Die Welt als tamagotchi

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Jörn Budesheim
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Fr 6. Sep 2019, 20:38

Interessantes Gedankenexperiment aus einem Vortrag von Markus Gabriel: Alle Menschen würden sich für einen gewissen Zeitraum, sagen wir zwei, drei Wochen oder vielleicht einen Monat, aus der Zivilisation verabschieden. Nehmen wir an, es gäbe genügend Orte, wohin wir uns zurückziehen könnten. Das heißt, niemand würde in dieser Zeit die Infrastruktur, die wir dauernd nutzen, intakt halten. Weder Internet, noch Strom, noch alle Fabriken - nichts davon.

Würden wir, wenn wir an unsere Plätze zurückkehren würden, die Maschinerie noch mal starten können?




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Alethos
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Fr 6. Sep 2019, 21:48

Was würde denn dagegen sprechen, dass wir es könnten? Es ist ja nicht so, dass heute alles von selbst ginge ('ein grosses Funktionieren'),vielmehr ist jeder Einzelne/jede Einzelne treibende Kraft. Würden sie zurückkehren, müssten sie die eingerostete Maschine nur etwas 'flott' machen, lostreten und das Hamsterrad würde sich wieder drehen. Oder? 🙂



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Stefanie
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Fr 6. Sep 2019, 23:33

Beim tamagotchi musste man doch komplett von vorne anfangen, wenn das Küken dank zu wenig Pflege starb. Aber stirbt auch unsere Infrastruktur so, dass man komplett alles neu bauen und neu starten muss, wenn sich niemand mal gerade vier Wochen um die Infrastruktur kümmert?
Mal davon abgesehen, dass in den vier Wochen garantiert jemand auf eine die Idee kommt, sich das Leben ausserhalb der Zivilisation doch angenehmer zu gestalten, z.b. mittels Wasser Strom zu erzeugen.
Mir ist leider die Pointe dieses Experiments nicht klar.



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Goethe

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Jörn Budesheim
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Sa 7. Sep 2019, 06:26

Alethos hat geschrieben :
Fr 6. Sep 2019, 21:48
Was würde denn dagegen sprechen, dass wir es könnten?
Stefanie hat geschrieben :
Fr 6. Sep 2019, 23:33
Mir ist leider die Pointe dieses Experiments nicht klar.
Es geht nach meinem Verständnis dabei um zwei Dinge:

1) Lebewesen (wie wir) sind autopoietische Systeme. Sie erhalten sich selbst. Bei Maschinen ist das völlig anders, sie sind keineswegs solche Systeme, sie sind darauf angewiesen, dass wir sie "pflegen" und "warten".

2) Wenn man ein Handy ein paar Wochen liegen lässt, dürfte wahrscheinlich noch nicht viel passieren, es fehlt wohl dann einfach nur die Energie. (Es geht dann zumindest an.) Allerdings spielen die Infrastrukturen, die Maschinen, die künstliche Systeme auf unendlich komplexe Art und Weise ineinander. Hier gibt es vielfältige Abhängigkeiten. Das funktioniert nur, weil wir das System betreiben und unentwegt am Laufen halten. Diese Abhängigkeiten sind so komplex, das sicherlich niemand einen Überblick darüber haben kann. Wir haben das in unseren Haushalten zwar so eingerichtet, dass es uns kaum auffällt, aber man kann es sich leicht klar machen, wenn man sich etwas umschaut. Dieses gesamte System könnte ziemlich sensibel sein, sodass es eine Vielzahl von Ausfällen nicht ohne weiteres kompensieren kann... ob wenige Wochen schon genügen, um es komplett zu lahmzulegen, also so zu zerstören, dass es nicht wieder anspringt, ist unklar, aber ein paar Jahre Stillstand dürfte es sicherlich nicht aushalten. Dann müssten wir unsere gesamte Zivilisation (mehr oder weniger) von Null wieder aufbauen.




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Alethos
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Sa 7. Sep 2019, 09:10

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 7. Sep 2019, 06:26
Allerdings spielen die Infrastrukturen, die Maschinen, die künstliche Systeme auf unendlich komplexe Art und Weise ineinander. Hier gibt es vielfältige Abhängigkeiten. Das funktioniert nur, weil wir das System betreiben und unentwegt am Laufen halten. Diese Abhängigkeiten sind so komplex, das sicherlich niemand einen Überblick darüber haben kann. Wir haben das in unseren Haushalten zwar so eingerichtet, dass es uns kaum auffällt, aber man kann es sich leicht klar machen, wenn man sich etwas umschaut. Dieses gesamte System könnte ziemlich sensibel sein, sodass es eine Vielzahl von Ausfällen nicht ohne weiteres kompensieren kann... ob wenige Wochen schon genügen, um es komplett zu lahmzulegen, also so zu zerstören, dass es nicht wieder anspringt, ist unklar, aber ein paar Jahre Stillstand dürfte es sicherlich nicht aushalten. Dann müssten wir unsere gesamte Zivilisation (mehr oder weniger) von Null wieder aufbauen.
Mir fällt es schwer, es mir in dieser Komplexität zu denken. Beim Fahrradfahren geht das ja noch ganz leicht: Man kann sich leicht denken, dass man das Fahrrad aus der Garage holen kann, sich nach Jahren wieder drauf setzt, und nach kurzer Zeit wieder so fährt, wie vorher. Auch ein komplexes System wie eine Fabrik oder eine Stadt würde wohl wieder 'funktionieren' können, sofern die einzelnen Komponenten zwischenzeitlich nicht kaputt gehen. Wir würden ja nicht alles verlernen. Aber es ist denkbar, dass das Gesamtgefüge ohne Pflege und Wartung langsam auseinander fällt, weil Schnittstellen marodieren oder dergleichen. Ob wir dabei ganz bei Null anfangen müssten, weiss ich nicht. Vieles bleibt ja irgendwo bestehen, wenn es auch nur unsere Erinnerung an unser einmal erlangtes Können ist. Auch das ganze Inventar selbst wäre ja noch da, nicht mehr verbunden in ein systematisches Funktionieren zwar, aber es wäre noch da.



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Jörn Budesheim
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Sa 7. Sep 2019, 10:35

Es ging mir dabei nicht um die Seite der Akteure. Also nicht um den Punkt, dass wir es gegebenenfalls verlernen. Es ging darum, dass die ganze Infrastruktur davon abhängt, dass wir sie intakt halten und nutzen.

Die Wiederinbetriebnahme eines Fahrrads - das klingt noch relativ unproblematisch. Aber stell dir vor, du hast einen Platten und weder Flickzeug noch Pumpe noch Schlauch. In diesen Fall bist du davon abhängig, dass ein Fahrradladen wieder in Betrieb geht. Ein Fahrradladen hat allerdings noch mal ganz andere viel komplexere Abhängigkeiten, die mittlerweile auch ziemlich digital und verinternetzt sein dürften. Zudem hängt er natürlich auch in der Verkehrsinfrastruktur. Und wenn man bedenkt, wie komplex die Wartung einer schwierigen Lieferkette ist, wenn das ganze System normal läuft, dann kann man sich vielleicht ausmalen, wie schwierig es sein könnte, das ganze von 0 zu starten, wenn es eine gewisse Zeit lang brach liegt.

Man kann sicherlich sagen, dass eins der Probleme die Entropie ist. Wir ringen unsere Ordnungen diesem allgemeinen Gesetz der Entropie ja immer nur auf Zeit mit hohen Energieaufwand ab. Autopoietische Systeme, wie z.b. wir, sind daraufhin angelegt, das zu können. Die ganzen komplexen und überkomplexen Werkzeuge, die wir nutzen, können das von sich aus nicht, wenn wir sie nicht warten, verfallen sie der Entropie.

Und wenn es stimmt, dass eine Kette so stark ist, wie ihr schwächstes Glied, dann können kleinere Ausfälle, schon sehr großes verhindern.




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Stefanie
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Sa 7. Sep 2019, 20:49

Mich erinnert das etwas an das Perpetuum mobile. Wenn der Mensch ein sich selbsterhaltenes Wesen ist, dann ist er doch sowas wie ein Perpetuum mobile.
Das mit der Entropie verstehe Ich nicht, oder ist das der Grund, warum es ein Perpetuum mobile nicht geben kann?



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Alethos
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So 8. Sep 2019, 16:16

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 7. Sep 2019, 10:35
Es ging mir dabei nicht um die Seite der Akteure. Also nicht um den Punkt, dass wir es gegebenenfalls verlernen. Es ging darum, dass die ganze Infrastruktur davon abhängt, dass wir sie intakt halten und nutzen.

Die Wiederinbetriebnahme eines Fahrrads - das klingt noch relativ unproblematisch. Aber stell dir vor, du hast einen Platten und weder Flickzeug noch Pumpe noch Schlauch. In diesen Fall bist du davon abhängig, dass ein Fahrradladen wieder in Betrieb geht. Ein Fahrradladen hat allerdings noch mal ganz andere viel komplexere Abhängigkeiten, die mittlerweile auch ziemlich digital und verinternetzt sein dürften. Zudem hängt er natürlich auch in der Verkehrsinfrastruktur. Und wenn man bedenkt, wie komplex die Wartung einer schwierigen Lieferkette ist, wenn das ganze System normal läuft, dann kann man sich vielleicht ausmalen, wie schwierig es sein könnte, das ganze von 0 zu starten, wenn es eine gewisse Zeit lang brach liegt.
Wenn ich die Versuchsanordnung richtig verstanden habe, dann kommen die Akteure darin an prominenter Stelle vor, nämlich durch ihr Wegbleiben. Und sie kommen ja, nach einer längeren oder kürzeren Zeit, ja auch zurück. Sie würden die 'Maschine' wieder anlassen, aber sie würden das Ganze nicht per Knopfdruck wieder starten, sondern je aus ihrem Subsystem heraus: Der Fahrradmechaniker in seiner Werkstatt, der Zulieferer des Mechanikers aus seiner Produktionsstätte heraus, der Bauer auf dem Feld, der Traktor würde wieder gewartet mit den Werkzeugen, die noch da sind und das Feld würde gepflügt und Früchte würden gesät. Alles würde im Kleinen des Subsystems wieder zu laufen beginnen und, sofern nicht zwischenzeitlich alles verlottert ist, würde es allmählich wieder als Ganzes zu funktionieren anfangen. Ich sehe nicht ganz, dass das ein Beginn von 0 sein soll.



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Jörn Budesheim
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So 8. Sep 2019, 16:57

0 wie aus, statt 1 wie an :)




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Alethos
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So 8. Sep 2019, 17:06

Achso :) Ja, dann ergibt es Sinn. Es müsste wieder zum Laufen gebracht werden aus einem Status des Nichtlaufens heraus.



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Jörn Budesheim
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So 8. Sep 2019, 17:10

Falls es geht! Wenn man sich dem Gedanken ein wenig aussetzt, dann ist es schon erstaunlich, wie extremen vernetzt und verschränkt alles ist!




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Alethos
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So 8. Sep 2019, 17:22

Einige Schnittstellen und Verbindungen, sogar ganze Subsysteme könnten untergehen und 'absterben', weil schlicht kein 'Blut durch die Adern fliesst'.



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