realistisch zu denken.
Markus Gabriel - Existenz, realistisch gedacht - S. 18
Frege bemerkt einmal lakonisch, man könne dasselbe als eine Baumgruppe oder als fünf Bäume beschreiben.
Mutatis mutandis kann man auch sagen, dasselbe könne man sowohl als Gebirge als auch als
hochkomplexes Teilchenagglomerat beschreiben. Dasselbe, das man jeweils als so oder als so
beschreiben kann, nennt Frege „die Bedeutung“, die Beschreibungen hingegen entsprechen
demjenigen, was er den „Sinn“ nennt. Freges „Art[en] des Gegebenseins“ kommen nicht
nur in seiner logischen Semantik, der Begriffsschrift, zur Anwendung, sie erklären nicht nur
semantische oder logische Synonymie, wie diejenige, die in mathematischen Gleichungen
ausgedrückt wird. Sinn gibt es überall, wo überhaupt Form eine Rolle spielt, was Frege
freilich allenfalls beiläufig interessiert hat. Dennoch bemerkt er in seiner Diskussion der
Frage, welches Zeichensystem einer Begriffsschrift angemessen wäre, daß man neben der
„strengen logischen Form“ anerkennen müsse, daß unsere Sinne (er diskutiert selbst „die
Zeichen für’s Ohr“ und „die für’s Auge“) eine sie jeweils charakterisierende „Form des
Erscheinens“ hätten. Kurzum, die Grundidee des Neuen Ontologischen Realismus lautet,
daß es nicht nur eine objektive logische Form gibt, die überall dort zutrifft, wo etwas
überhaupt etwas ist. Diese logische Allgemeinheit ist außerhalb ihrer konkreten Artikulation
rein tautologisch und damit uninformativ. Vielmehr gibt es auch verschiedene Formen des
Erscheinens, die untrennbar mit demjenigen verbunden sind, was erscheint.
Markus Gabriel - Existenz, realistisch gedacht - S. 20/21
Ich gebe zu, dass ich in meiner (systematischen) Beschäftigung mit Philosophie noch nicht weit über das hellenische Zeitalter gekommen bin, und deshalb viele dieser philosophischen Begriffe nicht genau deuten oder einordnen kann. Meine Interpretation ist deshalb hier auch wieder ganz laienhaft. Diese zwei Textstellen im Gabriel-Text haben meine Sorgen- und Denkfalten vermehrt
Wenn Gedanken über die Dinge etwas Reales sind, was ich glaube, so scheint er hier einem Materialismus das Wort zu reden. Aber dem scheint dann wiederum nicht so zu sein, wenn man sich die Passagen zum Konstruktivismus anschaut, über den er sich kritisch äussert, aber nicht gänzlich abschmettert. Er sagt grob übersetzt: Es gibt Gedanken und diese sind nicht weniger real als die Gegenstände in der Welt. Die Gegenstände im ontischen Raum erscheinen uns in einem Referenzrahmen, in einem Gegenstandsbereich (ontisch und logisch), in welchem ein Gegenstand für uns
als etwas erscheint, in einem anderen Gegenstandsbereich aber
als etwas anderes. Die Gegenstände sind so, wie sie uns erscheinen und zwar sinnesspezifisch so, wie sie uns erscheinen, aber sie erscheinen nicht in konstruktivistischer Sicht alleine so, wie sie uns durch unsere Begriffskonvention (Regelhaftigkeit des Sprachspiels) erscheinen. Von ihnen aus "geht" nämlich auch eine bestimmte Form aus. Diese Formalität bewirk ihre immer wieder gleich geartete Wahrnehmbarkeit durch uns, ohne die wir ja auch nicht über diesen Baum oder jenen Baum oder dieses Schachbrett und diese Figur sprechen könnten, so dass wir einander darin einig sein könnten, worüber wir "eigentlich" reden. Gleichzeitig aber scheint er deutlich zu machen, dass wir die Begriffe auf die Welt anwenden. Sie sind auf die Welt da draussen gerichtet, aber sie beziehen ihr Wirkungsfeld nicht nur durch die Konventionalität ihrer Verwendung durch uns, sondern sie sind formal-ontisch zu einem bestimmten Grad selbsttragend.
Aber das scheint mir intuitiv auch gar nicht falsch zu sein
Wir sprechen ja über einen Gegenstand jeweils als über diesen, z.B. über die Anhäufung von Bäumen in einer bestimmten Region als über den Schwarzwald. Wäre die Anhäufung von Bäumen nicht dort, würden wir über sie als über etwas anderes sprechen, aber nie gar nicht. Denn etwas wahrnehmen hat immer schon logische Form im Sinne davon, dass es immer schon einen Begriff mitnimmt. Kann man das so sagen?