Vorlesung: Luhmann - Theorie der Gesellschaft

Niklas Luhmann war ein deutscher Soziologe. Er gilt als einer der bedeutendsten deutschsprachigen Vertreter der soziologischen Systemtheorie. Er zählt zu den Klassikern der Soziologie des 20.
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Nauplios
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Do 21. Dez 2023, 19:51

sybok hat geschrieben :
Fr 8. Dez 2023, 10:57

Ich würde momentan also "immer Freitags" weitermachen ...
Morgen ist Freitag. ;)

Heiligabend naht. Es ist an der Zeit, diese Vorlesung abzuschließen. Möchtest Du die 13. und letzte Vorlesungseinheit referieren, Sybok? ;)




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Fr 22. Dez 2023, 03:03

Gerade habe ich den folgenden Text (gepostet im November 2004) in einem anderen Forum gefunden. (Ich weiß nicht, ob es überhaupt gerne gesehen wird, wenn aus anderen Foren zitiert wird. Falls das nicht "geht", nehme ich es natürlich wieder heraus.)

Hoffentlich passt es auch irgendwie zu diesem Thread und gibt etwas von Belang her, denn es gehört ja nicht zu den "eigentlichen" Vorlesungen hier.

(Zu den vorhergehenden Posts ist mir bislang leider noch nichts originelles "Eigenes" eingefallen.)
Der folgende Text stammt aus einer Mitschrift einer Vorlesungsreihe von Niklas Luhmann.
Es geht um die These von D. MacKay, dass Freiheit auch denkbar ist auf Basis von Determiniertheit

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[...] Ein weiterer Punkt, der mich immer fasziniert hat, betrifft die Frage, was passiert, wenn es zwei komplexe Systeme miteinander zu tun bekommen, wenn sie gekoppelt werden oder in Interaktion treten und nicht die Fähigkeit haben, die Komplexität des anderen im eigenen System zu duplizieren, das heißt nicht über die „requisite variety" verfügen, die erforderlich wäre, um ein anderes System in sich selbst abzubilden. Nach einer These von Donald McKay, einem schottischen Kybernetiker oder Informations-Theoretiker, entsteht unter diesen Bedingungen Freiheit.

Selbst wenn komplexe Systeme Maschinen und vollständig determiniert wären, musste jedes System unterstellen, dass das andere beeinflusst werden kann, also auf Signale reagiert, und dies nicht in einer Weise, deren Determiniertheit man im System selbst ausrechnen konnte, sondern eben in einer Weise, die unvorhersehbar ist. Daher muss man die Information gleichsam süssen, man muss Anreize bieten, von denen man glaubt oder aus Erfahrung weiß, dass die anderen Systeme sich darauf einlassen, dass sie freiwillig, aufgrund eigener Präferenzen kooperieren beziehungsweise, wenn man das ausschließen will, nicht kooperieren, dass sie also entscheiden können und nicht schon durchdeterminierte Systeme sind, die das tun, was sie sowieso tun. Die interessante Hypothese ist, dass Freiheit durch die Duplikation der Systeme aus Determiniertheit entsteht.

Es muss sich um mehr als ein System handeln, und sie müssen komplexitätsunterlegen sein, dürfen also nicht über requisite variety verfugen. Sie müssen interagieren und müssen Freiheit fingieren, um sich selbst in ein Verhältnis zu einem anderen System bringen zu können. Wenn dies auf beiden Seiten geschieht, wird Freiheit qua Fiktion Realität.

Ich weiss nicht, was Sie davon halten. Es ist jedenfalls eine Sache, über die man nachdenken kann und die ein bisschen die alte Diskussion auflost, ob die Welt entweder determiniert oder indeterminiert ist. Wir haben es dann wieder mit einer Paradoxierung der Unterscheidung zu tun: Die Welt ist indeterminiert, weil sie determiniert ist, dies allerdings nicht zentral, sondern lokal.
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Was haltet ihr davon? Wer weiß mehr darüber? Ich hab' nichts genaueres über diese Theorie finden können ...

Diese Theorie "passt" übrigens auch ganz gut zu dem Aufsatz von Singer (ab Seite 15 Selbstmodell als soziales Konstrukt der in "Philosophie oder Naturwissenschaft?" unter Philosophische Literatur diskutiert wird.

In einem gewissen Sinne fügt dieser Ansatz die "fehlende" Zweite-Person-Perspektive hinzu 🙂
Und der darauffolgende Post:
So richtig weiß ich nicht viel darüber, aber bei Luhmann verbietet mir die Ehre, zu schweigen...😉
Luhmann wollte die Soziologie einer Generalüberholung unterziehen und dazu gehörte es auch, Begriffe in Frage zu stellen bis in die Grundfesten.
Der Begriff der Freiheit ist natürlich ein historisch klischeehaft besetzter, einmal in dem Sinne eines Menschen mit freiem Willen und zweitens im Sinne einer freien Gesellschaft, in der sich jeder frei bewegen und entfalten kann.
Die beiden relevanten Systeme, um die es hier geht, Bewusstseinssystem (Individuum) und Kommunikationssystem (Gesellschaft) sieht Luhmann als strukturell gekoppelt an. D.h. beide Systeme sind in ihren Operationen autonom und selbstreferentiell, sie sind aber gekoppelt über Schemata, Skripts etc. die sich in beiden Systemen ausprägen. Zum Beispiel mag ein bestimmter persönlicher Wert (z.B.: Freiheit?!) als Bewusstseinsvorstellung existieren und auch in Kommunikation als solcher diskutiert und begründet werden. Diese beiden Freiheiten, die Idee von ihr und die Kommunikation sind nicht identisch, können es nicht sein (da auf verschiedenen Operationen beruhend) sie hängen aber stark miteinander zusammen.
Die Idee, die Luhmann fasziniert haben mag, ist, dass keiner von beiden, weder Individuum noch Gesellschaft Freiheitsgrade wirklich ausbilden könnten, ohne den anderen. Ich sage Freiheitsgrade, weil natürlich nicht mehr Freiheit im absoluten Sinne gemeint sein kann. Freiheitsgrade, das kommt bei Luhmann oft vor. Und zwar gerade immer wieder als das Paradox, das Freiheit immer erst durch Beschränkung gewonnen wird. IN dem Sinne: Wenn ich alles machen kann, kann ich nichts machen, da nichts einen Sinn ergibt. Ein Kunstwerk, ohne Beschränkung (und sei es Selbstbeschränkung) kann kein Kunstwerk sein. Auch im Sinne der Kommunikation: Erst wenn ich mich dem Diktat unterwerfe, anschlussfähig zu sein, indem ich also beim Thema bleibe und erwartbare Kommunikation erzeuge, kann ich auch Tiefe erzeugen, sowie neue Anschlussmöglichkeiten, die dann vom Thema wegführen.
Auch in der Musik: Gerade eine extrem formstrenge und Regeln unterworfene Musik wie die von Bach, lässt erst Bewunderung für die Fantasie und die Absolutheit seiner Musik aufkommen. Neben dem Paradox mag Luhmann auch die Ironie der Idee gefallen haben.

Ich nehme nicht an, dass Luhmann diese Ideen als einziger formuliert hat, Singer muss also nicht bei ihm geklaut haben, er benutzt auch eine etwas andere Terminologie. Auch benutzt er das Beipiel vom Individuum, das sich im anderen spiegelt, wobei es korrekter heißen müsste, es spiegelt sich in der Gesellschaft. Beziehungsweise würde es bei Luhmann wahrscheinlich heißen: Ein Beobachter beobachtet sich selbst indem er andere beobachtet, wie sie ihn beobachten...
Oder so ähnlich 😉

P.S. INteressant wäre zu erfahren, aus welcher Zeit die Vorlesung stammte, weil ich fast vermuten würde, dass es eine frühe war, als er bestimmte Begriffe noch nicht so geanu austariert hatte.

P.P.S Ich würde annehmen, dass Luhmann in "Gesellschaftsstruktur und Semantik", das ich nur in Ausschnitten kenne, auch auf historische und theoretische Ideen von Freiheit eingeht.
Und weiter:
Wintersemester 91/92 (Bielefeld)
Quelle: Niklas Luhmann Einführung in die Systemtheorie,
gibt’s als Buch und als Audio (beides sehr empfehlenswert)
Carl-Auer-Systeme Verlag (http://www.carl-auer.de)

Ich nehme nicht an, dass Luhmann diese Ideen als einziger formuliert hat, Singer muss also nicht bei ihm geklaut haben, er benutzt auch eine etwas andere Terminologie.

Um Himmelswillen! Das wollte ich damit nicht ausdrücken. Nein, ich glaube nicht, dass Singer bei Luhmann "geklaut" hat. Selbst wenn ... Ganz sicher hat Luhmann diese Idee nicht als einziger formuliert, denn sie stammt ja (laut Luhmann) von MacKay 🙂

Luhmann hat einen Faible für Paradoxien. Deswegen wird ihm die Idee, dass die Welt indeterminiert ist, "weil" sie determiniert ist, gefallen haben - das ist mir klar. Mein Problem ist: ich kriege nicht mehr über diese Theorie heraus! Ich würde gerne mal einen (etwas ausführlichern) Aufsatz darüber lesen
Dann im Juli 2006:
Freiheit

Hi. [...],
dieses Zitat aus den Vorlesungen "Einführung in die Systemtheorie '92" ist für mich eines der schönsten, die ich je gelesen habe. Strenggenommen ist das für mich Poesie. Seit langem bin ich fasziniert von dem gewaltigen Denkgebäude Luhmanns. Und dieser Verweis auf Donals McKay gehört eindeutig zu den Prunkstücken des Luhmannschen Theorie Puzzels.

Luhmann übersetzt die Situation ja mit dem Begriff der doppelten Kontingenz. Macht aber in seinen Schriften nicht - so schön wie in diesem Zitat - deutlich das seine Theorie eigentlich auf dem Begriff der Freiheit aufbaut. Ohne Freieit, keine sinnvolle, angepasste Koordination, sondern leeres Aufeinanderlaufen und die notwendikeit eines Gottes (oder ähnliches) der alles koordiniert. Schön finde ich die Konsequenzen. Verantwortung gewinnt ein ganz anderes Gewicht, bei der Beobachtung von Welt (siehe Heinz von Foerster, usw.). ...Und es wird so vieles Möglich.. also denkbar, wenn man doppelte Kontingenz unterstellt. Es ist die Ansage, das Menschen ihre Welt selbst gestalten, aber nicht alleine. Sondern zusammen. So oder so.
Das wäre es im Grunde schon ...




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Fr 22. Dez 2023, 03:45

Moment mal, nach weiterem Recherchieren über den Eröffners des oben zitierten Threads, ob es da noch weiteres Interessantes gibt, sehe ich, dass dies ein gewisser Jörn Peter Budesheim gewesen sein soll. Soviel Zufall gibt's ja gar nicht ... 🙃




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Fr 22. Dez 2023, 14:13

"Das Schiff, auf dem Theseus mit den Jünglingen losgesegelt und auch sicher zurückgekehrt ist, eine Galeere mit 30 Rudern, wurde von den Athenern bis zur Zeit des Demetrios Phaleros aufbewahrt. Von Zeit zu Zeit entfernten sie daraus alte Planken und ersetzten sie durch neue intakte. Das Schiff wurde daher für die Philosophen zu einer ständigen Veranschaulichung zur Streitfrage der Weiterentwicklung; denn die einen behaupteten, das Boot sei nach wie vor dasselbe geblieben, die anderen hingegen, es sei nicht mehr dasselbe." (Plutarch; Vita Thesei; 23)

Am Theseus-Paradoxon läßt sich eine Denkfigur illustrieren, die ebenfalls in der alteuropäischen Tradition verwurzelt ist: die Konstellation vom Ganzen und seinen Teilen. Wie muß man sich das Zusammenkommen eines Ganzen, das aus Teilen besteht, vorstellen? - Nach und nach werden alle Teile des Schiffes ausgetauscht bis schließlich alle Teile ausgetauscht sind. Behält das Schiff damit noch seine Identität? Oder hat man es jetzt mit einem zweiten Schiff zu tun?

Man sieht schnell die Verlegenheit, in die man gerät, wenn man die Gesellschaft als das Ganze nehmen würde, das sich aus Menschen als seinen Teilen zusammensetzt. "Unter heutigen Gesichtspunkten würde man sagen, daß es sich um zwei verschiedene Beschreibungsebenen handelt, die, wenn man sie auf eine Einheit bringen würde, paradox werden: einerseits das Ganze und andererseits die Teile. Man kann etwas an Systemen von den Teilen her beschreiben und vom Ganzen her, aber man kann nicht sagen, es besteht aus den Teilen und dann noch aus etwas anderem, das das Ganze ist. Das Ganze ist nicht eine Verlängerung der Liste der Teile." (S. 298f)

In der politischen Rhetorik besitzt diese Vorstellung vom Ganzen und den Teilen, aus denen es sich zusammenfügt, eine enorme Suggestionskraft. "Wir schaffen das." Wir als das Ganze der Gesellschaft. "Jeder von uns muß seinen Beitrag dazu leisten." - Jeder als Teil des Ganzen und zum Wohle des Ganzen. Das beliebteste Adverb unserer Bundesaußenministerin ist "gemeinsam" (mit starker Betonung auf der zweiten Silbe).

In der Agitationsrhetorik des Faschismus hat "der Einzelne" sich "dem Ganzen" unterzuordnen. Das Ganze der "Volksgemeinschaft" ist das Höherwertige; sich dafür zu opfern, ist ehrenvoll. Man kann solche Totalitätsvorstellungen auch an Katastrophenfilmen beobachten. Der Held gibt sein Leben dafür, daß die Gemeinschaft überlebt. Am Ende hat womöglich auch er überlebt, aber nur ganz knapp; es zählt dann immerhin die Bereitschaft, den eigenen Tod in Kauf genommen zu haben. -




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Fr 22. Dez 2023, 16:52

Kurz noch mal zu diesem Attribut "alteuropäisch". - Das ist keineswegs ein Ausdruck der Verachtung, das Gegenteil trifft zu. Man darf sich das nicht so vorstellen als wäre damit ein defizitäres Denken gemeint. Luhmann selbst spricht von "Bewunderung". Alteuropäisch bedeutet nur, daß aus den antiken und mittelalterlichen Philosophien heraus, die moderne Gesellschaft in ihrer Funktionalität nicht angemessen beschrieben werden kann. Damit verbindet sich nicht der Vorwurf irgendeiner Dummheit vergangener Generationen. Es ist aber auch nicht nur Bewunderung, sondern es verbindet sich damit auch eine Notwendigkeit. Das Studium des Alteuropäischen macht die Sicht auf das Moderne erst möglich. Insbesondere die Epochenschwelle zur Neuzeit (16./17. Jahrhundert) war für Luhmann ein wichtiges Forschungsgebiet. "Überholt" ist so gesehen nichts; es geht um die Quellenlage, nicht darum, ob Hobbes mit seiner These, daß der Mensch des Menschen Wolf sei, richtig liegt oder Aristoteles mit seinen Seelenteilen. Quellenstudium betreibt man, um eine geistesgeschichtliche Linie zu erkennen, um eine Umstellung in der Terminologie, in der Metaphorik u.ä. und deren Wirkungsgeschichte offenzulegen, nicht um sich darüber zu mokieren.

Und selbstverständlich hab' auch ich nichts gegen das alteuropäische Denken. Wer ältere Beiträge von mir noch in Erinnerung hat über Philosophie auch über Literatur (Dante, Botticelli, Warburg, Blumenberg, "Poetik und Hermeneutik" ...) teils mit Zitation im Original, wird das vielleicht schon bemerkt haben. Alteuropäischer geht es nicht mehr. ;)




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Fr 22. Dez 2023, 18:01

Am Ende dieser 12. Vorlesung geht es um einen interessanten Punkt, nämlich um die Begriffsgeschichte der Moral, die mit dem aristotelischen "Ethos" beginnt und im Mittelalter zunehmend das Moralische als das Soziale konzipiert. In der Moderne erreicht das seinen Höhepunkt bei Emile Durkheim: die Gesellschaft als moralische Anstalt usw.

Ich führ' das jetzt nicht weiter aus (S. 303 - 309); es ist hier bereits wiederholt besprochen worden.

Damit fehlt nur noch die abschließende 13. Vorlesung. Wenn es niemand anderen drängt, schreibe ich morgen ein paar Zeilen dazu, dann sind "wir" mit allem durch. ;)




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Sa 23. Dez 2023, 18:17

Auch die 13. Vorlesung beschäftigt sich noch einmal mit der Selbstbeschreibung der Gesellschaft. Den Abschnitt über Intimsysteme lasse ich jetzt an dieser Stelle beiseite; das wurde in einem anderen Thread schon angesprochen.

Ein Paradigmenwechsel in der Kunstbetrachtung findet im 16. Jahrhundert statt. Man gibt "die alte Idee einer Einheit von Sein, Schönheit, moralischer Qualität, Wissen und Wahrheit auf" (S. 315). Wissenschaft gründet nunmehr zunehmend auf Empirie und Mathematik. Der Mimesis der antiken Vorstellung von Kunst wird aufgegeben zugunsten dessen, was man später Genieästhetik genannt hat.




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Sa 23. Dez 2023, 18:31

Das zentrale Anliegen all jener Veränderungen in der Liebessemantik, in der Kunst oder auch in der Rechtstheorie (Umstellung von Naturrecht auf positives Recht) oder in der Pädagogik ("Bildung" wird in der Folge der Aufklärung ein Ziel über den Nutzen praktischen Wissens hinaus ein Ziel der Erziehung) ist die Reflektionstheorie dieser Bereiche. Was Liebe eigentlich ist oder Recht oder Bildung (eng gekoppelt mit der Frage "Was ist der Mensch?" wird Gegenstand von Theorien, die als Reflexionstheorien gleichsam sich selbst enthalten.




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Sa 23. Dez 2023, 18:56

Mit dem 18. Jahrhundert sind es Vernunft- und Subjekttheorien, die immer eine "dunkle Seite mitschleppen, die das abdunkelt, was man zu sehen bekäme, wenn man fragt, was denn mit denen geschieht, die unvernünftig sind." (S. 322)

Luhmann erwähnt ihn an dieser Stelle nicht, aber vielleicht hatte er hier die Untersuchungen von Michel Foucault im Sinn über "Die Geburt der Klinik" oder "Wahnsinn und Gesellschaft".




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Sa 23. Dez 2023, 19:39

Ganz am Ende der 13. Vorlesung faßt Luhmann noch einmal die grundlegende Absicht der Systemtheorie zusammen: "Die Idee ist, auf diese Weise eine Verschränkung von großenteils vorhandenem Wissen zu erreichen und in eine Gesellschaftstheorie zu überführen, und ich denke, der Rückblick auf die semantische Tradition hat wenigstens andeutungsweise gezeigt, daß man damit in alle Bereiche der historischen, literarischen Erinnerungen und der aktuellen Diskussionen hineingreifen kann. (...) Das soziologische Publikum für eine Theorie dieses Typs ist schon begrenzt." (S. 322)

Das ist vielleicht einer der Vorzüge der Systemtheorie der Gesellschaft, daß sie Vergleichbarkeiten aufstöbert, daß sie vielfache Entwicklungen aufeinander beziehen kann.




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Sa 23. Dez 2023, 19:49

Der allgemein "systemisch-funktionalistische" Charakter der Systemtheorie lässt es zu, praktisch "interdisziplinär" ansonsten relativ unverbunden nebeneinander existierender "Spezialgebiete oder -ansätze" "seriös & produktiv" "zusammenzudenken", würde ich meinen.




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Sa 23. Dez 2023, 19:57

Damit sind einige wenige Aspekte der Vorlesung "Einführung in die Theorie der Gesellschaft" von Niklas Luhmann aus dem WS 1992/93 skizziert. Alles in allem denke ich, daß es uns einigermaßen gelungen ist, die Eigenarten und das Erwartungspotential der Systemtheorie darzustellen. Diese Darstellung kann im Rahmen eines Forums kaum mehr als Andeutungen beinhalten. Vielleicht haben sie Interesse geweckt, vielleicht auch bestandenes Interesse zerstreut.

Wie auch immer - Euch allen ein ruhiges Weihnachtsfest im Kreis der Familie und derer, die Euch wichtig sind. ;)




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Sa 23. Dez 2023, 20:05

Herzlichen Dank dafür!

Und ein frohes Fest allerseits!




Timberlake
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So 24. Dez 2023, 02:39

Apropos "Frohes Fest"
Ich denke mal , dass wenn man sich heute "Frohes Fest" wünscht , dergleichen auf eben jene zunehmenden Normalisierung von Unwahrscheinlichkeiten zurück zu führen ist. Wer hätte denn seiner Zeit , als Jesus in der Nacht vom 24. auf den 25. Dezember geboren wurde , auch nur im Entferntesten daran gedacht, dass es irgendwann einmal "normal" sein wird, seiner Geburt derart zu gedenken. Das man mehr noch diese Geburt , mit dem Jahre 0 , zur Grundlage der Zeitrechnung macht.

Dazu vielleicht noch ergänzend ..
  • "Was wäre wahrscheinlich , wenn wir uns 5000 Jahre zurück bewegen in der Zeit , wo wohl die Schrifft erfunden wurde und dergleichen . Wo die ersten Städte , die ersten Typen von Hochregionen entstehen , was ist von da aus wahrscheinlich. Die Erfindung des Automobils oder was immer man nennen will. Unsere ganze moderne Welt, war von da aus gesehen nicht wahrscheinlich."
    Niklas Luhmann - Theorie der Gesellschaft 8/13 20:40 min
Insofern wir uns übrigens alles andere , als sicher sein können , mit was für eine Welt wir es zu tun bekommen, wenn wir uns 2000 bzw. 5000 Jahre in die Zukunft bewegen. Ob man sich ggf. auch noch in dieser Welt "Frohes Fest" wünscht .

Dazu nur mal zur Erinnerung ..
sybok hat geschrieben :
Fr 1. Dez 2023, 12:34

In der 8. Vorlseung geht es um Evolution, dabei geht es zunächst auch gar nicht explizit um die Systemtheorie. Luhmann spricht in meiner Wahrnehmung einige interessante Aspekte an:
Evolution und deren Bezug zu einer Auffassung von Fortschritt. Evolution kann auch stagnieren oder rückläufig sein (wobei ich dieses Vokabular für etwas "gefährlich" halte, denn es inkorporiert ja schon ein Fortschrittgedanke). Luhmann stellt also den Fortschrittsgedanken in Frage, fragt, für wen, welchen Beobachter, etwa "mehr Vogelarten" ein Fortschritt sei, sagt aber, dass trotzdem Trendaussagen im Rahmen einer Evolutionstheorie möglich seien.




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So 24. Dez 2023, 09:52

"Temporale Nostrozentrik" nennt Hans Blumenberg die Form eines Denkens, das die Vergangenheit und die Zukunft auf das Jetzt als zentralen Konvergenzpunkt zulaufen läßt. Einer solchen Nostrozentrik entspricht die Vorstellung, daß einerseits die Vergangenheit notwendigerweise in diese Gegenwart und keine andere einmünden mußte und andererseits der Zukunft und ihrer Ausgestaltung eine Teleologie innewohnt, die von der Gegenwart ihren Ausgang nimmt, in ihr bereits beschlossen liegt. In der Genesis der kopernikanischen Welt wird diese Nostrozentrik in ihrer "geschichtlichen Überheblichkeit" herausgearbeitet, die "jeder Gegenwart ihren finalen Zeitbezug bestätigt (S. 201).

Die Möglichkeiten des Vergangenen und des Zukünftigen werden damit in ihrer Komplexität und Kontingenz verengt, indem das historische Denken sich überanstrengt, geschichtliche Verläufe als vom Charisma des Gegenwärtigen beeindruckt darzustellen.

Aus dieser "geschichtlichen Überheblichkeit" heraus lassen sich trefflich Projektionen anstellen über Zustände vor 2000 Jahren und solche in 2000 Jahren. Man weiß dann, daß es so kommen mußte wie es kam und wie es kommen wird, wenn es so weitergeht wie jetzt. Temporale Nostrozentrik treibt heute die Diskussionen über Künstliche Intelligenz, Klimawandel u.ä. an.




Timberlake
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So 10. Mär 2024, 21:42

Nauplios hat geschrieben :
So 24. Dez 2023, 09:52
"Temporale Nostrozentrik" nennt Hans Blumenberg die Form eines Denkens, das die Vergangenheit und die Zukunft auf das Jetzt als zentralen Konvergenzpunkt zulaufen läßt.
...
Aus dieser "geschichtlichen Überheblichkeit" heraus lassen sich trefflich Projektionen anstellen über Zustände vor 2000 Jahren und solche in 2000 Jahren. Man weiß dann, daß es so kommen mußte wie es kam und wie es kommen wird, wenn es so weitergeht wie jetzt. Temporale Nostrozentrik treibt heute die Diskussionen über Künstliche Intelligenz, Klimawandel u.ä. an.
Um zu dem , was heute von einer " temporalen Nostrozentrik " angetrieben wird , einmal Luhmann höchstpersönlich zu Wort kommen zu lassen ...
  • "Ich führe diese Überlegung noch mit einem Schritt weiter . Um noch das Problem der Stabilisierung oder Restabilisierung ein zu beziehen und ich denke hier ist der Mechanismus , der Reproduktion von Systemgrenzen oder die Autopoiesis des Sytems selbst. Wenn man es also mit varianten Strukturen zu tun hat , ist die Frage , wie weit das innerhalb der Gesellschaft , mit dem System Umweltbeziehungen noch durchgeführt werden kann. Oder ob Variationen sich zwar anbieten, Selektionen dem zwar folgen , aber nachher innerhalb der Gesellschaft zu goßen Schwierigkeiten auftauchen.

    Das ist eine Problemstellung , die , glaube ich , erst heute an Plausibilität gewinnt .

    Solange man glaubte , dass Arbeitsteilung und Geldwirtschaft , staatlich organisierte Macht, private Itimbeziehungen unproblematisch seien und auf dem Wegen des Fortschritts liegen, solange konnte man sagen , es ist eine evolutionäre Errungenschaft , dass wir diese Einrichtungen gefunden haben und damit privates und öffentliches , politisches und ökonomisches auseinander halten können. In der heutigen Situation ist in diesen Hinsichten eher Zweifel zu spüren und man fragt sich , ob die moderne Gesellschaft überhaupt stabil sein kann , wenn sie in solchen Ausmaße , wie das jetzt der Fall ist , über Selektionen aktive Strukturänderungen validiert und dabei keine Rücksicht nimmt auf die System-Umwelt- Beziehung."
    Niklas Luhmann - Theorie der Gesellschaft 8/13 .. ab 1:08:20




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