Supererogation

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Stefanie
Beiträge: 7317
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 20:09

Mo 5. Feb 2024, 20:37

Beschreibung:
Supererogation ist ein Begriff aus der Ethik und bezieht sich auf Handlungen oder Pflichten, die über das normale Maß oder die grundlegenden moralischen oder ethischen Anforderungen hinausgehen, d. h., es sind Handlungen, die als tugendhaft oder lobenswert angesehen werden, aber nicht unbedingt erforderlich sind, um normale moralische Pflichten zu erfüllen.
Es ist zu betonen, dass supererogatorische Handlungen nicht durch moralische Wünschbarkeit oder Verpflichtung zu definieren sind, sondern ganz und gar das Ergebnis einer gewissen Form von Überwindung und Aufopferung darstellen, die sich traditionellen moralischen Maßstäben entzieh (Stangl, 2024).
https://lexikon.stangl.eu/36340/supererogation.
Supererogation lässt sich zum Beispiel definieren als »Handlung, die zu tun moralisch gut ist, die zu unterlassen aber nicht moralisch schlecht ist«.
https://www.spektrum.de/kolumne/superer ... ht/2169057

Problem:
"entnommen aus https://www.spektrum.de/kolumne/superer ... ht/2169057
Wenn ein bestimmtes Handeln allgemein lobenswert ist, ist es dann nicht auch allgemein wünschenswert? Heißt das dann nicht gerade, dass wir moralisch dazu verpflichtet sind? Heißt es nicht, dass man es uns zu Recht vorwerfen kann, wenn wir die wünschenswerte Handlung unterlassen? Wie kann man hier eine Trennlinie ziehen?

Verzichtet man auf die Trennung und akzeptiert, dass absolut jede Handlung, die in einer Situation allgemein wünschenswert ist, eine moralische Pflicht darstellt, dann landen wir bei Ansprüchen, denen nachzukommen für gewöhnliche Menschen schwierig ist.
Moralische Verpflichtungen ihre Grenze dort finden, wo uns selbst Schaden entsteht oder unsere rationale Lebensplanung durchbrochen wird.

Andererseits kann man argumentieren, dass supererogatorische Handlungen sich überhaupt nicht durch moralische Wünschbarkeit oder Verpflichtung definieren, sondern ganz und gar das Ergebnis einer Form von Überwindung und Aufopferung sind, die sich herkömmlichen moralischen Maßstäben entzieht. "

Mir war dieses Problem nicht geläufig und ich bin mir nicht sicher, ob es wirklich ein Problem ist.



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
Goethe

Michael7Nigl
Beiträge: 186
Registriert: Mi 3. Jan 2024, 00:49

Mo 5. Feb 2024, 22:44

Du erzähltest in einem anderen Beitrag, dass Du an den jüngsten Demonstrationen gegen Rechtsextremismus und für Demokratie teilgenommen hattest.
Das scheint mir ein schönes Beispiel für ein wünschenswertes Verhalten zu sein, welches über moralisch gebotene Handlungen wie z.B. Hilfeleistung in Not hinaus geht.
Obwohl ich Deine demokratische Gesinnung befürworte und Deinen Einsatz für die Demokratie lobe, bin ich der Meinung, dass ich durch meine Nichtteilnahme an den Demonstrationen nicht unmoralisch gehandelt habe. In meinen Augen ist Dein diesbezügliches Engagement ein Fall von Supererogation.




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Jörn Budesheim
Beiträge: 23556
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Di 6. Feb 2024, 10:09

Wenn Menschen vor Gericht stehen und für etwas verurteilt werden, dann hängt das Urteil von der Schwere der Tat ab und kann von einer kleinen Geldstrafe bis zu lebenslänglich reichen. Könnte es eine solche Skala nicht auch für die Dinge geben, die gut sind? Und irgendwo auf dieser Skala gibt es eine unscharfe imaginäre Linie, oberhalb derer etwas als Supererogation gilt.




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Stefanie
Beiträge: 7317
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 20:09

Di 6. Feb 2024, 21:22

Michael7Nigl hat geschrieben :
Mo 5. Feb 2024, 22:44
Du erzähltest in einem anderen Beitrag, dass Du an den jüngsten Demonstrationen gegen Rechtsextremismus und für Demokratie teilgenommen hattest.
Das scheint mir ein schönes Beispiel für ein wünschenswertes Verhalten zu sein, welches über moralisch gebotene Handlungen wie z.B. Hilfeleistung in Not hinaus geht.
Obwohl ich Deine demokratische Gesinnung befürworte und Deinen Einsatz für die Demokratie lobe, bin ich der Meinung, dass ich durch meine Nichtteilnahme an den Demonstrationen nicht unmoralisch gehandelt habe. In meinen Augen ist Dein diesbezügliches Engagement ein Fall von Supererogation.
Ich bin etwas verdutzt, denn ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, diese Aktion unter Supererogation zu packen.
In vielen Definitionen wird immer auch Überwindung und Aufopferung genannt. Also das war es nun wirklich nicht.
Die Hilfeleistung in Not ist doch wichtiger, da es akut um das Leben eines Menschen geht.
Für mich war das ein politisches, freiheitliches körperliches Statement nach dem Motto mit uns nicht und Finger weg von unserer Demokratie und von unserem Rechtsstaat. Es war mir wichtig.

Das zeigt aber auch, dass Supererogation doch schwerer zu fassen ist, als gedacht.
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 6. Feb 2024, 10:09
Wenn Menschen vor Gericht stehen und für etwas verurteilt werden, dann hängt das Urteil von der Schwere der Tat ab und kann von einer kleinen Geldstrafe bis zu lebenslänglich reichen. Könnte es eine solche Skala nicht auch für die Dinge geben, die gut sind? Und irgendwo auf dieser Skala gibt es eine unscharfe imaginäre Linie, oberhalb derer etwas als Supererogation gilt.
Hat was, so auf den ersten Blick. Ich glaube, es wird vielleicht schwierig sein, dass man sich einig wird, wo welches gute ding hingehört. Muss ich noch etwas nachdenken.



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Michael7Nigl
Beiträge: 186
Registriert: Mi 3. Jan 2024, 00:49

Di 6. Feb 2024, 22:26

Stefanie hat geschrieben :
Di 6. Feb 2024, 21:22
Ich bin etwas verdutzt, denn ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, diese Aktion unter Supererogation zu packen.
In vielen Definitionen wird immer auch Überwindung und Aufopferung genannt. Also das war es nun wirklich nicht.
Die Hilfeleistung in Not ist doch wichtiger, da es akut um das Leben eines Menschen geht.
Für mich war das ein politisches, freiheitliches körperliches Statement nach dem Motto mit uns nicht und Finger weg von unserer Demokratie und von unserem Rechtsstaat. Es war mir wichtig.

Das zeigt aber auch, dass Supererogation doch schwerer zu fassen ist, als gedacht.
"Überwindung und Aufopferung" braucht man sich, glaube ich, nicht märtyrerhaft vorstellen. Man kann an moralisch guten Handlungen auch Freude haben. Du hast für Deinen Einsatz immerhin die Trägheit Deines Körpers überwunden - das fällt dem einen schwerer, dem anderen leichter - und auch Deine Zeit dafür geopfert. Selbst wenn Du letzteres nicht als Opfer empfandst, war es doch eine Art Investition Deiner Zeit. Mit anderen Worten: Deine Teilnahme an der Demonstration war alles andere als selbstverständlich.

Als typisches Beispiel für Supererogation wird die Geschichte des barmherzigen Samariter in der Bibel genannt: Er leistet nicht nur Hilfe in der Not, sondern bezahlt für den Verletzten auch noch weitere Pflege und Verpflegung durch den Wirt.
Wie hat man sich diesen Samariter vorzustellen? Musste er sich unter Qualen zur Barmherzigkeit überwinden? Betrachtete er seine zusätzliche Hilfe für den Verletzten als Opfer? Ich glaube nicht. Ich stelle ihn mir heiter und hilfsbereit vor, sodass er Freude und Erfüllung durch seine Hilfe erfahren hat.




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Stefanie
Beiträge: 7317
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 20:09

So 25. Feb 2024, 20:24

Das hat mir keine Ruhe gelassen.

Sicher kann man an moralischen Handlungen auch Freude haben. Wobei ich denke, es befriedigt jemand.
Nach meinem Verständnis ist Supererogation ein Mehr an einer moralischen Handlung. Diese Handlung wird nicht eingefordert, nicht verlangt und trotzdem macht jemand etwas "Gutes". Durchaus mit der Folge, dass diese Person über sich herausgeht oder eine persönliche Einschränkung in Kauf nimmt usw. Z.B. ehrenamtliche Tätigkeit neben der Arbeit oder Familienarbeit.

Für mich war und ist die Teilnahme keine Handlung, die unter Supererogation fällt. Es war für mich eine Selbstverständlichkeit, diese Form des Protest gegen Rechts zu wählen.
Das wird bei anderen Teilnehmer*innen anders gewesen sein. Gerade die aus der Generation Ü70, die teilgenommen hatten, war das richtig anstrengend. Und für einige auch eine sehr emotionale Situation. Hier kann man von Supererogation sprechen.
Mir ist das ehrlich gesagt etwas unangenehm, dass meine Teilnahme als Beispiel für Supererogation genommen wird.



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Stefanie
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Registriert: Mi 19. Jul 2017, 20:09

Fr 8. Mär 2024, 13:21

Zur kurzen Erinnerung, dass es bei Supererogation schwierig ist, die Grenze zu ziehen zwischen wozu ist jemand moralisch verpflichtet und was kann nicht verlangt werden. Wo beginnt das "Mehr" als das verlangte, wann ist ein Aufopferung etc.

Aus:
https://praefaktisch.de/feminismus/erwa ... erogation/
(...)
Angestoßen wurde diese Debatte durch J.O. Urmsons Aufsatz „Saints and Heroes“ (1958). Nach Urmson hat sich die moderne Moralphilosophie nur auf das Erlaubte, das Gebotene und das Verbotene konzentriert. Mit dieser Dreiteilung würden jedoch die außergewöhnlichen Taten von ‚moralischen Heiligen und Helden‘ nicht erfasst. Entsprechend bedürfe es einer weiteren Handlungskategorie: ‚supererogatory acts’.
(...)
Was als Pflichterfüllung, freiwillige Mehrleistung oder gar als heilig oder heroisch verstanden wird, ist in unserer Urteilspraxis jedoch auch durch Geschlechterrollen und die daran geknüpften Handlungserwartungen geprägt.
(...)
Im Anschluss an Urmson gelten ‚heroische und heilige Taten‘ als paradigmatische Fälle von Supererogation.(....) Auch in der Praxis ist festzustellen, dass Geschlechterrollen die Zuschreibungen von Heldenhaftigkeit und Heiligkeit beeinflussen. Umgekehrt haben deren Figurationen Rückwirkungen auf Geschlechterverständnisse, weil die entsprechenden Narrative diese Rollen (mit)verhandeln.
(...)
In den Debatten um Supererogation wird, neben ‚heroischen und heiligen Taten‘, auch diskutiert, ob Handlungsweisen wie Wohltätigkeit, Verzeihen und Dankbarkeit supererogatorisch seien. Doch auch hier lassen sich Normalisierungs- und Naturalisierungstendenzen feststellen: Die normativen Erwartungen und moralischen Beurteilungen solcher und ähnlicher Handlungsweisen unterscheiden sich stark, je nachdem welcher sozialen Gruppe die betreffende Person angehört.
(...)
Zwei Beispiele:

Nehmen wir an, ein Mann ist neben seiner Familie mit Frau und Kindern und neben seiner beruflichen Tätigkeit noch ehrenamtlich im Technischen Hilfswerk tätig, einschließlich Auslandseinsätze. Dazu ist noch anzumerken, dass die sog. Care-Arbeit in der Familie die Frau ausführt.

Nehmen wir an, eine Frau ist neben ihrer Familie mit Ehemann und Kindern und neben ihrer beruflichen Tätigkeit noch ehrenamtliche im Förderverein des Kindergartens organisiert Feste, Spenden usw. und kümmert sich auch noch um die Großmutter.

Soweit erst mal....



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