So richtig bin ich nun noch nicht weitergekommen was Gabriels Auffassung bezüglich Fiktionalem betrifft.
Zitate aus Neutraler Realismus: Jahrbuch-Kontroversen 2, Markus Gabriel:
[S. 179] Ich halte Faust nicht für einen abstrakten Gegenstand. Er ist ein Mensch. [...] Ich bestreite nicht, dass Faust diejenigen Eigenschaften hat, die ihm im Text zugeschrieben werden, bzw. die sich aus einer gelungenen und literaturwissenschaftlich abgesicherten Deutung des Stückes ergeben. Ich halte z.B. den Satz "Faust hat keine Hände" für falsch. [...]
[S. 180] Zur GENEALOGIE: Ich habe nicht gesagt, dass Faust durch Ausgedachtwerden zur Existenz kommt. Dies ist kein Satz, den das mit Faust beschriebene Sinnfeld als wahren ausweist.
Hier immerhin stellt er klar, in welchem Sinnfeld Faust seiner Ansicht nach existiert: in dem in
Faust beschriebenen Szenario. Aber dann stellt sich gleich die Frage, ob denn dieses Sinnfeld existiert - denn daraus, dass etwas beschrieben wird, folgt ja nun noch lange nicht, dass das Beschriebene existiert. Ebensowenig wie daraus, dass jemand etwas behauptet, folgt, dass die Behauptung wahr ist. Und wenn Gabriel aus einem mir noch unerfindlichen Grunde annimmt, dass dieses Sinnfeld existiert, (was gleich zu der Frage führt, in welchem Sinnfeld es denn erscheint), dann stellt sich die Frage nach der Genealogie von Faust und dessen Vorgeschichte erneut, s.u.
[S. 180, Fussnote] Ich stimme Lewis mutatis mutandis zu, wenn er einem literarischen Werk viele Welten zuordnet, in denen es jeweils andere Antworten auf solche Fragen [nach bestimmten Eigenschaften fiktionaler Entitäten] gibt, womit Lewis Unbestimmtheit vermeidet. Allerdings würde ich hier nicht von Welten, sondern von Sinnfeldern reden und die Sinnfelder eines literarischen Werkes relativ zu Interpretationen individuieren.
Hier ging es eigentlich um Einwand 2: UNBESTIMMTHEIT. Das sei erst mal geschenkt, allerdings verstehe ich nun nicht, wie er Lewis Welten durch seine Sinnfelder ersetzen kann. Lewis' Auffassung hat nun weder Probleme mit UNBESTIMMTHEIT, noch mit GENEALOGIE. Um die nochmal kurz zu skizzieren: Lewis hält mögliche Welten für ebenso real wie unsere Welt. Nach seiner Auffassung gibt es keinen prinzipiellen Unterschied zwischen unserer Welt und anderen möglichen Welten oder auch so gesagt: nach seiner Auffassung ist unsere Welt in keiner Weise gegenüber den anderen möglichen Welten hervorgehoben oder privilegiert. Demnach gibt es viele mögliche Welten, in denen ein Mensch vorkommt, der recht ähnlich zu dem Menschen Faust ist, der in
Faust beschrieben wird. Die Genealogie all dieser Menschen ist ebenso wie unsere: sie wurden geboren, haben Eltern und weitere Vorfahren. Wie aber kann man das nun auf Sinnfelder übertragen? Das in
Faust beschriebene Sinnfeld wurde ja wohl durch Goethe erfunden, d.h. vor dessen Erfindung gab es das nicht, (anders als Lewis mögliche Welten, die ebensowenig erfunden sein sollen wie unsere Welt). Und wenn wir Gabriels These folgen, dass "existieren" bedeutet: "in einem Sinnfeld erscheinen", dann kann ja wohl Faust demnach nicht existiert haben, bevor das Sinnfeld existierte - ebensowenig seine Eltern etc. (Und jede neue Interpretation von
Faust ruft demnach neue Sinnfelder in ihre Existenz, Sinnfelder in denen der Mensch Faust - oder aber, wie bei Lewis, ein Faust-ähnlicher Mensch, das ist mir bei Gabriel auch noch nicht klar - lebt, der demnach im Moment der Fertigstellung der Interpretation mitsamt all seiner Vorgeschichte in seine Existenz ploppt.)
[S. 180] Und selbst wenn man eine Erzählung anführen könnte, die widersprüchliche Gegenstände enthält, folgt dem neutralen Realismus zufolge noch nicht ohne Zusatzarbeit, dass dies auf Bereiche abfärbt, in denen wir einen solchen Widerspruch nicht dulden würden [...].
Hier geht es um Einwand 4: WIDERSPRÜCHLICHKEIT. Hier frage ich mich, wieso wir überhaupt Widersprüche akzeptieren sollen. Lewis z.B. tut das nicht: er hält nur mögliche Welten für real, nicht aber unmögliche Welten. Den Einwand 4 halte ich für ein gutes Argument gegen die Existenz fiktionaler Gegenstände. Wenn Gabriel meint, dass in bestimmten Bereiche die Existenz widersprüchlicher Gegenstände akzeptabel sei, in anderen aber nicht, dann müsste er das näher spezifizieren. Warum und wann sind widersprüchliche Gegenstände akzeptabel und warum und wann nicht? Sind z.B. Sinnfelder akzeptabel, die sowohl in anderen Sinnfeldern erscheinen als auch in keinem Sinnfeld erscheinen? Wenn nicht: warum das nicht, aber was anderes Widersprüchliches?