Hallo Markus,
In
Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben gibt Nietzsche seinen Lesern den Rat: "Sättigt eure Seelen an Plutarch und wagt es an euch selbst zu glauben, indem ihr an seine Helden glaubt." (KSA 1, 295) - Nietzsche bezieht sich damit auf die
Vitae parallelae Plutarchs, deren letzte vollständige Edition wohl in dritter Auflage 1960 (Teubner) erschienen ist. Seitdem sind einzelne der "parallelen Lebensbeschreibungen" in der Sammlung
Tusculum erschienen (dort zweisprachig) und in deutschen Übersetzungen. - Bei den
Moralia ist die Editionslage ebenso unübersichtlich. Es gibt in deutscher Übersetzung eine Auswahl bei
reclam; welche Schriften dort enthalten sind, ist allerdings der Verlagsseite nicht zu entnehmen. - Empfehlenswert ist - falls noch lieferbar - die Zusammenstellung von Marion Giebel:
Die Kunst zu leben. Marion Giebel ist Klassische Philologin und hat die Texte Plutarchs aus dem Griechischen übertragen. Die Auswahl enthält u.a. Plutarchs Abhandlungen
Über Kindererziehung und
Über die Schwatzhaftigkeit, seine einzige Schrift, in der er sich explizit mit der Rhetorik auseinandersetzt. Plutarch ist Platoniker und lehnt sich in seinem Rhetorik-Verständnis an Platon an. Die Referenzschriften sind also der
Gorgias und der
Phaidros. - Nietzsches "Sättigt eure Seelen an Plutarch" ist bei der derzeitigen Editionslage also gar nicht so einfach umzusetzen, es sei denn, man will auf den griechischen Originaltext zugreifen:
http://www.perseus.tufts.edu/hopper/tex ... ephpage=1a (
De liberis educandis) -
Vielleicht ist das Horaz´sche
ut pictura poesis aus der
ars poetica ein erster Ansatzpunkt. Plutarch schreibt diesen Gedanken dem Simonides v. Keos zu: "Simonides nennt Malerei stumme Dichtung und Dichtung sprechende Malerei." (Plutarch;
De gloria Atheniensium; 346 F) - Von da aus könnte man das Verhältnis von Kunst und Rhetorik entfalten. Ein anderer Ansatzpunkt könnte die berühmte Anekdote aus
Über die Geschwätzigkeit sein, die ebenfalls das "Stumme" und "Sprechende" aufgreift:
"Der römische Senat rathschlagte einst mehrere Tage lang im Geheimen über eine Angelegenheit, und da die Sache, weil sie unbekannt blieb, Besorgnisse erregte, so lag ein Weib, das sonst bescheiden, aber immerhin ein Weib war, ihrem Manne mit vielen Bitten an, um von ihm das Geheimniß zu erfahren; sie ließ es selbst an Eidschwüren und Verwünschungen hinsichtlich ihres Schweigens nicht fehlen, und beklagte unter Thränen ihr Schicksal, daß sie so wenig Zutrauen besitze. Der Mann, um sie ihres Unverstandes zu überführen, gab ihr endlich die Antwort: ˋIch kann nicht länger widerstehen, Weib. Du sollst eine furchtbare und schreckliche Geschichte hören. Es ist uns von den Priestern gemeldet worden, daß eine Lerche im Flug erblickt worden, mit goldenem Helm und Speer; wir berathschlagen uns nun darüber, und suchen mit den Sehern auszumitteln, ob es ein gutes oder schlimmes Vorzeichen ist. Darum schweige.´ Nach diesen Worten ging er weg auf den Markt; sie aber zog sogleich eine von ihren Mägden, die zuerst herein trat, zusich, schlug sich auf die Brust und raufte sich die Haare aus mit den Worten: ˋAch! wehe meinem Manne und dem Vaterlande! Was wird aus uns werden!´ wodurch sie der Magd Veranlassung geben wollte zu fragen: ˋWas ist denn geschehen?´ Die Frage erfolgte wirklich, und nun erzählte sie der Magd den Vorfall mit Hinzufügung der bei solcher Schwätzerei üblichen Formel: ˋSage es ja niemand, sondern schweige.´ Kaum war die Magd weggegangen, so erzählte diese die Sache einer ihrer Mitsklavinnen, die sie eben unbeschäftigt sah; diese aber entdeckte es ihrem Liebhaber, der eben zu ihr gekommen war. So kam die Nachricht schneller auf den Markt, als Der, welcher die Sage erdichtet hatte. Hier traf ihn einer seiner Bekannten, der ihn mit den Worten anredete: ˋDu kommst wohl eben von Hause auf den Markt?´ ˋSo eben´, erwiederte Jener. ˋDu hast also wohl nichts Neues gehört?´ — ˋIst denn etwas Neues vorgefallen?´ - ˋMan hat eine Lerche fliegen sehen, mit goldenem Helm und Speer; es wollen deshalb die Consuln einen Senat halten.´ Da rief Jener lachend aus: ˋBlitz, welche Schnelligkeit, Frau! Ist doch mein Wort früher auf den Markt gekommen, als ich selbst.´ Er eilte dann zu den Consuln und benahm ihnen alle Verlegenheit. Zu seinem Weibe aber sprach er bei seiner Rückkehr, um sich zu rächen: ˋDu hast mich ins Unglück gebracht; denn das Geheimnis ist aus meinem Hause verrathen worden, und unter die Leute gekommen; ich muß daher um deines Plauderns willen ins Exil gehen.´ Sie legte sich aufs Leugnen, und sagte endlich zu ihm: ˋHaben es nicht mit dir dreihundert Andere gehört?´ — ˋWas für dreihundert?´ entgegnete Dieser; ˋich habe, auf dein dringendes Anliegen, die ganze Sache erdichtet, um dich auf die Probe zu stellen.´ Auf eine so sichere und vorsichtige Weise wußte er die Verschwiegenheit seiner Frau zu erproben, gleich Einem, der in ein morsches Gefäß keinen Wein oder Öl, sondern Wasser eingießt."
Ob es opportun ist, in einem Referat des Jahres 2020 eine solche Anekdote zu verarbeiten, magst Du selbst entscheiden, Markus; jedenfalls empfehle ich Dir die kleine Textsammlung von Marion Giebel, weil sie auch kurze Einführungen in die Plutarch-Texte enthält. - Plutarch ist der Montaigne der Antike. Im Gegensatz zu Montaignes
Essais sind die
moralia heute kaum noch bekannt. Nietzsches Ratschlag geht ins Leere. Dabei ist Plutarch hochaktuell, etwa im Hinblick auf eine in Kürze anstehende Wahl, wenn er sich darüber Gedanken macht:
Ob ein Greis noch Staatsgeschäfte treiben soll. - Respekt, daß Du Dich mit einem solchen Thema beschäftigst! Heute sättigen die Philosophen ihre Seelen nicht mehr an Plutarch. Ihr Hunger verlangt nach üppigeren Portionen.