Hufeisentheorie

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Consul
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Di 3. Sep 2024, 21:42

Stefanie hat geschrieben :
Di 3. Sep 2024, 21:30
Formen?
Man kann auch von Formen von Rassismus sprechen, wobei hier kein Bedeutungsunterschied zwischen "Art" und "Form" besteht.



"Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst." – Juliane Werding

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Consul
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Di 3. Sep 2024, 22:24

Es gibt übrigens den Begriff "Extremismus der Mitte":
"Der Begriff Extremismus der Mitte wurde von Seymour Martin Lipset in die Soziologie eingeführt. In seinem Buch Political Man (1959) schrieb er, dass der linke Extremismus seine Basis in den unteren Schichten und in der Arbeiterklasse habe, der rechte Extremismus in den Oberschichten verankert und der Faschismus in der sozioökonomischen Mittelschicht beheimatet sei.…"

https://de.wikipedia.org/wiki/Extremismus_der_Mitte
Man muss hier aber unterscheiden zwischen der sozialen/sozioökonomischen Mitte (innerhalb der hierarchischen Schichtung der Gesellschaft) und der politisch-ideologischen Mitte (innerhalb des linearen Spektrums politischer Ideologien).

Ich habe mich mit Lipsets These noch nicht weiter befasst, aber der Faschismus ist auf jeden Fall Teil des Rechtsextremismus.



"Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst." – Juliane Werding

Wolfgang Endemann
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Mi 4. Sep 2024, 10:46

Consul hat geschrieben :
Di 3. Sep 2024, 22:24

Man muss hier aber unterscheiden zwischen der sozialen/sozioökonomischen Mitte (innerhalb der hierarchischen Schichtung der Gesellschaft) und der politisch-ideologischen Mitte (innerhalb des linearen Spektrums politischer Ideologien).
Richtig. Allerdings gibt es komplizierte Zusammenhänge zwischen der sozialen/sozioökonomischen Mitte und der politisch-ideologischen Mitte. Wenn man ihn nicht vulgärmaterialistisch verkürzt, was leider zu oft getan wurde, ist der Marxsche Gedanke "Das Sein bestimmt das Bewußtsein" unbestreitbar zutreffend. Die Interessen der Menschen und damit ihre Weltbilder sind nicht gleich, können nur manipulativ gleichgeschaltet werden, was aber nur teilweise gelingen kann.

Mein Vorschlag, der eine gewisse Ähnlichkeit mit den hier vorgestellten zweidimensionalen Verortungsschemata hat, aber mE besser die Wertorientierung von der Durchsetzungsform trennt, wurde ja hier nicht angenommen, was ich für einen Fehler halte, denn dadurch kann auch nicht der Unterschied von formaldemokratischem und substantiell demokratischem Verständnis einer Gesellschaftsordnung unterschieden werden. Daher komme ich noch einmal zurück auf meine Unterscheidung.

Ich hatte ja das Hufeisenmodell scharf kritisiert. Man könnte aber im Gegenteil ein Modell bilden, in dem sich das Hufeisenmodell wiederfindet ohne die manipulative ideologische Zielsetzung, mit der das Modell in die Welt gesetzt wurde. Grundlage dafür wäre ein zweidimensionales Modell in Polarkoordinaten. Für die, die sich nicht mehr erinnern, was sie mal in der Schule gelernt haben: Man kann alle Punkte einer möglicherweise unbegrenzten Fläche durch Angabe zweier Werte eindeutig identifizieren, in unseren euklidschen Koordinaten zeichnet man dazu zwei sich senkrecht schneidende Linien (x- und y-Achse) auf der Fläche, normiert einen Abstand (zB 1 cm als "1"), dann erfaßt man alle Punkte der Fläche eindeutig durch die Angabe des Wertepaares (x,y). Man kann aber auch einen Mittelpunkt M festlegen, von dem ein Strahl ausgeht, und zu diesem Strahl einen zweiten zeichnen, der mit dem ersten einen Winkel α bildet. Wenn jetzt der erste Strahl wie eine euklidschen Koordinate behandelt wird, allerdings nur mit Werten ≥0, haben wir wie im euklidschen ein orthogonales Koordinatensystem, mit dem man alle Punkte der Fläche eindeutig erfassen kann. Jeder Punkt ist eindeutig durch zwei Werte (x,α) festgelegt. Nun begrenzen wir die Fläche auf die Halbfläche aller Werte x und α≤180°. Wenn wir einen Halbkreis um M zeichnen, haben wir das Hufeisen. Wenn die Grundlinie durch M des Halbfelds unten liegt, haben wir eine Verortung von rechts=konservtiv, oben=bürgerlich und links=selbstbestimmte Solidargesellschaft. Die politische Mitte ist eine Werteposition, nicht, wie es in einer linearen Vorstellung gedacht wird, eine neutrale Position 0 zwischen + und -. Die 0 in der linearen Ordnung wäre Indifferenz, Unbestimmtheit, völliger Werterelativismus. Und in diesem Modell mit Polarkoordinaten macht der allgemeine Begriff des Extremismus Sinn, er bezeichnet die überstarke Motivation, die Wertepräferenz α durchzusetzen, Je mehr man die eigene Position durchzusetzen trachtet, desto extremistischer ist man. In diesem Modell gäbe es das Ideal des demokratischen Bürgers, der in einem mittleren Intervall [x₁,x₂] seine Position α durch Überzeugung/Argumente mehrheitsfähig zu machen sucht, diejenigen, für die x<x₁ ist, sind die Unengagierten, Gleichgültigen, Nihilisten, diejenigen, für die x>x₂ ist, sind Extremisten. Und hier sieht man, daß es an allen Positionen α Extremisten gibt, also bürgerliche wie linke und rechte.




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Jörn Budesheim
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Mi 4. Sep 2024, 12:03

Ich hab ChatGPT gebeten, das Diagramm in einfachen Worten zu erläutern:

Stell dir vor, wir haben eine Fläche vor uns, wie ein großes Blatt Papier. In der Mitte dieses Blattes ist ein Punkt, den wir "M" nennen. Von diesem Punkt aus geht ein Strahl oder eine Linie gerade nach rechts weg. Das ist wie ein Pfeil, der vom Mittelpunkt ausgeht. Dann zeichnen wir einen weiteren Strahl, der mit dem ersten Strahl einen Winkel bildet. Dieser Winkel gibt uns eine Richtung an.

Jetzt machen wir etwas Besonderes: Wir zeichnen einen Halbkreis um den Punkt M. Der Halbkreis geht von links über oben nach rechts. Diesen Halbkreis können wir uns wie ein Hufeisen vorstellen, das auf dem Kopf steht.

Wie man sich in diesem Hufeisen bewegt:

1. Wert der Position (Winkel α): Stell dir vor, der Halbkreis zeigt, wie Menschen denken oder welche Werte sie haben. Wenn du links bist, stehst du für mehr Gleichheit und Gemeinschaft. Wenn du rechts bist, stehst du mehr für Tradition und Ordnung. In der Mitte stehst du für bürgerliche Werte, also ein bisschen von allem.

2. Wie stark man etwas durchsetzen möchte (Abstand x vom Punkt M): Wenn du nah an M bist, bedeutet das, dass du nicht sehr stark versuchst, deine Meinung durchzusetzen. Du bist eher entspannt oder gleichgültig. Je weiter du dich von M entfernst, desto mehr möchtest du deine Meinung durchsetzen, bis hin zum Extremismus, wo jemand seine Meinung mit allen Mitteln durchsetzen möchte.

Was bedeutet das?

- Die Mitte: Die Mitte des Halbkreises zeigt nicht, dass man neutral oder gleichgültig ist. Es bedeutet, dass man eine ausgewogene Position hat, aber man kann sie trotzdem stark oder weniger stark durchsetzen wollen.

- Extremismus: Egal, ob man links, rechts oder in der Mitte steht – wenn man seine Meinung sehr stark durchsetzen will, bewegt man sich weiter weg von M und wird „extrem“.

- Die Unengagierten: Diese Menschen bleiben nah an M. Sie interessieren sich nicht sehr dafür, ihre Meinung durchzusetzen, egal, wo sie auf dem Halbkreis stehen.

Zusammenfassung: Das Modell zeigt, dass Menschen unterschiedliche Meinungen (Werte) haben und dass es darauf ankommt, wie sehr sie diese Meinungen durchsetzen wollen. Die politische Mitte ist nicht einfach nur die Mitte zwischen links und rechts, sondern eine Position mit eigenen Werten. Extremismus kann an jeder Stelle des Halbkreises auftreten, wenn jemand sehr stark versucht, seine Meinung durchzusetzen.




Wolfgang Endemann
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Mi 4. Sep 2024, 17:50

@ Jörn
Im Großen und Ganzen gut getroffen.




Wolfgang Endemann
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Mi 4. Sep 2024, 17:53

RoloTomasi hat geschrieben :
Mi 4. Sep 2024, 12:11
"Je mehr man die eigene Position durchzusetzen trachtet, desto extremistischer ist man". Das verstehe ich nicht?
Wäre es deutlicher gewesen, ich hätte geschrieben: "mit allen Mitteln gegen jeden Widerstand durchzusetzen versucht"?
"Und wieso sollte denn das Argumentieren zum Ideal des demokratischen Bürgers gehören?"
Da der demokratische Bürger akzeptiert, daß man anderer Meinung sein kann, ist es demokratisch, wenn der Bürger den Andersmeinenden durch Argumente von der eigenen Position zu überzeugen versucht, totalitär, extremistisch wäre es, den Andersmeinenden einfach zu zwingen. Demokratie ist nicht nur die Feststellung des Mehrheitswillens, sondern zu einer substantiellen Demokratie gehört die freie Meinungsbildung dazu. Da Demokratie gestalten will, muß sie Konsensbildung betreiben und die, die nicht in den Konsens einzubinden sind, wenigstens zum Tolerieren von Mehrheitsbeschlüssen bewegen. Wie soll das gehen ohne Argumentieren? Durch oktroyieren von Beschlüssen? Ist das demokratisch?
Selbstverständlich ist dem Ideal nur so gut nahezukommen, wie die Menschen gelernt haben, vernünftig zu denken. Daher muß die Demokratie, jeder wahre Demokrat im Eigeninteresse universelle Bildung anstreben.




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Quk
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Mi 4. Sep 2024, 18:02

Wolfgangs Modell ähnelt dem, was ich mal im Kopf hatte: Eine Farbscheibe mit einem Mittelpunkt, wo sich alle einig sind. Dort ist es grau. Je weiter man von der Mitte zum Scheibenrand geht, desto gesättigter wird die bevorzugte Farbe (symbolisch für bevorzugte Spezialinteressen), also je mehr man sich vom grau entfernt, desto greller wird es; sprich: desto hartnäckiger wird man:

Farbscheibe.png
Farbscheibe.png (651.59 KiB) 4491 mal betrachtet




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Stefanie
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Mi 4. Sep 2024, 18:34

Hmm.
Also dann ich bei einigen Themen extremistisch, weil ich bei diesen hartnäckig und stur bin.

Bezogen auf einen anderen Aussage hier, ist mein Arbeitgeber linksextrem, weil wir anfangen in Texten zu gendern.



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Quk
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Mi 4. Sep 2024, 18:50

Der Begriff "extremistisch" kommt in meinem Modell nicht vor.

Der Begriff "extremistisch" ist ja nur ein vereinbarter Name für etwas spezielles im politischen Kontext. Das Wort "extrem" an sich ist ansonsten auf fast jede Eigenschaft anwendbar: extrem leise, extrem laut, extrem freundlich, extrem feindlich ...

Außerdem ist "hartnäckig" skalierbar. Es gibt Situationen, da bist sogar Du still, vermute ich :-)




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Stefanie
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Mi 4. Sep 2024, 19:35

Bei Themen, die mir wichtig sind, ist es manchmal nur eine temporäre Stille.



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Quk
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Mi 4. Sep 2024, 19:50

Jedenfalls würdest Du Deine Interessen nicht mittels Terroranschlägen durchsetzen, meiner Einschätzung nach.

In einigen Fällen des Terrors ist die politische oder religiöse oder geografische Herkunft völlig irrelevant: Die Ursache für solchen Terror ist eine narzistische Persönlichkeitsstörung. Die Person ist in einer unglücklichen Lage und will sich umbringen, und dabei möglichst viele Mitmenschen mit in den Tod reißen. Solche Fälle würden auch dann passieren, wenn alle Menschen politisch und religös gleich ausgerichtet wären und dieselbe Hautfarbe hätten. Der Kern liegt im Narzissmus, alles andere drum herum sind austauschbare Etiketten. Eliminiere alle Religionen, und das Narzissmus-Problem bleibt weiter bestehen, Consul.




Wolfgang Endemann
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Mi 4. Sep 2024, 21:49

Quk hat geschrieben :
Mi 4. Sep 2024, 18:02
Wolfgangs Modell ähnelt dem, was ich mal im Kopf hatte
Ja, das ist im Wesentlichen das gleiche Modell. Ich finde es sogar besser, ich habe mein halbseitiges Modell nur genommen, weil ich das Hufeisenmodell repräsentieren wollte. Besser ist jedoch ein vollständiges Feld in Polarkoordinaten, also mit 0≤α≤360°. Es ist schon geeigneter, eine tripolare Denkmannigfaltigkeit zu beschreiben, also die Präferenzen konservativ, bürgerlich und links. Und das sind ja keineswegs die einzig möglichen Präferenzen. In komplexen entwickelten Gesellschaften gibt es, auch wenn die drei Fundamentalalternativen ihre Bedeutung behalten, oft eine größere Multipolarität, aufgrund derer sich andere Konflikte in den Vordergrund schieben können. Schon die linke Position ist gespalten, es gibt zwei gänzlich unterschiedliche, gleichwohl dezidiert linke Motive, die im Grunde nicht zu trennen sind, allerdings durchaus getrennt geltend gemacht werden. Da ist einerseits das Ziel einer Solidargemeinschaft, andrerseits das einer selbstbestimmten Gesellschaft, Emanzipation.

In diesem Modell ist der Mittelpunkt, das (0,0) der Polarkoordinaten, bei Dir das vollkommene Grau, die vollkommene Mischung, der status quo der Gesellschaft; wenn die Gesellschaft sich ändern soll, muß eine gesellschaftliche Gesamtkraft, also ein dominanter Veränderungswille, die Gesellschaft aus dieser Mittelposition herausziehen. Extremistisch ist das erst, wenn die Änderung zu weit in einen Gestaltungspol, also bei Dir eine reine Farbe, gezwungen wird, was für die unterlegenen politischen Kräfte inakzeptabel ist.




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Quk
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Mi 4. Sep 2024, 21:59

Ergänzung: Auf dieser Farbscheibe kann eine Person nicht mit einem einzigen Punkt dargestellt werden, sondern muss mit vielen verschiedenen Punkten dargestellt werden. Die vorigen 2-dimensionalen Modelle stellen nur 2 Parameter dar, im Hufeisen sogar nur einen Parameter. In der Farbscheibe sind es aber unendlich viele Parameter ("Farbtöne"). Jeder Farbton (Kreiswinkel) steht für ein bestimmtes Interesse. Die jeweilige Farbsättigung (Abstand von der Mitte) steht für die Wichtigkeit des Interesses. Ein Mensch hat mehrere Interessen, und jedes Interesse ist dem Menschen unterschiedlich wichtig, und all diese Punkte sind nicht zu einem Punkt zusammenfassbar.

Auf dieser Farbscheibe hat jeder Mensch ein persönliches Punkte-Muster.




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Jörn Budesheim
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Do 5. Sep 2024, 07:33

Nur eine kleine Randbemerkung am Vormittag: Wie auch immer die Einteilung des politischen Spektrums aussehen mag, sie ist selbst Teil der politischen Sphäre und nicht wie die Karte einer Landschaft mehr oder weniger eine Beschreibung von außen. Sie macht Angebote zur "Selbstverortung". Und diese Angebote (oder wie immer man sie nennen will) sind selbst konstituierender Teil der Landschaft, denn sie schaffen (lose oder feste) Identitäten oder auch "Wir" und "Ihr". Das Hufeisen und ähnliche Bilder und Begriffe, beschreiben die politische Landschaft nicht nur, sie formen (neben anderen Faktoren) sie auch.




Wolfgang Endemann
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Do 5. Sep 2024, 12:28

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 5. Sep 2024, 07:33
sie ist selbst Teil der politischen Sphäre und nicht wie die Karte einer Landschaft mehr oder weniger eine Beschreibung von außen. Sie macht Angebote zur "Selbstverortung".
Das ist richtig, und ich möchte nicht versäumen, darauf hinzuweisen, daß beide Modelle der Verortung des politischen Standpunkts unbefriedigend sind, Deine zwei vorgestellten linearen Modelle von Harry Lehmann wie die von Quk und mir herangezogenen zentristischen. Erstere sind ja Varianten des "politischen Kompasses", sie fußen auf einer normierten zweidimensionalen Skala von komplementären Begriffspaaren. Das setzt die lineare Unabhängigkeit dieser Begriffspaare voraus, jemand ist dick oder dünn, und er ist groß oder klein. Es ist eine aristotelische Verortung. Ihr Vorteil ist die Eindeutigkeit der Verortung in einem zweidimensionalen Vektor <x,y>. Nur entspricht das kaum der Wirklichkeit, in der die Positionen sich nicht so analytisch trennen lassen. Links und rechts sind inkommensurabel, Mitte ist keine qualitätslose Position, weder links noch nichtlinks. Daher haben Quk und ich versucht, diese Verortung qualitativ darzustellen. Aber auch diese Modelle entsprechen der Wirklichkeit kaum besser. In meinem Fall (Polarkoordinaten) muß ich die problematische Annahme machen, daß es ein qualitatives Spektrum gibt, das ich mit meinem Winkel α erfasse. Da habe ich die Graustufen von weiß bis schwarz durch ein Farbenspektrum ersetzt. So kommt man ganz gut auf die Regenbogenfarben des Multikulti-Spektrums, aber es ist eine - vielleicht menschenfreundliche - Ideologie. Diese graphischen Veranschaulichungsformen haben zweifellos einen heuristischen Wert, können aber die Begriffsarbeit nicht ersetzen.




Wolfgang Endemann
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Do 5. Sep 2024, 12:33

RoloTomasi hat geschrieben :
Do 5. Sep 2024, 10:10
er kann und will keine von ihnen missen oder gar eliminieren. Er kann und will sich aber auch mit keiner der reinen Farben vollkommen identifizieren
Ja, Menschen sind nicht nur konservativ oder freiheitssüchtig, sondern beides. Auch der Wutbürger, der sich über die teuren Mieten aufregt und die vielen Migranten, eventuell Türken dafür verantwortlich macht, macht gerne Urlaub in der Türkei. Wir Menschen suchen das Abenteuer, aber wir suchen dann auch den vertrauten Platz, an dem man entspannen kann. Diese Gegensätze müssen im Gleichgewicht sein. Zwar zielt linke Politik, die den Menschen für lernfähig und daher eine größere Komplexitätsbewältigung, Toleranzbreite für wünschbar, weil im Endeffekt für vorteilhaft hält, auf größere Vielfalt, Buntheit, aber das kann nicht erreicht werden aufkosten der Bestände, Sicherheiten, Vertrautheiten. Wenn das mit konservativem Sozialismus gemeint ist, hat das BSW recht.




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Jörn Budesheim
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Wolfgang Endemann hat geschrieben :
Do 5. Sep 2024, 12:28
Links und rechts sind inkommensurabel
Links und Rechts sind geradezu exemplarisch kommensurable Positionen. Die einen treten für Umverteilung ein, während – provokant ausgedrückt – die anderen es bevorzugen, dass die Reichen reicher werden. Was könnte vergleichbarer sein? Ähnlich verhält es sich auf der kulturellen Achse: Die Konservativen möchten, salopp gesagt, alles beim Alten belassen und Traditionen bewahren, während die Progressiven auf Wandel und Fortschritt setzen. Beide Achsen bei Harry Lehmann, ob ökonomisch oder kulturell, basieren natürlich auf qualitativen, inhaltlichen Unterschieden.




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Quk
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Do 5. Sep 2024, 16:58

Wolfgang Endemann hat geschrieben :
Do 5. Sep 2024, 12:28
Daher haben Quk und ich versucht, diese Verortung qualitativ darzustellen. Aber auch diese Modelle entsprechen der Wirklichkeit kaum besser.
Ja, alle Modelle sind letztendlich nur grobe Tendenz-Anzeiger. Die Mathematik kann eben nicht alles beschreiben. Die einzelnen Parameter -- seien es zwei oder unendlich viele -- sind an sich nichtmathematisch (qualitativ), und ihre jeweilige Intensität -- also ihr Abstand von der Mitte -- ist mathematisch (quantitativ). Wie präzise diese Intensität mittels einer Zahl beschrieben werden kann, hängt ab von der jeweiligen Parameter-Art, also von der Art des jeweiligen Interesses. Das funktioniert bei manchen Interessens-Arten durchaus gut, sofern man das Scheibenmodell nimmt, das ja unendlich viele Interessen darstellen kann. Beispiele:

Wie viele Menschen sollen pro Jahr zuwandern dürfen? -- Skala von grau bis knallig (von 0 bis 50 Millionen).
Wie hoch soll ein Milliarden-Einkommen besteuert werden? -- Skala von grau bis knallig (von 0 bis 100%).
Wie groß darf ein Damenkopftuch sein? -- Skala von grau bis knallig (von kopfrei bis komplett verschlossen).

Nun stellt sich aber die Frage, wie die jeweilige Skala kalibriert wird -- wie Rolo und Wolfgang schon andeuteten. Da tauchen mindestens zwei Probleme auf:

Bei der Frage nach der Zuwanderungszahl etwa: Wo auf der Skala setze ich die Null? Wohl nicht in der Mitte. In der Mitte kann aber auch nicht die Maximalzahl stehen. Also müssen sowohl die Null als auch die Maximalzahl jeweils an den Scheibenrand, an den jeweils gegenüberliegenden Rändern, so dass eine Linie durch die ganze Scheibe gezogen wird, von Rand zu Rand via Mitte. Welche Zahl ist dann in der grauen Mitte? Vielleicht irgendein Durchschnittswert aus einer Umfrage? Schwierig. Das ist das eine Problem.

Eine andere Lösung wäre, statt eine Zahlfrage zu stellen, ein konkretes Anliegen zu formulieren, und dann zu fragen, wie hartnäckig man dieses Anliegen durchsetzen möchte. Die graue Mitte wäre dann die völlige Gleichgültigkeit, und der Rand wäre der Terror:

"Viele Menschen sollen zuwandern dürfen." -- Skala von grau bis knallig (von "egal" bis "dafür kämpfe ich mit Terror").
"Keine Menschen sollen zuwandern dürfen." -- Skala wie oben.
"Milliarden-Einkommen sollen hoch besteuert werden." -- Skala wie oben.
"Milliarden-Einkommen sollen niedrig besteuert werden." -- Skala wie oben.
Etc.

Man wird natürlich niemals Milliardäre in einem blutigen Straßenprotest auffinden; Terror kann auch hinter dem Vorhang organisiert werden mit der Macht des Geldes. Solche Strippenzieher sind auch Terroristen. Mit Terror meine ich also nicht nur Straßenkampf und Attentate in der finalen Umsetzung, sondern alle ursächlich Beteiligten.




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Jörn Budesheim
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Do 5. Sep 2024, 18:04

Soll deine Grafik ganz ohne grundlegende abstrakte Konzepte auskommen?

Bei dem Koordinatensystemen, die den bisherigen politischen Raum darstellen soll, gibt es den ökonomischen Grundkonflikt zwischen links und rechts und auf der kulturellen Achse der Konflikt zwischen konservativ und progressiv.

Irgendetwas vergleichbares finde ich in deinem Farbraum nicht, oder?




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Quk
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Do 5. Sep 2024, 18:26

Konservativ und progressiv beziehen sich immer auf spezielle Angelegenheiten. In manchen Angelegenheiten bin ich konservativ, in anderen bin ich progressiv. Man kann zwar in allen speziellen Angelegenheiten in der Summe einen Durchschnittswert schätzen, aber das Ergebnis ist dann auch entsprechend undifferenziert. Das Scheibenmodell ist bei weitem nicht das genaueste, weil auch dieses gewisse Durchschnittswerte benötigt, aber ich denke, es ist genauer als jene 2- oder 1-dimensionalen Durchschnittswertmodelle.

Dennoch kann das Scheibenmodell auch größer zusammenhängende Tendenzen zeigen, indem die speziellen Angelegenheiten themenmäßig nah beieinander im selben Kreissektor stehen. Das ergibt aus der Entfernung betrachtet gewisse Punkte-Wolken.
Zuletzt geändert von Quk am Do 5. Sep 2024, 18:33, insgesamt 1-mal geändert.




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