Zeichnen

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Jörn Budesheim
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Di 17. Jan 2023, 16:47

Ein älterer Text von mir, den ich gerade zufällig wieder gesehen habe.
Jörn Budesheim hat geschrieben : Der Aufsatz "Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans" von Hans Blumenberg beginnt mit den Worten: "Die Tradition unserer Dichtungstheorie seit der Antike läßt sich unter dem Gesamttitel einer Auseinandersetzung mit dem antiken Satz, daß die Dichter lügen, verstehen." Gemeint ist natürlich Platon. An einer wichtigen Stelle des Aufsatzes fragt Blumenberg: "Weshalb aber läßt Plato nicht zu, daß der Maler [...] auf die Idee selbst blickt, wenn er solche Gegenstände darstellt, und damit der Forderung genügt, ein unmittelbares Abbild des Urbildes zu geben?"

Das hat mich an eine kleine Episode aus der Geschichte der Naturwissenschaften erinnert, die ich vor ein paar Jahren mal gelesen habe. Ernst Heinrich Philipp August Haeckel (* 16. Februar 1834 in Potsdam; † 9. August 1919 in Jena) war laut Wikipedia ein deutscher Mediziner, Zoologe, Philosoph, Zeichner und Freidenker. Er sagte, dass seine Illustrationen nicht exakt seien, sondern „das Wesentliche des Gegenstands zeigen und das Unwesentliche fortlassen“. Im Grunde hat er damit genau in Anspruch genommen, das Platon laut Blumenberg den Künstlern aberkannt hat.

Das Zitat entstammt dem Buch "Objektivität" von Lorraine Daston und Peter Galison. Dort gibt es einen Abschnitt über "eine kleine Geschichte aus der Geschichte der Naturwissenschaften", der wie ein spätes Echo auf Platons dictum wirkt. Dabei geht es, in einfachen Worten wiedergegeben, um die Frage, wie man die Ergebnisse der Naturwissenschaften, in diesem Fall der Biologie, überhaupt festhalten kann. Lange Zeit waren natürlich Zeichnungen von (beispielsweise) Pflanzen ohne Alternative. Aber dann bekam dieses Medium Konkurrenz von einer "objektiveren" Methode. Diese "objektive" Methode bestand unter anderem in der (foto-)mechanischen Reproduktionen der Gegenstände der Untersuchung.

Hatte diese Methode über einen gewissen Zeitraum auch Bestand, stellte sich doch nach und nach ein Unbehagen an der mechanischen Reproduktion ein. Denn dieses hatte ein entscheidendes Manko, es konnte immer nur den jeweiligen besonderen Gegenstand zeigen. Deswegen wandten sich mehr und mehr Wissenschaftler von dieser Methode wieder ab. Ihr Motto lautete nunmehr: Wahrheit statt Objektivität. Entscheidend wird wieder das geschulte Urteil, der geübte Blick, das Handwerk des Zeichners. Zuerst nur zögernd und dann immer öfter betonen diese Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts die Notwendigkeit, wissenschaftlich mit erfahrenen und geübten Augen zu sehen. Sie waren auf ein interpretiertes Bild aus. Auf etwas, das nicht einfach einen Abklatsch des Besonderen bot, sondern das Allgemeine darin zeigen konnte. Denn die Naturgesetze sollen schließlich dieses Allgemeine festhalten.

Notwendig dafür, so wurde dann wieder erkannt, sei das Subjektive, das geübte Auge, eine empirische Kunst, die Wiedererkennung von Mustern. Die zeichnende Hand kann teilweise Wahrheiten zu Papier bringen, welche die mechanische Box nicht zeigt. Es gibt also Tatsachen über die Natur, die wir nur mit künstlerischen Mitteln erfassen können.

Um die Formulierung von Blumenberg aufzugreifen: Der Künstler kann auf die Idee selbst blicken, wenn er solche Gegenstände wesenhaft darstellt, und genügt damit der Forderung, ein unmittelbares Abbild des Urbildes zu geben.




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