Nauplios, vielen Dank für die historische Perspektive in #70166, sehr interessant, war mir nicht bewusst, dann ist die Soziologie offenbar ja insgesamt eine sehr junge Wissenschaft, gerade mal etwa 100 Jahre alt. Meinst du, dass sich das in der Zwischenzeit auch geändert hat, also dass es bezüglich "Theorie der Gesellschaft" sozusagen "Konkurrenzprojekte" zu Luhmann gibt.
In dem Interview mit Luhmann, das du in "Was ist Gesellschaft"-Thread gepostet hattest, wird, wenn ich mich recht erinnere, noch Parsons erwähnt. Damit kenne ich mich leider auch nicht aus, habe gerade mal vor 3, 4 Jahren
eine Folge des Soziopods dazu gehört, ich werde sie mir glaube ich heute als Repetition auf dem Arbeitsweg nochmals anhören. Falls du aber zufälligerweise dazu was weisst, wie würde man die Systemtheorie von Parsons in diese historische Perspektive einordnen? Als Impulsgeber, "Prototyp-Theorie", aber für unzureichend befunden oder sowas in der Richtung?
Nauplios hat geschrieben : ↑ Mi 8. Nov 2023, 12:35
Ich verstehe Dich so, Sybok, daß Dir dabei eine Formalisierung der Theorie der Gesellschaft zu einer allgemeinen Systemtheorie (unabhängig vom Anwendungsfall Gesellschaft) vorschwebt, sozusagen eine weitere Umdrehung der Abstraktheit in Richtung auf eine "Weltformel", mit der die "Welträtsel" (Ernst Haeckel) formalisiert werden können.
1984 erschien Luhmanns "Soziale Systeme. Grundriß einer
allgemeinen Theorie". Es gibt auch eine entsprechende Vorlesung dazu, die später ebenfalls in Buchform erschienen ist. Hier geht die Systemtheorie einen kleinen Schritt in Richtung der von Dir anvisierten Abstraktion: "allgemeine Theorie" - jedoch immer im Hinblick auf soziale Systeme.
Ja genau, so habe ich mich das gefragt. Ok, interessant, das hilft für das Verständnis. Dann scheint die Systemtheorie, so wie ich das verstehe, zwar im Hinblick auf soziale Systeme entwickelt und angewandt worden sein, aber auch eine gewisse "Elastizität", oder "Durchlässigkeit" wie du es in dem entsprechenden Post nanntest, zu besitzen. Denn das war irgendwie eine Diskrepanz, die ich in dieser ersten Vorlesung wahrnahm: Einerseits Analogien und eine Sprache, die eben eher aus Biologie, Kybernetik, Mathematik zu kommen scheint, andererseits trotzdem immer die Rede von Soziologie - konnte ich nicht richtig zusammenbringen. Aber so könnte ich jetzt damit vorläufig schon mal was anfangen und würde jetzt einfach schauen, wie sich das jetzt hier weiterentwickelt.
Nauplios hat geschrieben : ↑ Mi 8. Nov 2023, 13:12
"Gesellschaft als ein Ganzes betrachtet" - ich denke, daß wird uns noch beschäftigen. Auch die Systemtheorie gehört natürlich zur Gesellschaft; es wird darüber geschrieben, gelesen, gesprochen ... kommuniziert. Die Systemtheorie kommt also in dem, was sie beobachtet (die Gesellschaft) ihrerseits wieder vor. Sie ist Beobachtendes und Beobachtetes zugleich. (Welche Schwierigkeiten damit verbunden sind werden wir später noch sehen, wenn es um das Beobachtungsparadox geht.)
Kommunikation als "Flüsse" oder "Austausch" - auch das ist noch ein Punkt, den Luhmann später ausführt: eine Theorie der Kommunikation, die vom Alltagsverständnis der Kommunikation insofern abweicht als bei der Kommunikation ja eigentlich nichts ausgetauscht wird, etwa zwischen einem Sender und einem Empfänger. Es kann ein Stück Papier (z.B. ein Brief) natürlich von ego zu alter ego geschickt werden, aber das betrifft nur die Trägersubstanz. Oder Schallwellen des Gesprochenen erreichen das Ohr eines Hörenden. Aber damit wäre die Funktionsweise der Kommunikation für die Systemtheorie nicht geklärt; das Bild vom Austausch schickt einen in die falsche Richtung. Das hängt mit der "operativen Geschlossenheit" von Systemen zusammen, auf die Luhmann noch zu sprechen kommt.
Oh, sehr schön, darauf - Beobachtungsparadox - würde ich mich ganz besonders freuen
.
Das mit "Kommunikation" betrachte ich mal vorläufig als an die Informationstheorie angelehnt, auch dort ist der Begriff sehr weit und abstrakt gefasst. Beispielsweise wäre auch die persistente Speicherung von Daten Kommunikation, nämlich über einen zeitlichen Kanal. Auch hier frage ich mich noch, wie weit das trägt, aber das wäre nicht vordringlich, wird sich wohl dann zeigen. Spielen "Kanäle" aber eigentlich eine Rolle beim "Kommunikationsbegriff" in der Systemtheorie von Luhmann?
Nauplios hat geschrieben : ↑ Mi 8. Nov 2023, 13:55
Ich bin mit solchen mathematischen Abstraktionslagen nicht vertraut, deshalb kann ich nur eine syntaktische Spekulation wagen:
Wenn man "Mathematik der Mathematik" als einen doppelten Genitiv liest, dann ist die Mathematik ja sowohl das Objekt als auch das Subjekt dieses Genitivs. Um mal ein Beispiel zu geben:
"Die Beschreibung der Frau" kann sowohl bedeuten: Die Frau hat eine Beschreibung abgegeben als auch die Frau wird selbst beschrieben. Im ersten Fall ist die Frau die Beschreibende (genitivus subjectivus), im zweiten Fall ist die Frau die Beschriebene (genitivus obiectivus).
Bei der "Mathematik der Mathematik" ist die Mathematik beides, Subjekt und Objekt ineins.
Bei der "Gesellschaft der Gesellschaft" ist es genauso, d.h. die Gesellschaft ist zugleich das Objekt wie auch das Subjekt (etwa der Beschreibung). Sie kommt auf beiden Seiten des Genitivs vor.
Und das ist auch der Grund, warum Luhmanns letztes großes Werk den Titel trägt:
Sehr interessant, eine Perspektive die ich so noch nicht hatte, muss mir das mal noch durch den Kopf gehen lassen.
Ich musste für mich alleine laut lachen, als ich den Buchtitel sah. Das ist mir jetzt schon 2, 3 Mal passiert, ich denke "Hmm, wäre doch interessant, wenn..." und dann postet Nauplios ein Buch
exakt genau dazu. Shit, grossartig, Luhmann ist einem scheinbar
immer ein Schritt voraus
!
Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑ Mi 8. Nov 2023, 13:58
Wenn es sich nicht selbst macht, ist es kein System im von Luhmann verhandelten Sinn. Autopoiesis, also der Prozess der Selbsterschaffung und -erhaltung eines Systems gehört zwingend dazu. Gebäude entfallen daher.
Ah! Ja ok, das hatte ich total nicht mehr auf dem Schirm, das hilft, danke!
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Im Versuch, ein klein bisschen Struktur noch einzubringen:
Für mich wurde nun, im Groben natürlich nur, dank den hervorragenden Posts hier, diese erste Vorlesung schön besprochen. Es ging ja hauptsächlich, in meinem Verständnis, aber korrigiert mich, mal um einen Ausblick und ein gröberes Einordnen des Begriffs der Systemtheorie und diese historische Perspektive auf die Soziologie. Luhmann hat ja in den letzten 15 Minuten der ersten Vorlesung schon damit begonnen und einen kleinen Ausblick auf die zweite Vorlesung gegeben: Dann wäre, allerdings ja im linearen Verstädnis gesprochen
,
das nächste Thema die "obstacles épistémologiques".
Ich würde also mal grob planen, morgen die zweite Vorlesung zu hören und dann im Anschluss veruschen, wieder eine Zusammenfassung hier zu posten.
Aus meiner Sicht, was ich noch als offen betrachte, wäre:
- Was Timerlake angesprochen hat. Das ist leider untergegangen, aber wohl zumindest für mich als totaler Anfänger zunächst auch sowieso noch zu schwierig und vielleicht zu weit vorgegriffen (?): Diese Diskussion eines Vergleiches von Luhmann und Marx. Auch Weber, der von Luhmann mehrfach in der ersten Vorlesung angesprochen wurde, hatten wir jetzt nicht viel.
- Das gerade zuoberst angesprochene wäre vielleicht noch wichtig, man hört es ja schon an "Systemtheorie": Die Systemtheorie von Parsons im Bezug zu Luhmann.
- Die Sache mit der unzureichenden Empirik hatten wir auch nicht all zu prominent. Das schiene mir für den groben Überblick eigentlich nicht unwichtig, denn es scheint ja bis zu einem gewissen Grad das weitere Vorgehen, resp. den grundlegenden Ansatz, bei der Entwicklung einer Systemtheorie zu erklären. Daran hängen in meinem Verständnis wohl nicht ganz unwichtige Fragen wie "Kann man die Systemtheorie überhaupt gegen die Realität testen? Kann man 'Experimente' machen?" und "Wie verhält es sich nun genau mit der Prognosefähigkeit?", etc.
Gäbe es soweit Einwände oder Ergänzungen? Wie seht ihr das soweit?
Also das schöne ist ja, dass wir zwar die Vorlesung auch linear durchgehen "müssen", aber in der Besprechung, im Format dieses Forums, wie von Luhmann ja eigentlich gewünscht, die Theorie in nichtlinearem Aufbau besprechen können
.