Timberlake hat geschrieben : ↑ Sa 11. Jun 2022, 23:09
Nauplios hat geschrieben : ↑ Sa 11. Jun 2022, 16:37
Reaktanz ist eine Unterform von Reaktion, allerdings eine, deren Legitimität sich allenfalls auf tradierte und eingespielte soziale Muster begründet, an die man festhält - unter Umständen auch gegen die Vernunft. (So verstehe ich die Ausführungen zur Reaktanz. Insofern ist das Afghanistan-Beispiel gar kein Fall von Reaktanz. Reaktanz ist gleichsam reflektionsfrei.)
Eine gleichsam reflektionsfreie Reaktanz ?
- Reaktanz (Psychologisch)
Psychologische Reaktanz ist die Motivation zur Wiederherstellung eingeengter oder eliminierter Freiheitsspielräume. Reaktanz wird in der Regel durch Druck (z. B. Nötigung, Drohungen, emotionale Argumentation) oder die Einschränkung von Freiheitsspielräumen (z. B. Verbote, Zensur) ausgelöst. Als Reaktanz im eigentlichen Sinne bezeichnet man dabei nicht das ausgelöste Verhalten, sondern die zugrunde liegende Motivation oder Einstellung.
Kannst du mir das mal an Hand dieser Definition aus Wikipedia mal erklären?
Wenn Reaktanz in der Regel durch Druck (z. B. Nötigung, Drohungen, emotionale Argumentation) oder die Einschränkung von Freiheitsspielräumen (z. B. Verbote, Zensur) .. wenn man so will .. auf Grund von
„tradierten und eingespielten sozialen Mustern“ ausgelöst wird , wie soll das bei einer gleichsam reflektionsfreien Reaktanz gehen?
Vielleicht kommt man etwas weiter, wenn man den Eintrag zur Reaktanz bei Wikipedia von hinten liest: es geht um eine "Motivation oder Einstellung", es geht nicht um das dadurch "ausgelöste Verhalten". An dem konkreten Verhalten beziehungsweise Handeln ist die "zugrundeliegende" Reaktanz nicht beobachtbar. Sie ist erschließbar. Und im Vollzug dieses Erschließens erscheint das Verhalten dann als ein reaktantes Verhalten. Dazu ist ein psychologisch geschulter Blick nötig, eine Erfassung der Reaktanz durch das Methodenarsenal der Psychologie. Ich kenne die Hintergründe des Reaktanzkonzepts zu wenig, die zur Etablierung dieses Begriffs in der Psychologie geführt haben. Im Eingangsbeitrag des Threads ist die Rede von "emotionalen Widerständen gegen den Verlust früherer Ansprüche"- ausgelöst "durch wissenschaftliche Erkenntnisse".
Es sind also "Emotionen", Gefühle, mithin also psychische Befindlichkeiten, die in der auf Vernunft ausgerichteten rationalistischen Tradition der Philosophie als etwas Unvernünftiges beargwöhnt wurden und als "Leidenschaften" u.ä. keinen Kredit hatten. Wer sich seinen spontanen Leidenschaften, seinen Emotionen überläßt, handelt und verhält sich nicht durchdacht, reflektiert. Reflektion bedeutet prüfendes, abwägendes, vergleichendes Nachdenken. Eben dieses kommt bei der Reaktanz zu kurz, beziehungsweise kommt gar nicht erst zum Zuge, weil die Reaktanz das Verhalten in eine Plötzlichkeit zwingt. Der abwehrende Gestus ist sogleich da, ist unreflektiert. Er kommt aus dem Bauch heraus, also daher, wo alles Mögliche sitzt, aber kein Verstand.
Aus Afghanistan nach Europa zu fliehen, kann dagegen ein höchst vernünftiges Verhalten sein, dem ein prüfendes, abwägendes, vergleichendes Nachdenken vorausging.
Begriffsimporten aus der Psychologie in die Philosophie darf man etwas reserviert gegenüberstehen. Daß wissenschaftliche Erkenntnisse Unbehagen auslösen können, daß "frühere Ansprüche" dadurch (etwa Ansprüche auf Sinn) abgeschrieben werden müssen, das ist Gegenstand breiter philosophischer Forschung auf dem Feld der Wissenschafts- und Ideengeschichte. Unter dem Titel "Selbstbehauptung" (nicht als psychologische Kategorie, sondern als eine Denkfigur der Philosophischen Anthropologie und Phänomenologie der Geschichte) ist diesbezüglich einiges verhandelt worden. Inwieweit eine geschichtsphilosophische Konzeptualisierung der Reaktanz hier noch einen Beitrag zum Verständnis historischer Verläufe leisten kann, mag dahingestellt sein.