Hufeisentheorie

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Jörn Budesheim
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Sa 31. Aug 2024, 09:02

RoloTomasi hat geschrieben :
Fr 30. Aug 2024, 23:02
Ich kann jetzt leider nicht mit einem "Normalitätsbericht" kontern, denn das Unextreme im Politischen ist ja nirgendwo verzeichnet.
Die "Mitte-Studie" ist meines Erachtens (nicht nur, aber auch) ein solcher Normalitätsbericht, der zusammen mit den Extremen natürlich auch das Unextreme verzeichnet.

Zum Glück neigt die große Mehrheit der Menschen in Deutschland nicht zu extremen Positionen. Das kann man durchaus mal festhalten und für sich stehen lassen.

Dennoch haben sich auch in der politischen Mitte (der Normalität?) besorgniserregende Veränderungen vollzogen. Das Selbstverständnis vieler Menschen hat sich insgesamt gewandelt: Während sich früher die meisten in der Mitte verorteten, sehen sich heute viele selbst als rechts. „Rechtsextrem zu sein, passiert nicht mehr hinter vorgehaltener Hand“ (Beate Küpper) diese Ideologien werden heute selbstbewusster nach außen getragen.

Solche Verschiebungen haben auch die "Normalität" verändert: Vieles, was vor einigen Jahrzehnten noch als unsagbar galt, wird heute als „normale Rede“ betrachtet. Das Übertreten von solchen sogenannten roten Linien ist schließlich ein zentrales Aktionsfeld der Rechten.

Vor diesem Hintergrund bin ich mir nicht sicher, ob ich der Behauptung, wir lebten in einer ausgewogenen und facettenreichen politischen Landschaft, zustimmen möchte. Vor allem mit Hinblick auf die letzten Wahlen, und die, die demnächst anstehen.

(Hier noch mal der Link zu dem Interview mit Beate Küpper, Co-Autorin der Mitte-Studie: https://www.tagesschau.de/inland/gesell ... e-100.html)

In eine etwas andere Richtung weisen die folgenden Studien zu einem angrenzenden Thema: Immer wieder liest man, dass die Gesellschaft extrem polarisiert ist. Das scheint aber nicht ohne weiteres den Tatsachen zu entsprechen. Die Polarisierung ist wohl insgesamt nicht so stark, wie man oft denkt, viel mehr ist es (wohl nicht nur nach meinem Eindruck) so, dass man diejenigen, die an den Rändern denken und handeln, nur deutlicher wahrnimmt, weil sie sich z. B. in den sozialen Medien oder den Kommentarspalten lauter artikulieren.

„Der aktuelle Forschungsstand zeigt jedoch, dass diese Phänomene [der Polarisierung] oft überschätzt werden“ (Anna Sophie Kümpel, Juniorprofessorin für digitale und soziale Medien an der TU Dresden).

Ein Beispiel: "Bei den Themen Klimawandel, soziale Gerechtigkeit und Gleichberechtigung sind sich Menschen sogar recht einig. Selbst beim Thema Migration sind die Meinungen weniger gespalten als zum Beispiel beim Organspendeausweis." (Gemäß Forschungen der Soziologen Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser)

(Beide Zitate sind aus der taz: https://taz.de/Polarisierung-der-Gesellschaft/!6029362/)




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Jörn Budesheim
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Sa 31. Aug 2024, 10:14

Stefanie hat geschrieben :
Fr 30. Aug 2024, 20:23
Andere Theorien sortieren die Parteien auch, siehe das Beispiel von Jörn, und alle haben eine Mitte.
Mir stellt sich dann die Frage, wie wird die Mitte definiert, wer gehört dazu und wer nicht? Es muss ja irgendeinen Bezugspunkt geben.
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"Es muss ja irgendeinen Bezugspunkt geben." Die Bezugspunkte sind in den beiden Diagramme direkt eingezeichnet. Es gibt in den Koordinatensystemen jeweils zwei Achsen, horizontal eine ökonomische und vertikal eine kulturelle. Auf diese Achsen sind verschiedene Konfliktdimensionen eingtragen, wie sich Lehmann ausdrückt. Und diese Konfliktdimensionen haben sich (nicht nur) nach seiner Sichtweise verändert: War es früher im ökonomischen Bereich der Konflikt zwischen links und rechts und im kulturellen Bereich der Konflikt zwischen konservativ und progressiv, finden sich dem neuen Modell andere Konfliktdimensionen. Auf der ökonomischen wie auf der kulturellen Achse finden sich jetzt: national/global als die beiden Gegenpole.

Ziemlich erstaunlich finde ich im zweiten Modell die kulturelle Achse, weil es dort um wesentliche Aspekte unserer Freiheit geht, nämlich die Frage, wie sich jeder von uns selbst bestimmt. Formen wir unsere Identität selbst oder setzen wir einfach auf etwas, was wir vorfinden und übernehmen. Sicher hängt das natürlich auch mit dem vertikalen Bereich zusammen, wer sieht sich als Verlierer, wer sieht sich als Gewinner der Globalisierung, steht man für oder gegen die EU etc. pp.

In beiden Koordinatensystemen gibt es natürlich jeweils Mittelwerte, aber die Mitte ergibt sich aus verschiedenen Konfliktdimensionen, auch wenn man hier sicherlich Überschneidungen finden wird. Dennoch kann man sie nicht einfach gleichsetzen, weil es die Mitten unterschiedlicher Konfliktdimensionen sind.

Wenn diese Analyse sinnvoll ist (was ich für plausible erachte), hat sich damit das Hufeisenmodell, unabhängig von allen anderen Nachteilen meines Erachtens erledigt.




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Jörn Budesheim
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Sa 31. Aug 2024, 11:32

Consul hat geschrieben :
Fr 30. Aug 2024, 20:28
Das Hufeisenmodell setzt den Rechtsextremismus und den Linksextremismus nicht gleich. Von einer ideologischen Gleichheit kann keine Rede sein; aber es gibt Ähnlichkeiten, die durch dieses Modell verdeutlicht werden sollen, vor allem die intolerante, antiliberale, antidemokratische und autoritäre bis totalitäre Politik.
bpb.de hat geschrieben : "Für die Extremismusforschung ist der Gegensatz zwischen extremistisch und demokratisch entscheidend, nicht der zwischen "rechts" und "links"...
Der Artikel unterscheidet zwischen "Extremismus", der darauf abzielt, demokratische Strukturen zu stürzen, und "Radikalismus", der tiefgreifende Veränderungen innerhalb des Systems anstrebt, aber die Demokratie nicht unbedingt ablehnt. Das ist eine wichtige Unterscheidung, wie mir scheint, also müsste man sich fragen welche linken Gruppierungen die gemeinhin als extrem gelten, vielleicht in Wahrheit bloß radikal sind. Zumindest scheint es so, dass das Hufeisenmodell diesen wichtigen Unterschied gar nicht darstellt.




RoloTomasi
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Sa 31. Aug 2024, 11:44

Herr Budenheim, Sie schreiben: "Dennoch haben sich auch in der politischen Mitte (der Normalität?) besorgniserregende Veränderungen vollzogen". Ich habe mir gerade auf meiner Urlaubsterrasse in der Provence die Grundsatzprogramme von BSW und AFD angeschaut, die ja im Osten wohl beide stark abschneiden werden. Ich denke, dass sind einfach links- bzw. rechtskonservative Standpunkte, die mich aber eher nicht besonders beunruhigen. Extrem finde ich beide nicht. Es reicht jedenfalls aus meiner Sicht nicht für die Hufeisenform. Und der Gegenwind gegen beide Parteien ist ja sowieso immer da.

Das ist vielleicht gerade das Wesen der demokratischen Politik, dieses lebhafte Gegeneinander der Standpunkte. Natürlich setzt sich dann faktisch immer ein Standpunkt durch, aber immer nur auf Zeit und immer mit sofortiger, multipler Opposition. Deswegen ist die Demokratie ja auch immer in Bewegung, in ständigem Wandel und Austausch. Wie sollte es auch anders sein, denn kein politischer Standpunkt hat ja die Lösung für sämtliche Probleme - und selbst darüber, was überhaupt die entscheidenden Probleme sind, wird ja zurecht allseits und rege gestritten. Die Dinge sind eben alles andere als glasklar oder für jeden evident, weshalb ja Rechthaberei in politischen Dingen heute auch so "oldschool" bzw. ideologisch wirkt.

Abschließend: Meine theoretische Position in dieser Sache entspricht so ziemlich dem von Armin Nassehi, dem an Luhmann orientieren Münchner Soziologen. Lesenswert ist u.a. dessen Buch "Unbehagen. Theorie der überforderten Gesellschaft". Ich bin mir sicher, dass Nassehi auch sagen würde 'vergesst das alte Hufeisending'.



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Jörn Budesheim
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Sa 31. Aug 2024, 12:04

Ich habe zum Vergnügen mal Chat GPT gebeten, die Diskussion zusammenzufassen, findet ihr euch in dem Text wieder?

Die Diskussion dreht sich um die sogenannte Hufeisentheorie und deren Kritiken. Die Hufeisentheorie stellt das politische Spektrum als Hufeisen dar, bei dem die extreme Linke und extreme Rechte sich annähern und ähnlich autoritäre, antidemokratische Strukturen aufweisen.

### Hauptpositionen der Diskussionsteilnehmer:

1. **Stefanie:**
- Stefanie stellt die Hufeisentheorie vor und zitiert kritisch den Artikel aus dem *Missy Magazine*. Sie weist darauf hin, dass die Theorie in der Nachkriegszeit in einem antikommunistischen und völkisch-nationalistischen Kontext entstand und kritisiert wird, weil sie die spezifischen Unterschiede zwischen rechten und linken Strömungen verwischt und rechte Gewalt verharmlost. Stefanie bemerkt, dass die Theorie weiterhin im politischen Diskurs präsent ist, obwohl sie mehrheitlich abgelehnt wird.

2. **Wolfgang Endemann:**
- Endemann kritisiert die Hufeisentheorie scharf und bezeichnet sie als falsch und ideologisch. Er sieht sie als eine Lebenslüge der bürgerlichen Mittelschicht, die zur Verdrängung ihrer eigenen Unsicherheiten dient. Er argumentiert, dass es stattdessen ein bipolares oder multipolares politisches Spektrum gibt, bei dem die Hufeisentheorie das Problem einer „intoleranten Mitte“ verschleiert.

3. **Jörn Budesheim:**
- Budesheim hält die Hufeisentheorie für problematisch, da sie eine Symmetrie zwischen links und rechts suggeriert, die seiner Meinung nach nicht existiert. Er betont, dass die politische Mitte in der heutigen Zeit kaum noch Extreme zulässt und eine differenzierte, pluralistische Demokratie entstanden ist.

4. **RoloTomasi:**
- RoloTomasi glaubt, dass die Hufeisentheorie in der heutigen Zeit nicht mehr passt, da die Demokratie zu „bunt“ geworden ist und es kaum noch klare Extrempositionen gibt. Er sieht die heutige Politik als pragmatisch und weniger ideologisch, was er als positiv bewertet. Allerdings erkennt er in späteren Kommentaren an, dass es aktuell extremistische Tendenzen wie die AfD gibt, die eine Gefahr darstellen könnten.

5. **Consul:**
- Consul verteidigt die Hufeisentheorie teilweise, indem er darauf hinweist, dass sie trotz ideologischer Unterschiede gewisse Ähnlichkeiten zwischen linken und rechten Extremismen veranschaulicht. Er zitiert aus der Extremismusforschung und argumentiert, dass das Hufeisenmodell nützlich sein kann, um gemeinsame antidemokratische Strukturen in verschiedenen Extremismen aufzuzeigen.

6. **Timberlake:**

Timberlake hält die Hufeisentheorie für nicht zutreffend, da sie nicht ausreichend die Dynamik moderner politischer Extremismen erfasst. Er argumentiert, dass die Theorie in ihrer Anwendung auf die gegenwärtige politische Landschaft problematisch ist, da sie die tatsächlichen Unterschiede zwischen extremen politischen Positionen nicht ausreichend berücksichtigt. Timberlake sieht die Theorie als veraltet an und ist der Meinung, dass sie nicht die komplexen Realitäten der politischen Extreme von heute widerspiegelt.

### Zusammenfassung:
Die Diskussion zeigt eine breite Ablehnung der Hufeisentheorie, insbesondere von Stefanie, Endemann und Budesheim, die sie als unzureichend und ideologisch problematisch empfinden. RoloTomasi sieht in der heutigen politischen Landschaft wenig Bedarf für solche Theorien, während Consul eine differenziertere Sicht vertritt und die Theorie als nützliches Werkzeug zur Analyse bestimmter Extremismen ansieht.




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Jörn Budesheim
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Sa 31. Aug 2024, 12:46

Zu der Frage, wie die AFD einzuschätzen ist, und ob man sie z.B verbieten sollte gab es im Forum bereits einen ausführlichen Faden. Die folgenden Zitate stammt aus diesem Faden. Dabei geht es aber im Kern um die Erfolgsaussichten eines Verbotsverfahrens.

Dass die AFD nicht bloß eine konservative Partei ist, liegt für mich auf der Hand.

"Das OVG Münster ist der Auffassung, dass die AfD verfassungsfeindliche Bestrebungen insbesondere gegen Deutsche mit Migrationshintergrund, Ausländer und Muslime verfolgt und demokratiefeindlich ist. Das Urteil stützt sich auf umfangreiches Beweismaterial des BfV, das zahlreiche diskriminierende Äußerungen von AfD-Funktionären enthält. Beispiele sind Äußerungen zum drohenden „Volkstod“, die Verschwörungstheorie der „Umvolkung“ und die Forderung nach „Rückwanderung“ von „nicht integrierbaren Migranten“ einschließlich der Diskriminierung von Deutschen mit Migrationshintergrund. Das Gericht betont, dass die AfD ihre wahren Ziele aus taktischen Gründen oft nicht vollständig offen legt."

Deswegen reicht eine Lektüre des Parteiprogramms vielleicht nicht unbedingt. Obwohl es mich nicht wundern würde, wenn man auch darin viel haarsträubendes finden würde.
verfassungsblog hat geschrieben : Am 25. Februar 2021 stufte das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) die Alternative für Deutschland (AfD) als „Verdachtsfall“ ein. Es gebe hinreichend verdichtete tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass die Partei gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtete Bestrebungen verfolge. Eine solche Einstufung legitimiert in der Praxis des BfV die genauere Beobachtung der Partei. Das heißt, es darf geheimdienstliche Mittel wie Telekommunikationsüberwachung oder V-Leute einsetzen.

Die AfD wehrte sich gegen diese Einstufung vor dem Verwaltungsgericht Köln – und unterlag. Gegen das Urteil legte sie Berufung ein. Vor dem Oberverwaltungsgericht Münster unterlag sie am 13. Mai 2024 erneut.

[...]

Das Gericht entschied allerdings nicht darüber, ob die AfD sicher verfassungsfeindliche Ziele verfolgt. Diese Feststellung wäre Voraussetzung für ein Parteiverbot.

[...]

Das bedeutet, dass das Urteil des OVG Münster nicht bestätigt bzw. gar nicht bestätigen konnte, dass alle Voraussetzungen für ein Verbot der AfD vorliegen. Warum haben die Urteilsgründe ein AfD-Verbot(sverfahren) dennoch wahrscheinlicher gemacht?

[Das OVG Münster ist der Auffassung, dass die AfD verfassungsfeindliche Bestrebungen insbesondere gegen Deutsche mit Migrationshintergrund, Ausländer und Muslime verfolgt und demokratiefeindlich ist. Das Urteil stützt sich auf umfangreiches Beweismaterial des BfV, das zahlreiche diskriminierende Äußerungen von AfD-Funktionären enthält. Beispiele sind Äußerungen zum drohenden „Volkstod“, die Verschwörungstheorie der „Umvolkung“ und die Forderung nach „Rückwanderung“ von „nicht integrierbaren Migranten“ einschließlich der Diskriminierung von Deutschen mit Migrationshintergrund. Das Gericht betont, dass die AfD ihre wahren Ziele aus taktischen Gründen oft nicht vollständig offen legt.]

[...]

Besonders krass ist auch die Forderung Christina Baums nach einem „Wahlrecht nach Abstammung“.

[...]

Demgegenüber ist die Beweislage hinsichtlich des Vorwurfs der Demokratiefeindlichkeit dünn. Genügend Anhaltspunkte für einen Verdacht lägen vor, allerdings „nicht in der Häufigkeit und Dichte wie vom [BfV] angenommen“.

[...]

Es gibt bislang keine belastbaren Einschätzungen zu den Erfolgsaussichten eines Verbotsverfahrens. Das liegt daran, dass in der Öffentlichkeit niemand einen Überblick über das umfangreiche Material zur AfD hat und dass es bei der Partei – anders als bei der NPD – wegen ihrer taktisch motivierten öffentlichen Zurückhaltung auf komplexe Zurechnungsfragen ankommt. Das hat dazu geführt, dass sich viele Verfassungsrechtler*innen zurückhaltend dazu geäußert haben, ob die Voraussetzungen für ein AfD-Verbot vorliegen. Und dass sich keine politische Dynamik hin zu einem Verbotsantrag entwickelt hat. Jenseits politischer Vorbehalte ist die Sorge groß, dass ein Verbotsantrag scheitern würde.

https://verfassungsblog.de/ist-dieses-u ... e-der-afd/




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Jörn Budesheim
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Sa 31. Aug 2024, 12:52

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 30. Aug 2024, 20:59
Wofür möchtest du argumentieren, Consul? Dafür, dass die Hufeisentheorie adäquat ist?
Quk hat geschrieben :
Fr 30. Aug 2024, 21:58
Er macht Recherchen und stellt sie zur Verfügung, nehme ich an. Damit kommen weitere Aspekte in die Diskussion. Muss jeder Beitrag ein Argument sein?
Consul hat geschrieben :
Fr 30. Aug 2024, 22:17
Ich argumentiere mit den obigen Zitaten gegen die Sichtweise der Autorin des Missy-Magazine-Artikels.
Quk, nein, nicht jeder Beitrag muss ein Argument für oder gegen etwas sein. Aber es hilft, solche Zitate zu lesen, wenn man versteht, in Hinblick auf was sie gepostet wurden und worauf sie sich beziehen.




Wolfgang Endemann
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Sa 31. Aug 2024, 13:42

Consul hat geschrieben :
Fr 30. Aug 2024, 22:17

Das Hufeisenmodell ist zwar nur ein Modell der politischen Kartographie neben anderen; aber es stellt eine hilfreiche Veranschaulichung des Umstandes dar, dass es trotz aller ideologischen Unterschiede auch gewisse typische Ähnlichkeiten zwischen linken und rechten Extremismen gibt.
Das kann man so sagen. Aber dabei gerät aus dem Blick, daß "tolerant, liberal, demokratisch und autoritär" selbst Relativbegriffe sind. Werden sie absolut gesetzt, werden sie selbst totalitär. Extrem tolerant bedeutet bspw tolerant gegen Pädophile, gegen das Massenelend, usw. Tolerant bedeutet intolerant gegen das Konservative. So wird die Toleranz gegenüber queeren Personen von vielen als ins-Dunkel-Stellen der Normalen empfunden. Man braucht sich nicht darüber wundern, daß solche Sonderbehandlung zu heftigen Gegenreaktionen führt.
Der Pluralismus der Saturierten ist verlogen; ich möchte den Reichen sehen, der sagt: "OK, der Dieb hat mich bestohlen, weil er der Meinung ist, daß Eigentum Diebstahl ist und die prekäre Lage des Diebs gegenüber dem Reichen als ungerecht empfunden werden muß, das verstehe und akzeptiere ich". Das Freund-Feind-Denken ist inhuman, mir ist aber noch nicht aufgefallen, daß die Mitte aufs Freund-Feind-Denken verzichtet. Ebensowenig der Wille der Politiker der Mitte, für die, die nicht ihre Meinung teilen, Verständnis aufzubringen zu versuchen. Behauptet freilich wird: "wir haben verstanden". Diese Kritik ist selbstverständlich keine Legitimation rechter Gesinnungen, denn die kennen Toleranz, Großzügigkeit, Solidarität im Anderssein noch weniger als die Mitte. Immerhin sind sie weniger verlogen. Der Glaube der Mitte, sie sei undogmatisch, alle anderen seien Ideologen, ist lachhaft. Marx hat das bürgerliche Denken zurecht als die herrschende (wenn auch nicht alleinherrschende) Ideologie der Gesellschaft bezeichnet. Die Mitte und die Rechte wissen gar nicht, wie einig sie sich sind. Von linkem Denken möchte ich nicht reden, denn es scheint weitgehend abhanden gekommen zu sein.
Wenn man die Kriterien von Uwe Backes auf die Politiker der Mitte anwendet, stellt man fest, sie sind selbst Extremisten. Nach den Kriterien von Armin Pfahl-Traughber könnte man feststellen, daß die herrschenden Politiker zwar deutlich weniger als die Rechten, aber auch Extremisten sind.
Übrigens sind "Demokratie" und "Menschenrechte" keine wohldefinierten, konsensuellen Begriffe. Das wird nur von der Mitte, die sich ihrer Definitionsmacht sicher ist, unterstellt.
Also: Es gibt durchaus Ähnlichkeiten ganz unterschiedlicher Extremisten. Allerdings steht das rechts-Mitte-links-Schema dazu orthogonal, wird von der Mitte fälschlich in Anspruch genommen. Die Mitte ist selbst ein Pol in der Polarisierung der Gesellschaft, kein Integrationspotential.
Rolo Tomasi hat natürlich recht: es ist erstaunlich, wie gut die bürgerliche Gesellschaft die Bürgerschaft integriert, die Hegemonie des bürgerlichen Weltbildes durchzusetzen verstanden hat. Das hat bis zur Implosion des Ostblocks funktioniert, dafür gibt es gute Gründe, und es hätte durchaus noch so weitergehen können, aber ohne die Systemkonkurrenz entfiel der Zwang zur Selbstdisziplin des Kapitalismus, das war der Anfang vom Ende der Sozialdemokratie. Seit dem Ende des Wst-Ost-Gegensatzes gewinnen die Kräfte der gesellschaftlichen Desintegration immer größeren Einfluß, seit diesem Zeitpunkt tragen die immer schon herrschenden bürgerlichen Parteien nicht mehr zu einem stärkeren Zusammenhang bei, sondern verwalten eine sich unversöhnlich polarisierende Gesellschaft. Es ist geradezu grotesk, daß von diesen Parteien die Verantwortung für diese Entwicklung geleugnet wird und äußere Sündenböcke gesucht werden.




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Sa 31. Aug 2024, 14:21

Herr Endemann, Sie schreiben: "Seit dem Ende des Wst-Ost-Gegensatzes gewinnen die Kräfte der gesellschaftlichen Desintegration immer größeren Einfluß, seit diesem Zeitpunkt tragen die immer schon herrschenden bürgerlichen Parteien nicht mehr zu einem stärkeren Zusammenhang bei, sondern verwalten eine sich unversöhnlich polarisierende Gesellschaft". Ja, genau so ist es, besser kann man es m.E. nicht ausdrücken! Das genau ist, was mit meinen Beiträgen sagen wollte, allerdings im Gegensatz zu Ihnen ganz ohne die negative Wertung. Aus dem einen großen Gegensatz wurde nach 1989 der Gegensatz der Vielen, eine stabilisierte Spannung divergierender Denk- und Lebenskreise, die sich gegenseitig am Extremwerden hindern. In der Theorie ist der Postmodernismus inzwischen ja eher out, aber in der globalisierten Realität fängt er jetzt erst so richtig an. Und es gibt kein Zurück, nur ein angenehm träges Weiter so in Richtung offene Zukunft.



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Jörn Budesheim
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Sa 31. Aug 2024, 14:34

eine sich unversöhnlich polarisierende Gesellschaft
Weiter oben habe ich eine Studie gepostet, die zeigt, dass das Narrativ einer "sich unversöhnlich polarisierenden Gesellschaft" offenbar nicht den Tatsachen entspricht. Es gibt eine Reihe von Studien, die das belegen. Obwohl diese Geschichte immer wieder erzählt wird, scheint sie nicht auf Fakten zu beruhen.




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Sa 31. Aug 2024, 15:25

RoloTomasi hat geschrieben :
Sa 31. Aug 2024, 14:21
In der Theorie ist der Postmodernismus inzwischen ja eher out, aber in der globalisierten Realität fängt er jetzt erst so richtig an. Und es gibt kein Zurück, nur ein angenehm träges Weiter so in Richtung offene Zukunft.
In manchen Hinsichten mag das vielleicht stimmen, hier ein Beispiel von Susan Neiman.
Susan Neiman hat geschrieben : ...der erfolgreiche rechtsradikale Website-Betreiber Mike Czernowitz, erklärte der Zeitschrift The New Yorker: »Sehen Sie, ich habe die postmoderne Theorie an der Uni gelesen. Wenn alles ein Narrativ ist, brauchen wir Alternativen zu den herrschenden Narrativen.« Er lächelt. »Ich sehe nicht aus wie ein Typ, der französische Theoretiker wie Lacan liest, oder?«




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Sa 31. Aug 2024, 16:13

Vielleicht noch eine kleine Ergänzung. Einen Pluralismus der Sichtweisen finde ich natürlich auch erstrebenswert, er kann aber nur fruchtbar gemacht werden auf Basis von gemeinsamen Überzeugungen und anerkannten Werten, also gerade nicht postmodern!




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Stefanie
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Sa 31. Aug 2024, 16:56

Jörn, danke für die Erläuterungen zu den Diagrammen. Leider habe ich die Diagramme immer noch nicht wirklich verstanden.
Wer ist denn im ersten Diagramm nun die Mitte? Bzw. wo wäre diese und wo müsste eine Partei platziert werden, um als Mitte zu gelten?

Mir ging es um eine andere Mitte, und habe mich wohl nicht genau ausdrückt.
Wer von den Bürgerinnen und Bürgern gehört zu dieser Mitte, um die derzeit nahezu jede Partei buhlt?
Wie setzt sie sich zusammen.
Mama, Papa, durchschnittliche Anzahl Kinder, Mann geht arbeiten, Frau bleibt erstmal zu Hause um später Teilzeit zu arbeiten, Renterinnen und Renter mit durchschnittlicher Rente, Angestellte, Alleinerziehende, Bürgergeldempfänger, Single Haushalte mit hohen Einkommen, mit niedrigen Einkommen, kinderlose Paare, Schwule, Lesben etc., Obdachlose, Migrationshintergrund, Millionäre, Unternehmer.....usw.
Wen meint die Politik, oder hier einige Beiträge, wenn sie von der Mitte der reden?



Der, die, das.
Wer, wie, was?
Wieso, weshalb, warum?
Wer nicht fragt bleibt dumm!
(Sesamstraße)

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Sa 31. Aug 2024, 17:12

Stefanie hat geschrieben :
Sa 31. Aug 2024, 16:56
Bzw. wo wäre diese und wo müsste eine Partei platziert werden, um als Mitte zu gelten?
Gemäß der Projektion von Lehmann ist die CDU ungefähr in der Mitte in Bezug auf die vertikale Achse und die Linke ungefähr in der Mitte in Bezug auf die horizontale Achse. Eine Partei, die in Bezug auf beide Achsen mittig platziert ist, scheint es in Deutschland nicht zu geben.




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Stefanie
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Sa 31. Aug 2024, 17:26

Ich bin verwirrt und gebe diesbezüglich auf.



Der, die, das.
Wer, wie, was?
Wieso, weshalb, warum?
Wer nicht fragt bleibt dumm!
(Sesamstraße)

Wolfgang Endemann
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Sa 31. Aug 2024, 17:55

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 31. Aug 2024, 14:34
Es gibt eine Reihe von Studien, die das belegen. Obwohl diese Geschichte immer wieder erzählt wird, scheint sie nicht auf Fakten zu beruhen.
Man mißt, was man messen will. Ich jedenfalls habe schon Studien registriert, die besagen, daß die Toleranzschwelle im persönlichen Umgang wie das Vertrauen in die staatlichen Institutionen sinkt. Wir sind auf dem Weg in eine Single-Gesellschaft. Im übrigen bin ich weit davon entfernt, das zu kritisieren. Wissenschaft hat festzustellen, wie es ist, nicht wie es sein soll. Und da lassen manche Studien große Zweifel aufkommen, ob sie das überhaupt verstanden haben.




Wolfgang Endemann
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Sa 31. Aug 2024, 18:03

PS. Wenn wir uns nicht polarisieren, verstehe ich nicht, warum man die Wahlerfolge der AfD so skandalisiert. Dann ist doch alles gut.




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Jörn Budesheim
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Sa 31. Aug 2024, 18:05

Wolfgang Endemann hat geschrieben :
Sa 31. Aug 2024, 17:55
Man mißt, was man messen will.
Man glaubt, was man glauben will.




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Jörn Budesheim
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Sa 31. Aug 2024, 18:06

Wolfgang Endemann hat geschrieben :
Sa 31. Aug 2024, 18:03
die Wahlerfolge der AfD so skandalisiert
Die Wahlerfolge der AfD werden nicht skandalisiert.




Wolfgang Endemann
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Sa 31. Aug 2024, 18:22

Warum werden dann Aufmärsche gegen Rechts organisiert? Versammlungen verhindert? Wahlplakate zerrissen? Und das auf beiden Seiten?




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