evolutionärer Fehlschluss

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Jörn Budesheim

Di 1. Okt 2024, 13:35

Es würde mich ehrlich gesagt wundern, wenn der Ausdruck „evolutionärer Fehlschluss“ nicht bereits irgendwo auftaucht, aber auf die Schnelle konnte ich bei Google kaum etwas finden. Ich bin mir nicht sicher, ob ich perfekt erklären kann, was ich darunter verstehe, aber ich versuche es.

(Hier gibt es die Treffer. )

Nehmen wir als Beispiel die Vorliebe für Süßes. Stellen wir uns vor, eine Gruppe hätte diese Eigenschaft. (Vorliebe für Süßes und Süßes hat sich sicherlich koevolutionär entwickelt, aber es kommt mir hier auf nur auf das Muster an nicht auf den tatsächlichen evolutionären Verlauf.) Die Vorliebe für Süßes bietet offensichtlich evolutionäre Vorteile, da Zucker für den frühen Menschen eine wichtige Energiequelle darstellte und somit das Überleben förderte. Nun würde der evolutionäre Fehlschluss darin bestehen, zu sagen, diese Vorliebe sei vollständig durch den evolutionären Vorteil erklärbar.

Aber das greift zu kurz. Was dabei übersehen wird, ist, was diese Vorliebe für die Gruppe selbst bedeutete – was es für sie selbst hieß, der Lust auf Süßes nachzugeben. Die Evolutionstheorie kann uns nicht erklären, wie diese Lust auf Süßes empfunden wird oder was sie "subjektiv" ausmacht. Sie kann uns lediglich sagen, warum diese Vorliebe im evolutionären Prozess eine Chance hatte, zu bestehen.

Der Fehlschluss liegt also darin, die Erklärungsebenen zu verwechseln oder eine auf die andere zu reduzieren. Man kann nicht einfach behaupten, dass die Gruppe Süßes gegessen hat, weil es evolutionäre Vorteile bot. (Das wäre eine absurde Reduktion). Die Gruppe aß vielleicht Zucker, weil sie Lust darauf hatte oder sich ausmalte, dass es der Zuckergöttin gefällt – der evolutionäre Vorteil ist gewissermaßen nur ein für den Fortbestand dieser Gruppe ziemlich günstiger Nebeneffekt, der aber nicht das Wesen dieser Vorliebe ausmacht.

Nach meinem Gefühl bekommt man solche evolutionären Fehlschlüsse relativ oft präsentiert, wenn bestimmte Dinge, die wir tun, evolutionär erklärt werden und andere Aspekte ausgeblendet sind, als wüsste man schon, worum es sich dabei handelt, wenn man erklären kann, warum es für unser Überleben gut war.

Ich denke, der evolutionäre Fehlschluss ist vielleicht ein Schwager des naturalistischen Fehlschlusses?




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Jörn P Budesheim
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Eben gerade habe ich perplexity.ai folgendes gefragt:
  • Wie nennt man folgenden Fehlschluss: daraus, dass manche Eigenschaften sich evolutionär bewähren, folgt keineswegs, dass wir sie haben, weil sie sich evolutionär bewährt haben.
Die KI hat bestätigt, dass es sich dabei um einen Fehlschluss handelt und als eine der Quellen wurde dieser Faden angegeben :) damit entsteht natürlich ein ernstes Problem, weil ich natürlich nicht meine eigene Quelle sein möchte.




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Eine weitere Recherche hat folgendes ergeben:

Adaptationistischer Fehlschluss (in der Evolutionsbiologie oft kritisiert) – wenn man annimmt, dass jedes Merkmal, das vorteilhaft sein könnte, auch genau deshalb existiert.

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Nachtrag: Wie nennt man folgenden Fehlschluss: daraus, dass manche Eigenschaften sich evolutionär bewähren, folgt keineswegs, dass wir sie haben, weil sie sich evolutionär bewährt haben. Aber diese Formulierung von mir ist nicht wirklich korrekt.

Ein Beispiel: Lebewesen, die zur Liebe fähig sind, haben einen evolutionären Vorteil, das bedeutet aber nicht, dass sie lieben, weil sie ein evolutionären Vorteil haben. Aber der Umstand, dass Liebe einen evolutionären Vorteil darstellt, bedeutet durchaus in einem gewissen Sinne auch, dass die Nachkommen über diese Eigenschaft verfügen, "weil" sie einen evolutionären Vorteil darstellte.

Im Prinzip geht es um diesen Fehlschluss:

Behauptung A: Liebe ist vorteilhaft für das Überleben der Spezies (z. B. durch stärkere Bindung zwischen Eltern und Nachwuchs).

Schlussfolgerung B: Lebewesen lieben, weil es ihnen einen Überlebensvorteil verschafft.

Der Fehlschluss liegt nicht darin, dass Liebe einen evolutionären Vorteil hat, sondern darin, dass man daraus direkt auf die Ursache ihrer Existenz schließt. Die korrekte evolutionäre Erklärung wäre: "Lebewesen, die zur Liebe fähig sind, hatten einen Selektionsvorteil, weshalb sich diese Eigenschaft in der Population durchsetzte." – aber das ist nicht dasselbe wie "Lebewesen lieben deshalb, weil es einen Selektionsvorteil hat."




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"Symmetrische Gesichter gelten als attraktiv, da sie auf gute Gene und Gesundheit hinweisen."

Ich meine, das ist ein typisches Beispiel für einen solchen Fehlschluss.




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