Hufeisentheorie

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Jörn Budesheim
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Sa 31. Aug 2024, 18:25

Wolfgang Endemann hat geschrieben :
Sa 31. Aug 2024, 18:03
Wenn wir uns nicht polarisieren...

Weiter oben hast du den Ausdruck von einer unversöhnlich polarisierten Gesellschaft genutzt. Und das scheint nicht den Tatsachen zu entsprechen. Man mag von Polarisierung sprechen, sie ist aber insgesamt nicht so stark, wie man oft denkt. „Der aktuelle Forschungsstand zeigt jedoch, dass diese Phänomene [der Polarisierung] oft überschätzt werden“ (Anna Sophie Kümpel, Juniorprofessorin für digitale und soziale Medien an der TU Dresden).

Ein Beispiel: "Bei den Themen Klimawandel, soziale Gerechtigkeit und Gleichberechtigung sind sich Menschen sogar recht einig. Selbst beim Thema Migration sind die Meinungen weniger gespalten als zum Beispiel beim Organspendeausweis." (Gemäß Forschungen der Soziologen Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser)

Das ist etwas anderes, als zu sagen, dass wir uns gar nicht polarisieren, sondern lädt zu einer etwas weniger extremen Sicht ein.

(Beide Zitate sind aus der taz: https://taz.de/Polarisierung-der-Gesellschaft/!6029362/)




RoloTomasi
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Sa 31. Aug 2024, 18:35

Zur Mitte: Stefanie, Sie haben es doch messerscharf benannt: "Mama, Papa, durchschnittliche Anzahl Kinder, Mann geht arbeiten, Frau bleibt erstmal zu Hause um später Teilzeit zu arbeiten, Renterinnen und Renter mit durchschnittlicher Rente, Angestellte, Alleinerziehende, Bürgergeldempfänger, Single Haushalte mit hohen Einkommen, mit niedrigen Einkommen, kinderlose Paare, Schwule, Lesben etc., Obdachlose, Migrationshintergrund, Millionäre, Unternehmer.....usw". Genau das ist die Mitte! Alle diese vielen Lebensformen sind heute Normalität.

Natürlich setzen die einzelnen Parteien ihre typischen Schwerpunkte, aber der Buntheit der Mitte entspricht die der Parteien. Beispiel: Millionäre: FDP, Obdachlose: Die Linke, Mann arbeitet, Frau zuhause: AFD, mittelständische Unternehmen: CDU usw. usw. Die Mitte ist eben differenziert, sozusagen zentrumslos über die Gesellschaft verteilt - und keine Partei, wie der Name schon sagt, repräsentiert alle oder das Ganze. Aber das Entscheidende ist: alle sind heute irgendwie drin, jeder hat Fürsprecher, jeder macht mit seiner Lebensform auf sich aufmerksam, keiner wird sozusagen diskriminiert. Das meinte ich mit dem postmodernen Selbständigwerden der Mitte. Früher war das noch anders, da gab es zwei große Volksparteien und in der Bevölkerung substanzielle Normalbiographien. Das ist aber doch längst vorbei, und die Normalität ist heute vielfältig. Und auch die Werte und Interessen der Menschen sind heute vielfältig - manche Lebens- und Wertkreise schneiden sich, andere berühren sich nie.



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Jörn Budesheim
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Sa 31. Aug 2024, 19:32

RoloTomasi hat geschrieben :
Sa 31. Aug 2024, 18:35
Aber das Entscheidende ist: alle sind heute irgendwie drin, jeder hat Fürsprecher, jeder macht mit seiner Lebensform auf sich aufmerksam, keiner wird sozusagen diskriminiert.
Ich glaube, ich verstehe ungefähr, was gemeint ist, es gibt keine wohldefinierte Mitte in einem traditionellen Sinne mehr, keine substanzielle Normalbiographie, also keine Normalen, anything goes, jeder hat Recht (das ist die gefühlt "postmoderne" Dimension). Und dadurch ist gewissermaßen alles, die gesamte Pluralität Mitte geworden.

Aber das lässt etwas offen, nämlich die Frage, ob man diesen Zustand schätzt oder ablehnt.

In dem Koordinatensystem, wie es Harry Lehmann vorgestellt hat und wie ich es verstanden habe, läge man auf der vertikalen Achse sehr deutlich über der Mitte, wenn man diese Vielfalt bejaht: Jeder kann nach seiner Facon leben, vielfältige Identitäten, Leben und Lebensentwürfe werden geschätzt.

Und sehr deutlich unterhalb der Mitte läge dagegen die Vorstellung, die eine solche Pluralität von Leben, Lebensentwürfen und Identitäten ablehnt und die Liberalisierungsgewinne der letzten Jahrzehnte wieder rückgängig machen und substanzielle Normalbiographien zurück will.

Und eigentlich stimmt es nicht, wie es in dem Zitat heißt, dass keiner "sozusagen diskriminiert" wird, auch wenn jeder irgendwie seine Fürsprecher finden kann.

Wenn ich das folgende Zitat lese, habe ich zum Beispiel nicht unbedingt das Gefühl, dass niemand diskriminiert wird, wenn unverhohlen von "Normalen" und Toleranz gesprochen wird.
Wolfgang Endemann hat geschrieben :
Sa 31. Aug 2024, 13:42
So wird die Toleranz gegenüber queeren Personen von vielen als ins-Dunkel-Stellen der Normalen empfunden.




RoloTomasi
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Sa 31. Aug 2024, 20:00

Es ist doch recht einfach: für manche geht Queersein gar nicht, für andere geht Gendern oder klassische Familie gar nicht, also lehnt der eine das eine, der andere das andere ab. Ablehnung heißt dann, man lebt entsprechend den eigenen tiefen Überzeugungen, und die anderen lässt man ihr Ding machen. Oft verbindet solche Kreise dann wenig, aber es bedeutet nicht, dass man den anderen deswegen hassen oder eliminieren muss. Man kennt ihn ja kaum und er ist einem oft praktisch egal.

Ich glaube, der Liberalismus ist heute gleich verteilt, ebenso wie die leider nur schwer zu überwindende Intoleranz gegenüber Andersdenkenden. Das gilt aber nach meiner Wahrnehmung in alle Richtungen, weshalb sich das Diskriminieren ja insgesamt wegkürzt.

Ich wollte übrigens auch nicht sagen, dass im Poitischen jeder recht hat, sondern eher keiner. Rechthaben im Sinne von möglicher Objektivität ist m.E. keine Kategorie des politischen Lebens.

Ich finde die Diskussion übrigens sehr interessant, und sie hilft mir, meine eigenen Gedanken zu klären. Dafür danke an alle.



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Jörn Budesheim
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Sa 31. Aug 2024, 20:11

RoloTomasi hat geschrieben :
Sa 31. Aug 2024, 20:00
Es ist doch recht einfach: für manche geht Queersein gar nicht, für andere geht Gendern oder klassische Familie gar nicht, also lehnt der eine das eine, der andere das andere ab. Ablehnung heißt dann, man lebt entsprechend den eigenen tiefen Überzeugungen, und die anderen lässt man ihr Ding machen. Oft verbindet solche Kreise dann wenig, aber es bedeutet nicht, dass man den anderen deswegen hassen oder eliminieren muss. Man kennt ihn ja kaum und er ist einem oft praktisch egal.
Die Realität scheint aber anders zu sein.
swr. de hat geschrieben : Die vielen Christopher-Street-Day-Paraden, die stattfinden, die führen zu queerer Sichtbarkeit und seither hat die Aggression zugenommen.

(Diana Gläßer von der Ansprechstelle für LSBTI der Polizei in Rheinland-Pfalz)

Quelle: Warum gibt es immer öfter Gewalt gegen Homosexuelle?




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Jörn Budesheim
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Sa 31. Aug 2024, 20:44

RoloTomasi hat geschrieben :
Sa 31. Aug 2024, 20:00
Ich glaube, der Liberalismus ist heute gleich verteilt, ebenso wie die leider nur schwer zu überwindende Intoleranz gegenüber Andersdenkenden. Das gilt aber nach meiner Wahrnehmung in alle Richtungen, weshalb sich das Diskriminieren ja insgesamt wegkürzt.
Dieser Passage verstehe ich nicht wirklich, insbesondere den Ausdruck "weggekürzt", ebenso wenig die Formulierung, dass der Liberalismus "gleich verteilt" sei.




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Sa 31. Aug 2024, 20:48

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 31. Aug 2024, 15:25
RoloTomasi hat geschrieben :
Sa 31. Aug 2024, 14:21
In der Theorie ist der Postmodernismus inzwischen ja eher out, aber in der globalisierten Realität fängt er jetzt erst so richtig an. Und es gibt kein Zurück, nur ein angenehm träges Weiter so in Richtung offene Zukunft.
In manchen Hinsichten mag das vielleicht stimmen, hier ein Beispiel von Susan Neiman.
Susan Neiman hat geschrieben : ...der erfolgreiche rechtsradikale Website-Betreiber Mike Czernowitz, erklärte der Zeitschrift The New Yorker: »Sehen Sie, ich habe die postmoderne Theorie an der Uni gelesen. Wenn alles ein Narrativ ist, brauchen wir Alternativen zu den herrschenden Narrativen.« Er lächelt. »Ich sehe nicht aus wie ein Typ, der französische Theoretiker wie Lacan liest, oder?«
Die politische Verortung bekannter Denker, die gemeinhin dem Postmodernismus zugerechnet werden:
"…in terms of classical big-picture ideologies:
• anarchist (e.g. Deleuze, Derrida, Foucault);
• conservative (e.g. Fukuyama, Heidegger);
• fascist or quasi-fascist (e.g. Heidegger);
• liberal (e.g. Fukuyama, Hassan, Rorty);
• Marxist or post-Marxist (e.g. Anderson, Baudrillard, Derrida, Foucault, Harvey, Heller, Jameson, Kellner, Laclau, Massey, Mouffe, Vattimo, Žižek);
• social-democratic/Weberian (e.g. Bauman, Lash, Tester);…"

(Susen, Simon. The ‘Postmodern Turn’ in the Social Sciences. Basingstoke: Palgrave Macmillan, 2015. p. 29)



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Sa 31. Aug 2024, 20:57

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 31. Aug 2024, 11:32
Der Artikel unterscheidet zwischen "Extremismus", der darauf abzielt, demokratische Strukturen zu stürzen, und "Radikalismus", der tiefgreifende Veränderungen innerhalb des Systems anstrebt, aber die Demokratie nicht unbedingt ablehnt. Das ist eine wichtige Unterscheidung, wie mir scheint, also müsste man sich fragen welche linken Gruppierungen die gemeinhin als extrem gelten, vielleicht in Wahrheit bloß radikal sind. Zumindest scheint es so, dass das Hufeisenmodell diesen wichtigen Unterschied gar nicht darstellt.
Ja…
"Die Verfassungsschutzbehörden unterscheiden zwischen „Extremismus“ und „Radikalismus“, obwohl beide Begriffe oft synonym gebraucht werden. Bei „Radikalismus“ handelt es sich zwar auch um eine überspitzte, zum Extremen neigende Denk- und Handlungsweise, die gesellschaftliche Probleme und Konflikte bereits „von der Wurzel (lat. radix) her“ anpacken will. Im Unterschied zum „Extremismus“ sollen jedoch weder der demokratische Verfassungsstaat noch die damit verbundenen Grundprinzipien unserer Verfassungsordnung beseitigt werden. So sind z. B. Kapitalismuskritiker, die grundsätzliche Zweifel an der Struktur unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung äußern und sie von Grund auf verändern wollen, noch keine Extremisten. Radikale politische Auffassungen haben in unserer pluralistischen Gesellschaftsordnung ihren legitimen Platz. Auch wer seine radikalen Zielvorstellungen realisieren will, muss nicht befürchten, dass er vom Verfassungsschutz beobachtet wird, solange er die Grundprinzipien unserer Verfassungsordnung anerkennt. Als extremistisch werden dagegen die Aktivitäten bezeichnet, die darauf abzielen, die Grundwerte der freiheitlichen Demokratie zu beseitigen."

Quelle: https://www.verfassungsschutz.bayern.de ... index.html

"…Nichtdestotrotz werden die beiden Begriffe Radikalismus und Extremismus im öffentlichen Diskurs heute weiterhin vermischt. Das BfV hingegen hat die klare Abgrenzung beibehalten. So heißt es, dass "es sich bei Radikalismus zwar auch um eine überspitzte, zum Extremen neigende Denk- und Handlungsweise [handelt], die gesellschaftliche Probleme und Konflikte bereits 'von der Wurzel (lat. radix) her' anpacken will" und dass, "[r]adikale politische Auffassungen in unserer pluralistischen Gesellschaftsordnung ihren legitimen Platz [haben]" (Bundesamt für Verfassungsschutz o.J.). Im Gegensatz dazu werden jene Aktivitäten als "extremistisch" eingestuft, "die darauf abzielen, die Grundwerte der freiheitlichen Demokratie zu beseitigen" (Bundesamt für Verfassungsschutz o.J.). Während Radikalismus also noch keine Bedrohung für die freiheitlich demokratische Grundordnung darstellt, verfolgen extremistische Personen das Ziel, den demokratischen Verfassungsstaat und die damit verbundenen Grundprinzipien der Verfassungsordnung zu bekämpfen. Während der Radikalismus somit eine "Systemveränderung" zum Ziel setzt, strebt der Extremismus nach einer "Systemüberwindung" (Dienstbühl 2019: 80)."

Quelle: https://www.bpb.de/lernen/bewegtbild-un ... lisierung/



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RoloTomasi
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Sa 31. Aug 2024, 21:19

Ihr Beispiel, Herr Budenheim, zeigt genau was ich oben meinte: die leider nur schwer zu überwindende Intoleranz gegenüber Andersdenkenden. Mein Punkt ist, dass das in alle Richtungen passiert...und das es insgesamt ein Randphänomen ist. Ich glaube sogar, die meisten Leute im Alltag wissen gar nicht so recht, was Queersein ist. Da haben wir Intellektuellen, glaube ich, eine echt schiefe Optik.

Interessant sind übrigens auch so postmoderne Hybridfiguren wie Alice Weidel, die ja lesbisch ist. Auch das zeigt, wie bunt heutige Entwürfe sind.



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Consul
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Sa 31. Aug 2024, 22:17

Eine Definition:
"Extremismus bezieht sich auf den Glauben, dass der Erfolg oder das Überleben einer Eigengruppe niemals von der Notwendigkeit feindseliger Handlungen gegen eine Fremdgruppe getrennt werden kann. Die feindlichen Handlungen müssen Teil der Erfolgsdefinition der Eigengruppe sein. Feindliche Handlungen können von verbalen Angriffen und Herabsetzungen zu diskriminierendem Verhalten, Gewalt und sogar Völkermord reichen."
[© meine Übers.]
———
"Extremism refers to the belief that an in-group’s success or survival can never be separated from the need for hostile action against an out-group. The hostile action must be part of the in-group’s definition of success. Hostile acts can range from verbal attacks and diminishment to discriminatory behavior, violence, and even genocide."

(Berger, J. M. Extremism. Cambridge, MA: MIT Press, 2018. p. 44)
"Die häufigsten Lösungen, die von extremistischen Bewegungen vorgeschlagen werden:

* Belästigung/Schikanierung: Man gibt Fremdgruppen vorsätzlich zu verstehen, dass sie in der Gegenwart der Eigengruppe unwillkommen sind.
* Diskriminierung: Man verweigert Fremdgruppenmitgliedern Wohltaten (Leistungen/Unterstützungen/Begünstigungen), die man Eigengruppenmitgliedern zuteilwerden lässt.
* Segregation: Räumliche Absonderung der Eigengruppe von Fremdgruppen
* Hassverbrechen: Nichtsystematische Gewalt gegen Fremdgruppenmitglieder
* Terrorismus: Öffentliche Gewalt gegen Zivilisten, um eine extremistische Ideologie voranzubringen
* Unterdrückung: Aggressive und systematische Diskriminierung bis hin zu systematischer Gewalt
* Krieg: Offene tödliche Kämpfe zwischen einer Eigengruppe und einer Fremdgruppe
* Völkermord: Systematische Ermordung von Fremdgruppenmitgliedern in großem Umfang"
[© meine Übers.]
———
"The most common solutions proposed by extremist movements are:

Harassment: Intentionally making out-groups unwelcome in the presence of the in-group
Discrimination: Denying out-group members benefits provided to in-group members
Segregation: Physical separation of the in-group from out-groups
Hate crimes: Nonsystematic violence against out-group members
Terrorism: Public violence targeting noncombatants to advance an extremist ideology
Oppression: Aggressive and systematic discrimination, up to and including systematic violence
War: Open lethal fighting between an in-group and an out-group
Genocide: Systematic slaughter of out-group members on a large scale."

(Berger, J. M. Extremism. Cambridge, MA: MIT Press, 2018. pp. 99-100)



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Timberlake
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Sa 31. Aug 2024, 22:43

Wolfgang Endemann hat geschrieben :
Fr 30. Aug 2024, 10:28

Richtig ist, daß es ein bipolares, genauer differenziert auch ein multipolares Spektrum gibt, hier ist vor allem die Polarität von einem individuellen und einem sozialen Menschenbild prägend, die sich in der Zuordnung von rechts bis links niederschlägt. Auf einer dazu orthogonalen Dimension wäre zu beurteilen, wie tolerant oder strikt man die eigenen Positionen vertritt, ob man sie konsensuell oder gewaltsam durchsetzen will. Hier wird das Ideologische der Hufeisentheorie offenbar, denn es unterschlägt die Möglichkeit eines Extremismus, einer Intoleranz der Mitte.
Dazu nur mal zum Vergleich ..
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 31. Aug 2024, 12:04
Ich habe zum Vergnügen mal Chat GPT gebeten, die Diskussion zusammenzufassen, findet ihr euch in dem Text wieder?
...

2. **Wolfgang Endemann:**
- Endemann kritisiert die Hufeisentheorie scharf und bezeichnet sie als falsch und ideologisch. Er sieht sie als eine Lebenslüge der bürgerlichen Mittelschicht, die zur Verdrängung ihrer eigenen Unsicherheiten dient. Er argumentiert, dass es stattdessen ein bipolares oder multipolares politisches Spektrum gibt, bei dem die Hufeisentheorie das Problem einer „intoleranten Mitte“ verschleiert.

...
Als alter Linkshegelianer ist das von dir erkannte und von Chat GPT nochmals bestätigte Problem einer „intoleranten Mitte“ vermutlich nur allzu konsequent ..
  • "Die in der Wechselwirkung als unterschieden festgehaltenen Bestimmungen sind α) an sich dasselbe; die eine Seite ist Ursache, ursprünglich, aktiv, passiv usf. wie die andere. Ebenso ist das Voraussetzen einer anderen und das Wirken auf sie, die unmittelbare Ursprünglichkeit und das Gesetztsein durch den Wechsel, ein und dasselbe."
    Hegel ... Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse
Wenn .. so Hegel .. die in der Wechselwirkung als unterschieden festgehaltenen Bestimmungen sind α) an sich dasselbe sind .. so kommt man wohl tatsächlich nicht umhin , wenn man denn die eine Seite als intolerant bzw. gemäß der Hufeisentherie als extremistisch und radikal bezeichnet, dasselbe als ein Problem für die andere Seite ... der Mitte! .. an zu nehmen.

( In dem es davon ausgeht , dass, wann immer eine Kraft wirkt, auch eine gleichgroße Kraft in entgegengesetzte Richtung wirkt , würde dazu übrigens das dritte Newtonsche Gesetz passen)
  • "Aber auch für sich ist diese Einheit, indem dieser ganze Wechsel das eigene Setzen der Ursache und nur dies ihr Setzen ihr Sein ist. Die Nichtigkeit der Unterschiede ist nicht nur an sich oder unsere Reflexion (vorhg. §), sondern die Wechselwirkung ist selbst dies, jede der gesetzten Bestimmungen auch wieder aufzuheben und in die entgegengesetzte zu verkehren, also jene Nichtigkeit der Momente zu setzen, die an sich ist. In die Ursprünglichkeit wird eine Wirkung gesetzt, d.h. die Ursprünglichkeit wird aufgehoben; die Aktion einer Ursache wird zur Reaktion usf."
    Hegel ... Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse
Hegel spricht deshalb von einer Einheit. Einer Einheit , die sich , weil in dessen Bild keinerlei Wechselwirkung ersichtlich , in der Hufeisentheorie allerdings nicht abbildet. Geschweigedenn eine solche , wie von Hegel hier beschriebene , "Nichtigkeit der Unterschiede" .

Nichtigkeit in dem Sinne , dass die Unterschiede die Wechselwirkungen selbst sind. Man könnte das auch auf die Formel bringen , keine Wechselwirkungen , keine Unterschiede.

Beispiel

Keine Wechselwirkung zwischen LInks- und Rechtsextremismus , kein Unterschied LInks- und Rechtsextremismus. Nur durch dessen Wechselwirkung hat diese Einheit bestand. Das Gleiche würde dann übrigens mit dem LInks- und Rechtsextremismus auf der eine Seite und der dazu „intoleranten Mitte“ auf der anderen Seite zu treffen.




Timberlake
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Sa 31. Aug 2024, 23:51

RoloTomasi hat geschrieben :
Sa 31. Aug 2024, 21:19
Ihr Beispiel, Herr Budenheim, zeigt genau was ich oben meinte: die leider nur schwer zu überwindende Intoleranz gegenüber Andersdenkenden. Mein Punkt ist, dass das in alle Richtungen passiert.....
.. ihr Punkt, dass das in alle Richtungen passiert, wäre übrigens vermutlich auch der Punkt Hegels bzw. eines "alten Linkshegelianer"

Wenn es im vorigen Beitrag hieß .. ich zitiere ..
  • "Keine Wechselwirkung zwischen LInks- und Rechtsextremismus , kein Unterschied LInks- und Rechtsextremismus. Nur durch dessen Wechselwirkung hat diese Einheit bestand. Das Gleiche würde dann übrigens mit dem LInks- und Rechtsextremismus auf der eine Seite und der dazu „intoleranten Mitte“ auf der anderen Seite zu treffe"
.. dann bräuchte die Mitte eigentlich nur .. in Richtung! .. des Links- und Rechtsextremismus nicht mehr wechselwirken. Was allerdings dann auch die Wechselwirkung des Links- und Rechtsextremismus .. in Richtung ! .. der Mitte mit einschließt. Vor dem Hintergrund einer , wie auch immer , gearteten Regierungsbildung eines Staates sicherlich nur rein theoretischer Natur. Würde doch von daher .. in der Praxis .. die Einschränkung der Wechselwirkung der einen Seite , unmittelbar zu einer Ausweitung der Wechselwirkung der anderen Seite führen. So das am Ende mit einer gemäßigten und zur Kompromissen bereiten Mitte , gegenüber einer extremen radikalen , nicht kompromissbereiten rechten und linken , gemäß der Hufeisentheorie , nichts gewonnen wäre. Der Ball dafür , dass Hegels Lehre vom Wesen der Wechselwirkung auch in der Praxis funktioniert, liegt als solches im Spielfeld der extremen radikalen , nicht kompromissbereiten rechten und linken. Die sind die Spielmacher , von dieser Richtung geht das Spiel aus. Das wäre dann übrigens in Ergänzung dessen .. " dass das in allen Richtungen passiert" ... mein Punkt.




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Jörn Budesheim
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So 1. Sep 2024, 11:39

RoloTomasi hat geschrieben :
Sa 31. Aug 2024, 21:19
Mein Punkt ist, dass das in alle Richtungen passiert...und das es insgesamt ein Randphänomen ist.
Die Ipsos Pride Studie 2024 zeigt, dass eine große Mehrheit der Deutschen sich für die Rechte und den Schutz von queeren Menschen ausspricht. 73 Prozent befürworten den Schutz lesbischer, schwuler oder bisexueller Personen vor Diskriminierung, während 70 Prozent sich für den Schutz von trans Personen aussprechen. 71 Prozent unterstützen die rechtliche Ehe für gleichgeschlechtliche Paare, und 73 Prozent sind der Meinung, dass homosexuelle Paare bei der Adoption die gleichen Rechte wie heterosexuelle Paare haben sollten.

Im Vergleich zu 2021 ist die Unterstützung für gleichgeschlechtliche Ehe und Adoption leicht gestiegen...

Quelle: https://www.lsvd.de/de/ct/3168-Was-denk ... e-Menschen

Die Studie zeigt aber offenbar auch, dass 27 Prozent der Deutschen nicht klar der Meinung sind, dass lesbische, schwule oder bisexuelle Personen vor Diskriminierung geschützt werden sollten. Das ist ein gutes Viertel!




RoloTomasi
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So 1. Sep 2024, 15:45

Ich finde die Definitionshinweise von Consul für das Thema sehr hilfreich. Zum Beispiel: "Während der Radikalismus somit eine "Systemveränderung" zum Ziel setzt, strebt der Extremismus nach einer "Systemüberwindung"".

Nach dieser Definition müsste man dann schauen, was Systemüberwindung heißt, um dem Extremismusthema auf der Spur zu bleiben. Ich denke, dass Abschaffung der Demokratie sicherlich unter Systemüberwindung fallen dürfte, oder? Und da fallen mir spontan die Reichsbürger ein, die so etwas ja wohl vorhatten. Die wären nach dieser Definition ein Fall von rechtsextrem, ihnen schwebte ja wohl eine Monarchie vor. Man könnte also mal heutige Bewegungen, Parteien, NGOs und weitere politische Akteure durchgehen und auf dieses Extremismus-Kriterium hin untersuchen. [Ob man dabei die Unterscheidung links und rechts mitberücksichtigen kann, weiß ich nicht. Wäre jemand, der z.B. eine Öko-Diktatur anstrebt, linksextrem (wegen Öko), oder rechtsextrem (wegen Diktatur)?]

Aber Consul hatte ja auch noch andere Kriterien für Extremismus zusammengetragen, die ebenfalls für das Thema von Bedeutung sind. Es ist wie immer: Kaum geht es los, wird es leider auch schon kompliziert ;-)



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So 1. Sep 2024, 17:10

RoloTomasi hat geschrieben :
So 1. Sep 2024, 15:45
Ich finde die Definitionshinweise von Consul für das Thema sehr hilfreich. Zum Beispiel: "Während der Radikalismus somit eine "Systemveränderung" zum Ziel setzt, strebt der Extremismus nach einer "Systemüberwindung"".

Nach dieser Definition müsste man dann schauen, was Systemüberwindung heißt, um dem Extremismusthema auf der Spur zu bleiben. Ich denke, dass Abschaffung der Demokratie sicherlich unter Systemüberwindung fallen dürfte, oder?
.. würde denn diese Systemüberwindung auch das System Marktwirtschaft bzw. Kapitalismus mit beinhalten.
wirtschaftslexikon.co hat geschrieben :
Basis und Überbau

Der Marxismus geht von der Existenz einer ökonomischen Basis und einem entsprechenden politischen Überbau einer Gesellschaft aus. Basis und Überbau sind die theoretische Widerspiegelung der objektiven gesellschaftlichen Situation. Die Basis ist die ökonomische Struktur der Gesellschaft. die vom System der jeweiligen Produktionsverhältnisse einer ökonomischen Gesellschaftsformation gebildet wird, das System der jeweiligen Produktions- und Klassenverhältnisse, das einem bestimmten Stand der Produktivkräfte entspricht. Die ökonomische Basis und das betreffende System der Produktivkräfte bilden zusammen die Produktionsweise der jeweiligen Formation. Über der Basis jeder Gesellschaft erhebt sich der Überbau. Der Überbau ist auch das System der ideologischen Verhältnisse. das durch die Basis entscheidend bestimmt wird, diese widerspiegelt und auf sie zurückwirkt. Der Überbau umfaßt die politischen. rechtlichen, künstlerischen und philosophischen Auffassungen und die entsprechenden Institutionen, insbesondere die Staats- und Rechtseinrichtungen. Der kapitalistische Staat. die Justiz usw. wenden sich mit ihren Machtmitteln gegen jede Entwicklung. die ihre kapitalistische Basis gefährdet.
.. oder ander gefragt würde diese Systemüberwindung auch diese Basis betreffen?

Wenn man denn davon ausgeht , was ja wohl so abwegig nicht ist , dass auch die Rechtsextremen gemäß der Hufeisentherie sich gleichfalls mit ihren Machtmitteln gegen jede Entwicklung wenden, die ( ihre) kapitalistische Basis gefährden, so kann die extreme Rechte im Vergleich zur gemäßigten und zu Kompromissen bereiten "kapitalistischen" Mitte wohl so extrem nicht sein.

Dazu nur mal zum Vergleich ..
handelsblatt.com hat geschrieben :
.Nähe zu den Stahlbaronen

Tatsächlich hat Hitler in „Mein Kampf „ und im zweiten Buch viel stärker den Bolschewismus seziert als den Kapitalismus . In Naziprogrammen war die Verstaatlichung von Banken und Schlüsselindustrien zwar ein durchlaufender Posten , die reale Politik aber war alles andere als Kapitalistisch.
So konnte Hitler im Januar 1932 bei seiner Rede im voll besetzten Industrieclub Düsseldorf viele Bedenken bei den anwesenden Wirtschaftsgrößen ausräumen. Nach der Machtübernahme 1933 suchte er noch größere Nähe zu den Stahlbaronen Fritz Thyssen und Gustav Krupp von Bohlen und Halbach. Er brauchte sie zur Kriegsvorbereitung.
.. und wenn man Demokratie im wortwörtlichen Sinn als Herrschaft des Volkes bezeichnet , so stände nach dem erfogreichen Westfeldzug Hitlerdeutschlands vermutlich selbst ein Systemwechsel von der Demokratie hin zur Diktatur in Frage.
Zuletzt geändert von Timberlake am So 1. Sep 2024, 17:46, insgesamt 1-mal geändert.




RoloTomasi
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So 1. Sep 2024, 17:42

Sehr gute Frage, finde ich. Ich würde denken, dass z.B. die linke Idee der Umverteilung eher nicht extremistisch ist, sondern radikal (nach der Definition, die Consul zitiert hat). Aber die völlige Abschaffung der Marktwirtschaft? Tja, schwer zu sagen. Es ist schon eine Systemüberwindung, aber eben eine des Wirtschaftssystems. Aber das ist ja auch eher theoretisch, denn das will ja hierzulande kein Akteur, so weit ich sehe.



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Timberlake
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So 1. Sep 2024, 18:08

RoloTomasi hat geschrieben :
So 1. Sep 2024, 17:42
Sehr gute Frage, finde ich. Ich würde denken, dass z.B. die linke Idee der Umverteilung eher nicht extremistisch ist, sondern radikal (nach der Definition, die Consul zitiert hat). Aber die völlige Abschaffung der Marktwirtschaft? Tja, schwer zu sagen. Es ist schon eine Systemüberwindung, aber eben eine des Wirtschaftssystems. Aber das ist ja auch eher theoretisch, denn das will ja hierzulande kein Akteur, so weit ich sehe.
.. und weil das niemand will , so sind zumindest von dieser Seite aus keinerlei extremistische Entwicklungen zu befürchten. Nur leider findet sich davon in der Hufeisentheorie nichts. Ist doch diese Theorie , die ökonomische Basis der Gesellschaft völlig vernachlässigend , ausschließlich mit dem politischen Überbau befasst. In dem Sinne , dass eine Umverteilung bezüglich dieser ökonomische Basis lediglich quantitaver und nicht qualitativer Natur ist , so würde ich übrigens auch meinen , dass dergleichen eher nicht extremistisch ist, sondern radikal ist.


  • " Im Maße ist das Qualitative quantitativ; die Bestimmtheit oder der Unterschied ist als gleichgültig, damit[390] ist es ein Unterschied, der keiner ist, er ist aufgehoben; diese Quantitativität macht als Rückkehr in sich, worin sie als das Qualitative ist, das Anundfürsichsein aus, welches das Wesen ist."
    Hegel .. Wissenschaft der Logik
Radikal lediglich im Maße , nicht im Wesen , was die Qualität einer ökonomischen Basis ausmacht .




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Consul
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RoloTomasi hat geschrieben :
So 1. Sep 2024, 15:45
Ich finde die Definitionshinweise von Consul für das Thema sehr hilfreich. Zum Beispiel: "Während der Radikalismus somit eine "Systemveränderung" zum Ziel setzt, strebt der Extremismus nach einer "Systemüberwindung"". Nach dieser Definition müsste man dann schauen, was Systemüberwindung heißt, um dem Extremismusthema auf der Spur zu bleiben. Ich denke, dass Abschaffung der Demokratie sicherlich unter Systemüberwindung fallen dürfte, oder?
Man muss unterscheiden zwischen der Abschaffung der Demokratie überhaupt und der Abschaffung der liberalen Demokratie.

"Demokratie definiert man am besten als die Verbindung von Volkssouveränität und Mehrheitsprinzip; nicht mehr, nicht weniger. Demokratie kann daher direkt oder indirekt, liberal oder illiberal sein." (Mudde/Kaltwasser—siehe unteres Zitat!)

Der Politologe Takis Pappas definiert Populismus gar als demokratischen Illiberalismus. (Populism and Liberal Democracy, Oxford UP, 2019. S. 33)
"Die meisten nationalpopulistischen Wähler wollen mehr Demokratie – mehr Referenden und mitfühlendere sowie besser zuhörende Politiker, die dem Volk mehr Macht übertragen und den etablierten wirtschaftlichen und politischen Eliten weniger Macht. Diese 'direkte' Auffassung von Demokratie unterscheidet sich von der 'liberalen', die im Westen nach der Niederlage des Faschismus eine Blütezeit erlebte, und die in ihrem Charakter zunehmend elitärer geworden ist. "
[© meine Übers.]
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"[M]ost national-populist voters want more democracy – more referendums and more empathetic and listening politicians that give more power to the people and less power to established economic and political elites. This ‘direct’ conception of democracy differs from the ‘liberal’ one that has flourished across the West following the defeat of fascism and which…has gradually become more elitist in character."

(Eatwell, Roger, & Matthew Godwin. National Populism: The Revolt Against Liberal Democracy. London: Pelican, 2018. pp. xi-xii)
Jan-Werner Müller ist der Meinung, dass eine populistische Direktdemokratie im Grunde eine Pseudodemokratie ist.
"Populismus…kann häufig als demokratisch, gar radikaldemokratisch erscheinen. Er kann bisweilen auch positive Effekte für die Demokratie zeitigen. Entscheidend ist jedoch, dass Populismus an sich nicht demokratisch, ja der Tendenz nach zweifelsohne antidemokratisch ist."

(Müller, Jan-Werner. Was ist Populismus? Berlin: Suhrkamp, 2016. S. 14)

"Ein möglicher Einwand könnte an dieser Stelle lauten, dass gerade Populisten immer wieder nach Volksabstimmungen rufen. Doch wenn Populisten ein Referendum fordern, dann nicht, weil sie einen offenen Diskussionsprozess unter den Wählern auslösen wollen, sondern weil die Bürger bitte schön bestätigen sollen, was die Populisten immer bereits als den wahren Volkswillen erkannt haben (welcher halt von den illegitimen, im Zweifelsfall am Eigennutz orientierten Eliten perfiderweise nicht umgesetzt wird)."

(Müller, Jan-Werner. Was ist Populismus? Berlin: Suhrkamp, 2016. S. 45)
"Populism and (liberal) democracy

Just like populism, democracy is a highly contested concept in the academic realm and public space. The debates not only concern the correct definition of democracy, but also the various types of democracy. Although this is not the place to delve too deeply into this debate, we need to clarify our own understanding of democracy, before we can discuss its complex relationship with populism.

Democracy (sans adjectives) is best defined as the combination of popular sovereignty and majority rule; nothing more, nothing less. Hence, democracy can be direct or indirect, liberal or illiberal. In fact, the very etymology of the term democracy alludes to the idea of self-government of the people, i.e., a political system in which people rule. Not by chance, most “minimal” definitions consider democracy first and foremost as a method by which rulers are selected in competitive elections. Free and fair elections thus correspond to the defining property of democracy. Instead of changing rulers by violent conflict, the people agree that those who govern them should be elected by majority rule.

However, in most day-to-day usages the term democracy actually refers to liberal democracy rather than to democracy per se. The main difference between democracy (without adjectives) and liberal democracy is that the latter refers to a political regime, which not only respects popular sovereignty and majority rule, but also establishes independent institutions specialized in the protection of fundamental rights, such as freedom of expression and the protection of minorities. When it comes to protecting fundamental rights, there is no one-size-fits-all approach, and, in consequence, liberal democratic regimes have adopted very different institutional designs. For instance, some of them have a strong written constitution and Supreme Court (e.g., United States), while others have neither (e.g., United Kingdom). Despite these differences, all liberal democracies are characterized by institutions that aim to protect fundamental rights with the intention of avoiding the emergence of a “tyranny of the majority.”

This interpretation is very close to the one proposed by the late U.S. political scientist Robert Dahl, who maintained that liberal democratic regimes are structured around two separate and independent dimensions: public contestation and political participation. While the former refers to the possibility to freely formulate preferences and oppose the government, the latter alludes to the right to participate in the political system. Moreover, to ensure the optimization of both dimensions, he believed a demanding set of so-called institutional guarantees is required, including freedom of expression, right to vote, eligibility for public office, alternative sources of information, among others.

Now that we have clear definitions of democracy and liberal democracy, it is time to reflect on how they are affected by populism. In short, populism is essentially democratic, but at odds with liberal democracy, the dominant model in the contemporary world. Populism holds that nothing should constrain “the will of the (pure) people” and fundamentally rejects the notions of pluralism and, therefore, minority rights as well as the “institutional guarantees” that should protect them.

In practice, populists often invoke the principle of popular sovereignty to criticize those independent institutions seeking to protect fundamental rights that are inherent to the liberal democratic model. Among the most targeted institutions are the judiciary and the media."

(Mudde, Cas, & Cristobal Rovira Kaltwasser. Populism: A Very Short Introduction. Oxford: Oxford University Press, 2017.pp. 80-1)



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Consul
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So 1. Sep 2024, 20:22

Consul hat geschrieben :
So 1. Sep 2024, 20:11
"Die meisten nationalpopulistischen Wähler wollen mehr Demokratie – mehr Referenden und mitfühlendere sowie besser zuhörende Politiker, die dem Volk mehr Macht übertragen und den etablierten wirtschaftlichen und politischen Eliten weniger Macht. Diese 'direkte' Auffassung von Demokratie unterscheidet sich von der 'liberalen', die im Westen nach der Niederlage des Faschismus eine Blütezeit erlebte, und die in ihrem Charakter zunehmend elitärer geworden ist. " [© meine Übers.]

(Eatwell, Roger, & Matthew Godwin. National Populism: The Revolt Against Liberal Democracy. London: Pelican, 2018. pp. xi-xii)
Als Beispiel empfehle ich das aktuelle FPÖ-Wahlprogramm zur Nationalratswahl 2024 (S. 6-8):
"Direkte Demokratie ausbauen

Direkte Demokratie ist das beste Mittel, um das Vertrauen in die Politik zurückzugewinnen und auch Maßnahmen durchzusetzen, die von den selbsternannten Eliten blockiert werden. In einer demokratischen Gesellschaft müssen die Bürger gemeinsam zu wichtigen Themen Entscheidungen treffen. Dazu müssen endlich die Instrumente der direkten Demokratie ausgebaut werden. Österreich braucht Bürgerentscheidungen auf allen Ebenen – Bund, Land und Gemeinde. Mehr direkte Demokratie bedeutet auch eine intensivere Auseinandersetzung mit Sachthemen im Rahmen der politischen Diskussionskultur. Die Parteien und deren Repräsentanten werden dadurch angehalten, die Bürger von ihren inhaltlichen Positionen zu überzeugen.

VOLKSINITIATIVE EINFÜHREN
Immer dann, wenn ein Volksbegehren vom Nationalrat verworfen wird, soll das Volk selbst entscheiden, ob die Initiative nicht doch Gesetz werden soll – Gesetzgebung unabhängig vom Willen des Nationalrates soll möglich sein. Volksbegehren sollen zu einer verpflichtenden Volksabstimmung führen, wenn vier Prozent der Stimmberechtigten, also rund 250.000 Menschen, ein Anliegen mit ihrer Unterschrift unterstützt haben. Die Volksinitiative ist ein Instrument echter Volksgesetzgebung – das Recht geht vom Volk aus!

ABSETZUNGSMÖGLICHKEIT DER REGIERUNG DURCH DIE BÜRGER
Dem Volk sollte die Möglichkeit eingeräumt werden, eine unfähige Regierung oder unfähige Regierungsmitglieder abzuberufen. Es handelt sich somit um einen Misstrauensantrag des Volkes. Vom Ablauf her soll er analog zur Volksinitiative ausgestaltet werden.

VOLKSBEFRAGUNG ALS MINDERHEITENRECHT UND DIREKT-DEMOKRATISCHES RECHTSINSTITUT
Ein Drittel der Nationalratsabgeordneten oder 100.000 Wahlberechtigte sollen eine Volksbefragung zu einem bestimmten Thema verlangen können.

VORSCHLAGSRECHT FÜR EU-KOMMISSAR AN STÄRKSTE PARTEI DER EU-WAHL
Derzeit entscheidet die Bundesregierung – aktuell eine Regierung mit einem Zuspruch von weniger als einem Drittel der Wahlberechtigten –, wer EU-Kommissar wird. Ein Vorschlagsrecht für die stimmenstärkste Partei würde die EU-Wahl aufwerten, auch in Hinblick auf die üblicherweise niedrige Wahlbeteiligung, und das Prozedere demokratisieren.

GESETZE KÖNNEN MIT EINER ABLAUFZEIT VERSEHEN WERDEN
Die gewählten Volksvertreter haben das Selbstbestimmungsrecht des Souveräns zu achten, indem sie ihre Kompetenz als Gesetzgeber nicht dazu nutzen, künftige Generationen zu belasten. Sämtliche Gesetze sind daher nach ihrer Wirkung auf jene zu beurteilen, die noch kein Mitbestimmungsrecht haben. Um die regelmäßige Überprüfung von Gesetzen sicherzustellen, sollen vermehrt „Sunset-Klauseln“ zum Einsatz kommen.

AUFWERTUNG VON WAHLEN & MEHR DEMOKRATIEBILDUNG KEINE AUSHÖHLUNG DES WAHLRECHTS ALS STAATSBÜRGERRECHT
EU-Bürger dürfen an Gemeinderatswahlen und EU-Wahlen teilnehmen – das ist völlig ausreichend. Wer seit Jahren in Österreich wohnt und auch hier wählen möchte, der soll sich um die österreichische Staatsbürgerschaft bemühen. Wer das nicht schafft, ist offensichtlich nicht integrationswillig und braucht deshalb bei uns auch nicht zu wählen. Denn die österreichische Staatsbürgerschaft ist nicht nur der amtliche Nachweis der Zugehörigkeit zum Staat, sondern auch ein Ausdruck der gemeinschaftlichen Identität. Für die Erlangung der Staatsbürgerschaft sollte daher künftig ein langer ununterbrochener Aufenthalt in Österreich vorliegen.

NEIN ZU BRIEFWAHL UND E-VOTING
Im Zuge der Briefwahl kommt es immer wieder zu Ungereimtheiten und Vorwürfen, dass etwa in „Migranten-Communities“ oder in Pensionistenheimen Stimmen zentral gesammelt und abgegeben werden. Damit sind dem Wahlbetrug Tür und Tor geöffnet. Die massive Abweichung der Briefwahlergebnisse von den Resultaten der Urnenwahl ist statistisch nicht erklärbar. Die Briefwahl soll daher abgeschafft und auch „e-Voting“ keinesfalls zugelassen werden, da es neben den bereits erwähnten Risiken auch noch ein Anziehungspunkt für kriminelle Hacker wäre. Wem die Demokratie ein Anliegen ist, dem kann zugemutet werden, persönlich im Wahllokal zu erscheinen.

DEMOKRATIE-OFFENSIVE IN DEN SCHULEN
Der Jugend soll die Bedeutung der Demokratie in den Schulen bewusst gemacht und gleichzeitig verdeutlicht werden, dass es dafür des persönlichen Einsatzes vieler Bürger bedarf. Insbesondere soll so ohne jede ideologische Bevormundung für die politische Betätigung geworben werden. Junge Menschen sollen ermuntert werden, sich auf allen politischen Ebenen um Mandate zu bewerben.

FAIRER ZUGANG ZU ÖFFENTLICHEN JOBS STATT PARTEIBUCHWIRTSCHAFT
Spitzenpositionen im Öffentlichen Dienst sind für Personen ohne das richtige Parteibuch oder die Zugehörigkeit zur richtigen Seilschaft oft unerreichbar. Vielleicht wäre es fairer, Posten im staatlichen und staatsnahen Bereich durch Losentscheide zu vergeben. Unter den Kandidaten, die alle formalen und fachlichen Voraussetzungen erfüllen, entscheidet Fortuna und nicht mehr die Parteizentrale. Dies ist dem aktuellen System vorzuziehen, in dem Ausschreibungen zurechtgebogen werden, um den in Aussicht genommenen Günstling durchzubringen. Das Los-Modell folgt einem antiken Vorbild und sollte ernsthaft erwogen werden."

Quelle: https://www.fpoe.at/wahlprogramm-nrw-2024



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So 1. Sep 2024, 20:32

Consul hat geschrieben :
So 1. Sep 2024, 20:22
"VOLKSINITIATIVE EINFÜHREN
Immer dann, wenn ein Volksbegehren vom Nationalrat verworfen wird, soll das Volk selbst entscheiden, ob die Initiative nicht doch Gesetz werden soll – Gesetzgebung unabhängig vom Willen des Nationalrates soll möglich sein. Volksbegehren sollen zu einer verpflichtenden Volksabstimmung führen, wenn vier Prozent der Stimmberechtigten, also rund 250.000 Menschen, ein Anliegen mit ihrer Unterschrift unterstützt haben. Die Volksinitiative ist ein Instrument echter Volksgesetzgebung – das Recht geht vom Volk aus!"
Damit wollen die Nationalpopulisten die Macht der parlamentarischen Legislative untergraben und schwächen.
Consul hat geschrieben :
So 1. Sep 2024, 20:22
"DEMOKRATIE-OFFENSIVE IN DEN SCHULEN
Der Jugend soll die Bedeutung der Demokratie in den Schulen bewusst gemacht und gleichzeitig verdeutlicht werden, dass es dafür des persönlichen Einsatzes vieler Bürger bedarf. Insbesondere soll so ohne jede ideologische Bevormundung für die politische Betätigung geworben werden. Junge Menschen sollen ermuntert werden, sich auf allen politischen Ebenen um Mandate zu bewerben."
"…ohne jede ideologische Bevormundung…" – Das ist reine Heuchelei, denn die Nationalpopulisten wollen die Schüler sehr wohl in ihrem ideologischen Sinn beeinflussen und erziehen.



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