Ein paar kurze Bemerkungen zum Verzeihen

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Quk
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Mi 21. Feb 2024, 12:07

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 21. Feb 2024, 08:22
Ob ich Hans verzeihe oder einem vorgestellten Hans, ist etwas anderes, finde ich. Wenn Hans tot ist, bleibt womöglich nur die Vergebung.
(Vorweg: Den Effekt, über den ich in diesem Faden bisher sprach, nenne ich Verzeihung oder Vergebung -- synonym. Ich habe mehrmals betont, dass es mir um die Sache geht, weniger um die Begriffe.)

Michael7Nigl hatte einen Wikipedia-Artikel zitiert.
Dort bezieht sich ein Wikipedia-Autor auf den Sozialpsychologen Christian Schwennen.
Schwennen benutzt die Begriffe Vergeben und Verzeihen nicht synonym.
Schwennen spricht darüber in diesem bereits zitierten Zeitungsartikel https://www.tagesspiegel.de/wissen/befr ... 45909.html
tagesspiegel hat geschrieben : Das englische Verb „to forgive“, das seine US-Kollegen Fincham und Enright benutzen, übersetzte Schwennen bewusst mit verzeihen, nicht mit vergeben. Zunächst deshalb, weil das Wort vergeben im Deutschen mehrere Bedeutungen hat: Nicht nur Fehler, sondern auch Arbeitsplätze, Noten oder Elfmeter können vergeben werden. „Dazu kommt als zweiter Grund, dass der Begriff des Vergebens schon von den Theologen besetzt ist“, sagt Schwennen.

Verzeihen also. Zunächst innerhalb der engsten zwischenmenschlichen Beziehungen.
So mag jeder Mensch -- ob Sozialpsychologe, Philosophin, Künstler, Lehrererin etc. -- seine Begriffe individuell feinjustieren für das, was er sprachlich mitteilen will.

Worüber ich sprechen will, ist das tatsächliche Verschwinden des Groll- oder Wutgefühls. Erst wenn das verschwunden ist, ist die -- wie auch immer man sie nennen mag -- Verzeihung, Vergebung, Forgiveness, Verzebung, Fergeihung oder sonstwie, echt. Es geht am Ende um das Verschwinden unangenehmer Gefühle. Rationale Denktaktiken mögen dabei helfen, das Gefühlsleben zu beeinflussen. Aber allein die rationale Einsicht, dass dieses und jenes Gefühl nutzlos sei, kommt noch keiner wirklichen Nutzlos-Gefühls-Auslöschung gleich: Die rationale Einsicht ist zwar da, aber das üble Gefühl ist immer noch nicht weg. Man sieht das an unnützen Ängsten. Man kann noch so rational denken, manche Angstgefühle gehen einfach nicht weg. Das Thema Angst ist übrigens verwandt mit diesem Verzeih-Thema hier, denke ich. Beispiel: Ein Täter hat mich verletzt. Ich habe Angst, dass so etwas nochmal passiert. Solange ich diese Angst habe, kann ich dem Täter schwerlich forgiven. Ich habe das weiter oben schon erläutert, was ich darüber denke. Da geht es um eine Alarmperiode nach einer Verletzung. Wut oder Groll regen Alarmreaktionen an; sie teilen dem Täter mit: Tu das nie wieder! Wenn man das Gefühl hat, die Gefahr ist vorüber, etwa durch freundliche Signale des Täters, oder durch meine eigene Einsicht, dass das ein Versehen des Täters war oder sonst etwas, hat die Alarmperiode keinen Sinn mehr und die Forgiveness kann beginnen. Sie kann aber nur echt sein, wenn Groll- oder Wutgefühl tatsächlich verschwunden sind. Das ist alles was ich sagen will. Den Streit um die allgemeingültigste Definition des Verzeih-Begriffs überlasse ich den Göttern, Schwennen und Wikipedia.




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Jörn Budesheim
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Mi 21. Feb 2024, 16:25

Quk hat geschrieben :
Mi 21. Feb 2024, 12:07
Ich habe mehrmals betont, dass es mir um die Sache geht, weniger um die Begriffe
Wenn es um Begriffe geht, geht es auch um die Sache, finde ich. Verschiedene Begriffe können sich beispielsweise auf verwandte, aber unterschiedliche Dinge beziehen, wie die beiden Begriffe "verzeihen" und "vergeben", eine Unterscheidung in der Sache, die ich sehr hilfreich finde.




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Jörn Budesheim
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Mi 21. Feb 2024, 18:06

Herr Schmidt ist empört. Worum geht es? Seiner Meinung nach hat Kollege Müller einen wichtigen Termin verpasst. Schmidt geht zu Müller, um die Sache zu klären. Dabei stellt sich heraus, dass der Termin, um den es geht, erst nächste Woche stattfindet. Damit ist der Grund für Schmidts Empörung verschwunden und mit ihm die Empörung. Schmidt entschuldigt sich für sein Versehen, Müller lächelt, die Sache ist erledigt.

Die rationale Einsicht in die Unangemessenheit der Empörung führte augenblicklich zum Verschwinden der Empörung. Das ist möglich und passiert auch.




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Jörn Budesheim
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Mi 21. Feb 2024, 18:15

Ich weiß immer noch nicht genau, worum es dir geht. Kann es sein - das soll keine Unterstellung, nur eine vorsichtige Nachfrage sein - kann es also sein, dass du die ganze Problematik des Verzeihens loswerden willst, indem du versuchst, sie auf etwas anderes zu reduzieren, nämlich auf Unbehagen, Wohlbefinden sowie deren Auftreten und Verschwinden?




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Quk
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Mi 21. Feb 2024, 18:57

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 21. Feb 2024, 18:06
Herr Schmidt ist empört. Worum geht es? Seiner Meinung nach hat Kollege Müller einen wichtigen Termin verpasst. Schmidt geht zu Müller, um die Sache zu klären. Dabei stellt sich heraus, dass der Termin, um den es geht, erst nächste Woche stattfindet. Damit ist der Grund für Schmidts Empörung verschwunden und mit ihm die Empörung. Schmidt entschuldigt sich für sein Versehen, Müller lächelt, die Sache ist erledigt.

Die rationale Einsicht in die Unangemessenheit der Empörung führte augenblicklich zum Verschwinden der Empörung. Das ist möglich und passiert auch.
Diese Geschiche ist 100% kompatibel mit meiner These.

Müller ist stolz auf seine Verlässlichkeit. Müller weiß, dass Schmidt ihm vertraut und ihn respektiert.
Schmidt wirft Müller vor, einen Termin verpasst zu haben.
Müller bekommt Grollgefühle, weil Schmidt das Vertrauen und den Respekt gebrochen hat. "Was erlauben Schmidt?"
Müllers Grollgefühle starten eine Alarmperiode mit Worten und Gesten an Schmidt, die besagen: Beleidige nie wieder meine Zuverlässigkeit!
Schmidts Intellekt erkennt, dass kein Termin verpasst wurde und Müllers Zuverlässigkeit ungebrochen ist.
Müllers Intellekt erkennt, dass der Alarm beendet werden kann.
Das Grollgefühl geht über in ein Freudengefühl. Das entlastende Gefühl, das Lächeln, ist echt. Es wurde wahrlich verziehen.

Das ist eine einfache Geschichte. Sie könnte auch weniger eindeutig ausgehen:

Schmidts Intellekt erkennt, dass kein Termin verpasst wurde und Müllers Zuverlässigkeit ungebrochen ist. Aber Schmidt ist ein Besserwisser; für ihn sind immer die anderen schuld; in diesem Fall gibt er Frau Butzbach die Schuld, weil sie den Terminkalender mit Bleistift beschriftet statt mit Kuli.
Schmidt sagt dennoch zu Müller: "Ich bitte um Entschuldigung."
Müllers Intellekt erkennt, dass der Alarm noch nicht sicher beendet werden kann, denn bald wird es vermutlich wieder einen Fall geben, in dem Schmidt die Zuverlässigkeit seiner Mitarbeiter in Frage stellt und damit deren Ehrgefühl verletzt.
Müller hegt also immer noch ein Grollgefühl. Formhalber sagt er zu Schmidt: "Entschuldigung angenommen." Diese "Verzeihung" ist aber nur reine Berechnung; sie ist nicht echt, weil das Grollgefühl immer noch da ist.




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Jörn Budesheim
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Mi 21. Feb 2024, 19:15

:) Das ist wirklich eine ziemlich krasse Umdeutung der Geschichte, aber von mir aus. Lassen wir das Thema einfach auf sich beruhen.




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