Ich - Leiden an der aporetischen Existenz

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Jörn Budesheim
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So 29. Mär 2020, 10:50

Wir können Gott höchstens als Metapher dafür nehmen, dass wir in der Lage sind, von uns selbst abzusehen und eine Situation gleichsam von oben zu betrachten. Dann können wir uns fragen, was sollte dieser Mensch tun - egal ob dieser Mensch wir selbst sind oder jemand anderes.
Alethos hat geschrieben :
Fr 27. Mär 2020, 22:23
Das Gute zu definieren wäre eine ausgezeichnete Idee! So gut, dass man diese Praxis auch schon mit menschlichen Buddies einüben sollte. Sie hätte die normative Form: "Lasst uns Gutes tun und bestimmen, was dieses sei."




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Alethos
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So 29. Mär 2020, 12:51

Schimmermatt hat geschrieben :
Sa 28. Mär 2020, 21:11
Ich mache mal die Gegenrede zu Alethos und Jörn auf und sage, dass es ohne Gott, nehmen wir hier als Stellvertreter die allgemein akzeptierte Autorität J.W.Goethe ;-), keine Verbindlichkeit auf das Gute geben kann. Das läuft auf den Streit Universalismus vs. Kulturrelativismus hinaus. Allerdings wird dies kein Auftakt zu einer religiösen Bekehrung o.ä. Es ist vielmehr die Einsicht, dass es das Gute nicht gibt. Es gibt bloß konkurrierende Meinungen in Bezug auf dies oder das.
Für einen an der Aporie Verzweifelnden hast du dich aber schon ziemlich eindeutig auf eine Ansicht festgelegt :) Es bleibt doch tatsächlich die aporetische Grundsituation bestehen, dass wir zwischen Universalismus und wie auch immer gearteten Relativismus nicht entscheiden können. Wenn wir es tun, dann jedoch mit entsprechender Zuversicht.

Wenn es bspw. so wäre, dass gälte: Das Gute gibt es nicht, sondern nur "konkurrierende Meinungen in Bezug auf dies und das", dann bleibt uns wenigstens der Rationalismus, auf dessen Grund sich diese Meinungen ausbilden. Man kann dann vielleicht kein "Gutes an sich" mehr postulieren, aber fühlt sich doch wenigstens berechtigt, sich selbst und anderen die Gründe für diese oder die andere Meinung darzulegen.

Was ich sagen will: Mag es auch kein Wissen über das Gute geben, weil es keinen Gegenstand gibt, der in platonischer Manier als solch' Gutes erfasst und erkannt werden kann, so bleiben uns wenigstens unsere mehr oder weniger gut fundierten Meinungen darüber, was dieses sein könnte und warum. Wir kommen, anders gesagt, gar nicht umhin, uns in eine Lage zu versetzen, in der es uns plausibel erscheint, dies oder das für wahr zu halten. Und das ist der rationalistische Boden, auf dem die (zugegebenermassen minimale) Hoffnung ihre Überlebensmöglichkeit findet: Dass man es sich herbeireden könne! Performativ und pragmatisch zwar, aber sich doch wenigstens entschieden gegen das Nichts wendend.

Kurz gesagt: Gute Gründe geben genügend guten Grund für Existenz.



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Schimmermatt
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So 29. Mär 2020, 15:39

Gute Gründe, Alethos, sind in den Augen des Anderen oft keine solchen... was wir hier offenkundig schon ein bißchen öfter durchexerziert haben. Bleiben wir ruhig bei Platons Wissensbegriff und scheitern mit ihm gemeinsam vor uns hin. Wahrer Glaube, für den gute Gründe angegeben werden können, das sei also Wissen. Ob etwas wahr oder nicht ist, das ist in Bezug auf "das Gute" offenbar nicht zu fixieren - es sei denn, man setze es mit Gott in eins, so wie etwa bei Leibniz in der besten aller möglichen Welten. Hiervon ging ich aus, als ich Jörn mein "begründungsloses" Argument, welches er monierte, hinwarf. Ob etwas gut begründet ist, das hängt doch stark von der jeweiligen Perspektive ab. So weit ich mich erinnere, haben die Kulturrelativisten stets auf die "Eurozentrizität" der Rationalität hingewiesen, von dem versteckten Ressentiment gesprochen, was einem selber die Oberhand sichert, weil man ja im Besitz dieser Rationalität sei. Seit der Aufklärung ein beliebter Trick, Robespierre lässt grüßen, aber es dauerte bis zur "Dialektik der Aufklärung" ehe der selber totalitäre Charakter dieser (recht technischen) Rationalität offenbar wurde und Adorno mit zynischer Präzision darauf hinwies, dass nicht Rousseau oder Kant die wahren Erben der Rationalität seien, sondern Sades böse Heldin, die sich mittels der ach so neutralen Rationalität Vorteile im Gegeneinander der Menschen erwirtschaftet und letztlich die Rationalität der Zahl besser versteht, als ein Mathematiker und Ethiker wie Kant, wenn sie Sexteams beschäftigt, um ja keine Körperöffnung länger als nötig unliebkost zu lassen. Auch die Optimierer eines wirtschaftlichen Liberalismus haben dies besser gerafft. Gute Gründe? Ja, mit mörderischer Effizienz! ...und der Spielmarke "Rationalität" als Faustpfand!



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Alethos
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So 29. Mär 2020, 17:45

Schimmermatt hat geschrieben :
So 29. Mär 2020, 15:39
Gute Gründe, Alethos, sind in den Augen des Anderen oft keine solchen
Ein relativistisches Argument, wie man es besser nicht zu formulieren braucht, damit es einleuchtet. Ja, zugestanden, auch die Anderen haben rationale Argumente für ihre konträren Meinungen: Nur so ist überhaupt möglich, dass man miteinander redet und nicht aneinander vorbei. Hätten die Anderen keine Gründe für ihre Ansichten, hätten sie womöglich, weil ihnen der propostionale Gehalt fehlte, gar keine Ansichten, dann aber wären sie vermutlich gewöhnliche Tiere, mit denen wir uns in der Regel auch nicht auf eine Diskussion einlassen.

Wenn aber Rationalität möglich macht, dass wir mehrere widerstreitende Meinungen ausformulieren, die sich widersprechen können, wenn wir uns also als zoa politika begegnen können, dann wird doch deutlich, dass sie auch möglich macht, über Meinungen zu Einigkeit zu kommen. Denn sie zeigt sich damit als die Fähigkeit, einer Meinung den Inhalt zu geben, mithin eine Meinung als intentionalen Modus überhaupt zu konstituieren und es wäre doch reichlich sonderbar, wenn Rationalität letztlich nur dazu führte, dass wir immer zu gegenteiligen Meinungen kämen. Schliesslich ist es doch so, dass die Erfüllungsbedingung einer Meinung ist, über sie zum Urteil <wahr oder falsch> kommen zu können. Die Meinung, dass p ist letztlich wahr oder falsch, zwar ist sie wahr oder falsch unter den Bedingungen x, y oder z (relativistisches Argument), aber sie ist unter diesen Bedingungen nur wahr oder falsch. Wir Menschen gruppieren uns demnach um eine Meinung nicht in unendlich vielen Gruppen, sondern in maximal zwei: Jene, die eine wahre Meinung hat, dass p und jene, die eine falsche Meinung hat, dass p. Die Menge der Anderen ist also dann geschrumpft auf eine Gegenpartei und ist mitnichten ein Sammelsurium beliebig vieler Wahrheiten über p.

Nun angenommen, dem wäre so, dass die eine Gruppe p denkt und die andere nicht-p, so befänden sie sich doch innerhalb der Gruppe unweigerlich verbunden durch die Gründe, die sie zu dieser Meinung führen. Sie können wohl verschiedene Gründe haben für ihre Meinung, dass p, aber diesen Gründen muss Gültigkeit zugestanden worden sein, damit sie die Gruppenteilnehmer berechtigen, zu einer Meinung über p zu gelangen.
Aber warum tun sie das? Warum führen die (verschiedenen) Gründe von Person m und n dazu, dass sie dieselbe Meinung p (oder nicht-p) haben? Ich denke, die Frage ist einfach zu beantworten: Gründe stützen Gründe und sie sind intentional, d.h. sie richten sich an einer Wirklichkeit aus, sei diese menschengemacht oder nicht. Es gilt bei allen Ansichten, dass sie durch Gründe
gestützt werden, die für sie sprechen und diese wiederum stützen sich auf Gründe, die für sie sprechen. Das endet nicht in einen
infiniten Regress, sondern nimmt überhaupt erst Formen an, indem man sich auf die Gültigkeit einlässt, die Gründe haben,
für andere Gründe resp. Ansichten zu sprechen.

Wir sind uns also über rationale Praktiken bereits einig geworden, dass und welche Argumente gelten und warum, bevor wir uns in einem Dissens wiederfinden können.
Dass dabei persönliche, kulturelle und andere Hintergründe hineinspielen, tut der Objektivität keinen Abbruch, solange der Gegenstand des Diskurses ein objektiver ist, d.h. die argumentative Struktur einen Rahmen kennt, der die Regeln der diskursiven Praxis verbindlich absteckt. Dann handelt es sich um ein legitimes Verfahren, ein durch die Praxis selbst legitimiertes Verfahren, welches nicht zwingend Entscheidbarkeit über Wahrheit einfordert, aber eine rationale Praxis performiert, deren Ziel Einigkeit darüber ist, was als wahr gelten kann, ohne letztbegründend zu bestimmen, was tatsächlich wahr sei. Das ist die Position der kritischen Methode und ich bin zuversichtlich, dass Popper es genau so meinte, als er sagte: "Unser Wissen ist ein kritisches Raten, ein Netz von Hypothesen, ein Gewebe von Vermutungen."

Leibniz war ja nicht deshalb kein Rationalist, weil er seine Argumente für die bestmögliche aller Welten mit einem Verweis auf Gott stützte. Er hätte die prästabilierte Harmonie genauso gut mit der Behauptung eines Quantenuniversums stützen können. Was an der Behauptung, dass Gott perfekte Ordnung schaffte, ist schon verkehrter als die Behauptung, dass dort ein Baum steht, weil am Anfang von allem eine Singulatität war? Nichts ist im Grunde sicher, nicht einmal die Ungewissheit. Man kann sich aber dennoch einigen, dass man es gelten lassen will, dass Gott existiert (oder der Baum dort am Ende einer unendlichen Kausalkette) und man kann auf Basis dieser Prämisse zu Schlüssen kommen, die, gerechtfertigt durch die argumentative Praxis, zu der man sich verpflichtete, Gültigkeit entfalten.

Die Objektivität der Argumente, die Gültigkeit der Argumente, ergibt sich aus der Festlegung auf Grundannahmen und sie müssen nicht falsifizierbar sein, ja, sie können es gar nicht sein, aber deshalb wird nicht der ganze Diskurs irrational, denn er lebt nicht von der Gültigkeit der Prämissen, sondern von der Festlegung und Verlässlichkeit der Gültigkeit des argumentativen Verfahrens.



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Schimmermatt
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So 29. Mär 2020, 19:04

Also gut, dann mal auf in den Nahkampf, irgendwas muss man ja tun zwischen den Mahlzeiten, oder zwischen Geburt und Tod.

Zuallererst mal bin ich überhaupt nicht damit einverstanden, dass aus der prinzipiellen Ähnlichkeit von uns Herdentieren untereinander irgendwas über die Welt folgt. Die Hoffnung, aus unserem pragmatischen Überleben etwas über dies hinweg postulieren zu können, ist ein ungedeckter Scheck und eine Art kulturalistischer Fehlschluss. Bereits der Dualismus von p und nicht-p, aus dem sich unsere Positionen bilden - das müsste Jörn eigentlich sofort als metaphysische Grundannahme entlarven. Warum bitte sollte ein Dualismus "in der Welt" sein, bloß weil wir Herdentiere es gern auf so etwas zusammendampfen, in unserer Hybris und unserem Geltungsdrang? Nebenbei kann ich mit einem ziemlich einfachen Gegenbeispiel sogar diese angebliche Regelhaftigkeit in Zweifel ziehen. Ich sprach weiter oben im Thread von "entweder materialistischer Monismus, idealistischer Monismus oder Substanzdualismus" und dass man sich mal entscheiden müsse. So wie ich das sehe, transzendiert diese Debatte bereits den skizzierten Dualismus. Oder nehmen wir das schon angedeutete Trilemma.

Desweiteren finde ich den Umgang mit einer behaupteten Wirklichkeit zumindest voreilig. Bloß weil wir Menschen tatsächlich so verfahren (müssen?), dass wir Gründe angeben, folgt erst mal rein gar nichts über den Menschen (streng genommen über nur ein paar Menschen) darüber hinaus, als dass dieser eben ein Herdentier ist, der einen bestimmten modus operandi hat. Mehr zu behaupten, daraus etwas über die beobachtete Welt zu sagen, wäre gleichbedeutend mit der These, dass die Quantenphysik im Kleinen das abbildet, was die Relativitätstheorie im Großen leistet. Daran scheitert die Physik seit Jahrzehnten zuverlässig, die Philosophie seit Jahrhunderten. Anders ausgedrückt: Ameisen brauchen keine Gründe, es ist unsere Behauptung, die wir niemals beweisen können und deren Rationalität daher stets spekulativ bleiben muss, dass sie aus diesen oder jenen Gründen einen Staat bilden. Ganz abgesehen von all den sprachlichen Implikationen, die wir wirklich besser nicht auch noch ins eh überkomplexe Kalkül ziehen sollten, zB was ein Staat ist, was "das Gute" jeweils ist, etc.

Die Rationalität ist ohnehin so eine Sache, ich will da noch mal genauer hinleuchten:

"Wir sind uns also über rationale Praktiken bereits einig geworden, dass und welche Argumente gelten und warum, bevor wir uns in einem Dissens wiederfinden können." (Original von Alethos) Das ist offensichtlich nicht der Fall. Schon die Behauptung, die zur Erklärung folgt, ist problematisch: "...tut der Objektivität keinen Abbruch, solange der Gegenstand des Diskurses ein objektiver ist, d.h. die argumentative Struktur einen Rahmen kennt, der die Regeln der diskursiven Praxis verbindlich absteckt." Objektivität ist also das, was im Diskurs Verbindlichkeit schafft? So wie ich das sehe, ist diese "Objektivität" nichts anderes als Intersubjektivität und der Trick verfängt nicht. Auch wenn man sich noch so viel Mühe gibt, sich aus der Metaebene herauszurechnen, wird man dennoch die Subjekt-Objekt-Schranke nicht durchbrechen! Mehr als Intersubjektivität ist nicht zu holen, die Rede von der Metaphysiklosigkeit und Rationalität bleibt Rhetorik.

Zu guter Letzt Leibniz: Ich habe in meiner Examensarbeit selber argumentiert, dass Leibniz auch mit vielen modern-physikalischen Argumenten stützbar wäre, aber ich musste mich eines Besseren belehren lassen. Das Zauberwort heißt hier Kontingenz. In der Physik könnte es auch immer anders gewesen sein, bei Leibniz geht das eben aufgrund der rationalistischen Prämisse "tertium non datur", auch als Satz des zureichenden Grundes bekannt, nicht. Leibniz kann seine Aporie selber nicht wirklich auflösen, wenn er argumentiert, dass einerseits Gott keine schlechtere Welt hätte schaffen können, weil seine Allgüte, Allmacht und Allwissenheit ihn zur Perfektion zwingen, er deshalb auch Freiheit in der Prästabilierung verorten muss, die jedoch nicht an der Vorsehung und/oder dem Weltenverlauf rütteln können darf. Man kann das auch als Spielart des Theodizeeproblems durchexerzieren, aber ich belasse es mal mit einem Hinweis auf Spinoza, der vor der nötigen Konsequenz nicht scheut. Will man nicht irgendwann in das Ungefähre, Vage, Performative ausweichen, so muss man sich halt mal entscheiden. Entweder man ist/hat eine Seele, dann ist man nicht frei, aber Spiegel der Ewigkeit oder man ist frei aber in einer bedeutungslosen (materialistischen?) Kontingenz. Sogar Kant, dessen Synthesis absolut zu Recht gerühmt wird, kann das nicht auflösen und meiner Meinung nach ist es ein eher schlechtes Zeichen für die gerühmte Rationalität, dass die von ihm eingeleitete kopernikanische Wende der Erkenntnistheorie immer noch nicht zur Einsicht in die Unerkennbarkeit des "Ding an sich" geführt hat. Möglicherweise halten die modernen Philosophen aber auch nur mal wieder die Kälte des Neonlichtes der Aufklärung nicht aus - und müssen metaphysischere, "objektivere"..., Behauptungen "rationalisieren". Das wäre nicht das erste Mal in der langen Geschichte der Philosophie.



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Jörn Budesheim
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So 29. Mär 2020, 19:16

Was verstehst du unter Metaphysik?




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Schimmermatt
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So 29. Mär 2020, 19:56

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 29. Mär 2020, 19:16
Was verstehst du unter Metaphysik?
Die Zusammenhänge, die Hintergründe, die besagen, weswegen die Welt so und so ist, bzw sich uns so und so darstellt.



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Jörn Budesheim
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Schimmermatt hat geschrieben :
So 29. Mär 2020, 19:04
Ameisen brauchen keine Gründe, es ist unsere Behauptung, die wir niemals beweisen können und deren Rationalität daher stets spekulativ bleiben muss, dass sie aus diesen oder jenen Gründen einen Staat bilden.
Ich für meinen Teil gehe nicht davon aus, dass Ameisen rational sind. Sie bauen daher einen Staat auch nicht aus Gründen. Ich lege hier skizzenhaft mein Verständnis von Gründen dar: Gründe sind Tatsachen, die für etwas sprechen. Gründe sind also etwas normatives. Freie Wesen (wie wir) können sich zu Gründen verhalten, z.b. indem sie diese anerkennen.

Gründe sind in dieser Sichtweise nicht subjektiv. Nehmen wir ein aktuelles Beispiel. Im Moment wird viel darüber diskutiert, ob wir die Masken tragen sollten. Dabei werden viele verschiedene Umstände gegeneinander abgewogen. Dabei fragt es sich auch, ob die Masken, wie z.b. von Trigema hergestellt werden, überhaupt die Infizierung bekämpfen können. Das entscheidet sich (neben anderem) an der Materialbeschaffenheit. Wenn die Masken von der Beschaffenheit so sind, dass sie die Infizierung verhindern, spräche das natürlich dafür, sie zu nutzen. Das ist natürlich nichts subjektives.

An diesem Beispiel sieht man auch sehr schön, dass Gründe keine Ursachen sind. Denn falls tatsächlich vieles für das Tragen der Masken sprechen würde, wäre das Tragen damit nicht schon bei jedem verursacht.

Gründe liegen in dieser Sichtweise immer in der Sache. Wenn wir in Gefahr sind, haben wir Gründe uns zu schützen. Wenn wir in Not sind, haben andere Gründe uns zu helfen. Wenn wir durstig sind, haben wir Gründe etwas zu trinken. In der Regel werden jedoch Situationen nicht durch einen einzigen Grund "festgelegt". Wir können Gründe zu trinken haben, aber noch stärkere Gründe, darauf zu verzichten, etwa weil wir zu einer ärztlichen Behandlung nüchtern kommen sollen.

Wir sind deswegen rationale Wesen, weil wir solche Gründe erkennen und anerkennen können, jedoch nicht müssen. Wir können auch gegen alle Gründe handeln oder uns von den Gründen leiten lassen, die die schwächsten sind.

Was man hier auf keinen Fall verwechseln sollte, ist das "ermitteln" von Gründen und die Gründe selbst. Ich kann versuchen, herauszufinden, nach welchen Gründen ich handeln sollte, aber ich kann nicht darin irren.




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So 29. Mär 2020, 20:12

Ja, gut und schön, ich bestreite nicht, dass es Gründe gibt und dass Leute welche angeben. Aber ich bestreite erstens, dass Leute ihre Handlungen aufgrund von Gründen ausführen, bzw halte dies bereits für eine metaphysische Annahme über die Natur des Menschen und ich bestreite zweitens, dass es eine Qualitätsunterscheidung innerhalb des Reichs der Gründe geben kann, ohne dass man vom Ergebnis her argumentiert, welches man aber jeweils nicht im Vorhinein kennen kann und vor allem bestreite ich drittens, dass ein intersubjektiver Diskurs irgendeine Objektivität beanspruchen kann.



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Jörn Budesheim
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So 29. Mär 2020, 20:15

Es tut mir leid, ich verstehe nach wie vor nicht was du unter Metaphysik verstehst.




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So 29. Mär 2020, 20:22

Hmmm, ich verstehe nicht, was daran so unverständlich ist. Meine Sprache hat in punkto Präzision gelitten, das sehe ich selber, aber so sehr? Nun, wahrscheinlich schon.



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Alethos
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So 29. Mär 2020, 20:27

Schimmermatt hat geschrieben :
So 29. Mär 2020, 19:04
"Wir sind uns also über rationale Praktiken bereits einig geworden, dass und welche Argumente gelten und warum, bevor wir uns in einem Dissens wiederfinden können." (Original von Alethos) Das ist offensichtlich nicht der Fall. Schon die Behauptung, die zur Erklärung folgt, ist problematisch: "...tut der Objektivität keinen Abbruch, solange der Gegenstand des Diskurses ein objektiver ist, d.h. die argumentative Struktur einen Rahmen kennt, der die Regeln der diskursiven Praxis verbindlich absteckt." Objektivität ist also das, was im Diskurs Verbindlichkeit schafft? So wie ich das sehe, ist diese "Objektivität" nichts anderes als Intersubjektivität und der Trick verfängt nicht. Auch wenn man sich noch so viel Mühe gibt, sich aus der Metaebene herauszurechnen, wird man dennoch die Subjekt-Objekt-Schranke nicht durchbrechen! Mehr als Intersubjektivität ist nicht zu holen, die Rede von der Metaphysiklosigkeit und Rationalität bleibt Rhetorik.
Es ist Tatsache, dass es Subjekte gibt, die denken und Objekte gibt, die bedacht werden. Ein Tisch ist nicht dasselbe, wie der Gedanke an diesen Tisch. Der Tisch kann mich nicht denken, und ich kann diesen Tisch nicht denken, wenn er nicht ist. Auch wenn er nur ein gedachter Tisch ist, so wäre er doch nicht denkbar ohne ihn selbst. Er wäre immer das Bedachte und ich das Denkende. Der Tisch kommt also niemals vor als Tisch an sich, wie wollte er auch, das hat Kant verhindert. Mithin ist alles, was uns je erscheinen kann, ein Gegebenes. Alles, dem wir jemals das Attribut "objektiv" geben wollten, ist nur aus der Warte zu haben, dass es für einen Jemand objektiv ist. Die Subjekt-Objekt-Schranke ist nicht zu durchbrechen. Aber warum sollte sich überhaupt durchbrochen werden können, um zu behaupten, dass etwas an und für sich wahr sei?

Es ist nicht einmal wahr, an sich, dass das ein Tisch ist, der dort steht: Denn Tischsein das geht einher mit einer Funktion, die wir attribuieren. Nichts in der subjektlosen Wirklichkeit würde dem Tisch auferlegen, Tisch zu sein, wenn da nicht Subjekte wären, die gelegentlich an Tischen speisen, schreiben oder malen. Und so kein Begriff überhaupt würde existieren, wenn wir sie nicht der Wirklichkeit abzögen, indem wir definitorische Ordnung in die Vielfalt bringen. Aber deshalb ist doch nichts falsch daran zu sagen, dass der Tisch objektiv, als Gegenstand und als Begriff, existiert. Und die Tatsache, dass ich oder andere Menschen es sind, die den Begriff haben und den Tisch sehen, ändert nichts daran, dass dem so ist.

Wenn nur im Kontext einer Theorie, in welcher Theoreme und Axiome so miteinander verwoben sind, das sich damit Welt explizieren lässt, eine Aussage über Welt gemacht werden kann, dann macht das aus dem Explizierten kein intersubjektives Konstrukt und auch keinen relativistischen Humbug. Besser gesagt: Dass ein bestimmter Bereich von Wirklichkeit eine intersubjektive oder relationale Dimension hat, das vermindert nicht unsere Fähigkeit, objektive Aussagen darüber machen zu können.. Es folgt aus der Tatsache, dass sich Welt nur im Rahmen von (Theorie-)Perspektiven beschreiben lässt nicht, dass es das Beschriebene in dieser perspektivischen Form an und für sich nicht gäbe. Natürlich ist es so, dass Phänomene in der Welt nur beschrieben werden können unter Zuhilfenahme von Begriffen und diese können nur im Lichte des Schemas (Kant: Schemata) erfasst werden, die der Verstand uns gibt. Aber warum sollte es nicht ontische Wahrheit sein, die hineinscheint in unsere Episteme? Was für einen Sinn würde es sonst denn machen von "Wahrscheinlichkeit" zu sprechen, wenn wir jeder Wahrscheinlichkeit den Schein rauben, mit dem sie in unsere Überzeugungen strahlt?

Nach der von Kant eingeleiteten subjektidealistischen Wende ist vieles geschehen, was uns möglich macht, das Subjektive zum Bestand des Wirklichen hinzuzuzählen. Anstatt es immer von allem Objektiven wegrechnen zu wollen, können wir es stattdessen zum Objektiven dazuzählen. Anders gesagt, kann man auch der folgenden Meinung sein: Es gehört zum ontischen Bestand, in subjektiv-objektiven Relationen vorzukommen. Es gehört bspw. zum Stein am Seegrund dazu, dass er womöglich durch mich oder dich gefunden werden kann. Es gehört nicht zwingend zum Wesen der bewusstseinsunabhängigen Dinge, dass wir sie erfassen, aber dass sie praktisch erfassbar sind, das schon. Zu behaupten, dass sich über diesen Stein objektiv nichts sagen lasse, weil objektiv niemals sein könne, was einen Restbestand an subjektivem Kolorit hat, das halte ich nur für ein Manöver, um einen Skeptizismus zu befeuern, dem längst die Puste ausgegangen ist :)

Was bleibt uns also zu tun? Wir sollten uns vom Phantasma lösen, dass die Optionen Substanzdualismus oder materieller resp. idealistischer Monismus praktikable Optionen sind. Wir haben es mit einem objektiven Geist zu tun, der so sehr mit der Welt verbunden ist, ja in einem relevanten Sinne Teil von ihr ist, dass es sich nicht wirklich lohnt, das zu bezweifeln. Allein die Tatsache, dass ich hier diese Zeilen schreibe, die physisch sind, die Gedanken repräsentieren, die nicht physisch sind, sollte jedem Substanzdualismus den Garaus machen. Und dass die Konsequenz nicht lauten kann, alles sei Materie, muss ebenso einleuchten: Wie wollte denn die Tatsache, dass ich diese Zeilen schreibe, jemals etwas Materielles sein? Also sowohl Substanzdualismus wie auch Materialismus versagen bei der Beschreibung unserer einfachsten Welterfahrungen. Bleibt also der idealistische Monismus als möglicher Kandidat. Und selbst, wenn er sich in solipsistischen Gewand präsentierte, so käme er nicht umhin zu bezeugen, dass eine staatliche Institution etwas anderes ist als ein geologisches Objekt. Selbst, wenn alles nur ideale Konstruktion wäre, so bliebe doch immer noch jedem Ding sein Sein als dieses Ding. Es wäre wahr, dass die Bundeskanzlerin ein Rechtsobjekt und der Stein ein geologisches Objekt ist, denn auch, wenn alles Geist wäre, so wäre doch dennoch a von b verschieden. Und so führen doch alle diese Gedanken dazu folgendes zu denken: Es gibt Wirklichkeit und in ihr kommen objektive Dinge vor. Und alle Aussagen, die diese Dinge zum Gegenstand machen, sind objektive Aussagen: Sie können wahr oder falsch sein oder aber kontingente Wahrheitswerte haben.
Zuletzt geändert von Alethos am So 29. Mär 2020, 20:31, insgesamt 1-mal geändert.



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So 29. Mär 2020, 20:28

@Schimmermatt: Vielleicht erklärst du an einem Beispiel, worum es geht. Warum oder in welcher Hinsicht ist es bereits Metaphysik, wenn ich annehme, dass sich Menschen an Gründen orientieren können?




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Alethos, ich sehe vor allem der Behauptung, man könne etwas wissen, seit ca. zweieinhalb Jahrtausenden die Puste ausgehen. Deine Rede ist für mich beredtes Zeugnis der Unbestreitbarkeit von "Etwas ist" und dann rechnest Du für meine Begriffe noch das "Ich" in das "Etwas" hinein und zwar rein aufgrund performativer und pragmatischer Aspekte, sprichst erst davon, das Sprachgedöns außen vor zu lassen um es dann doch zu reaktivieren und bist meiner Meinung nach ein verdammt guter Advokat eines recht umfassenden Skeptizismus. Wenn der neue Realismus so skeptisch ist, dann ist die heutige Philosophie im Endstadium der Reife angekommen. Sie hält ihren Pessimismus ganz tapfer aus, denn sie erkennt ihn nicht mal mehr als pessimistisch an. Stichwort: die Subjekt-Objekt-Schranke ist nicht zu durchbrechen. Damit gerinnt alles nur noch zu reiner Form, denn an Inhalt ist nicht mehr ran zu kommen. Lass uns in Metaebenen schwelgen, von denen wir tapfer behaupten, es seien gar keine, wir seien mitten in der Objektwelt!

@ Jörn: Du weißt doch zB gar nicht, weshalb ich hier schreibe. Es ist spekulativ, dass meine Behauptung "Weil mich Philosophie interessiert" stimmt. Ich behauptete ja, dass ich schreibe, weil ich "was tun müsse, zwischen den Mahlzeiten". Egal, die Behauptung, ich müsse eine Volition, Motivation, was auch immer haben, ist eine der Spekulation über mein So-und-so-Sein als Mensch geschuldete Behauptung, die man glauben oder nicht glauben kann. Etwa wie die Behauptung mancher, man müsse eine Seele haben. Anthropologie, Metaphysik, was soll ich dazu sagen?



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So 29. Mär 2020, 21:45

Nun, dann haben wir die nächste Frage: ich habe keine Idee, was du mit Spekulation meinst. Wenn ich jemanden frage, warum bist du hier und er gibt mir darauf eine Antwort, die ich für bare Münze nehme, dann spekuliere ich ja nicht.

Außerdem gehe ich nicht davon aus, dass Motive und Gründe dasselbe sind.




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Wer von uns ist hier eigentlich der Skeptiker, der die Kommunikation scheitern sieht? ;-)



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Wenn ich ein Skeptiker wäre, würde ich erst gar nicht versuchen, die Dinge zu klären :)




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Schimmermatt hat geschrieben :
So 29. Mär 2020, 20:37
Deine Rede ist für mich beredtes Zeugnis der Unbestreitbarkeit von "Etwas ist" und dann rechnest Du für meine Begriffe noch das "Ich" in das "Etwas" hinein und zwar rein aufgrund performativer und pragmatischer Aspekte, sprichst erst davon, das Sprachgedöns außen vor zu lassen um es dann doch zu reaktivieren und bist meiner Meinung nach ein verdammt guter Advokat eines recht umfassenden Skeptizismus.
Wenn es etwas gibt, das Philosophen ganz gut können, dann über eine grosse Vielfalt von Dingen zu verstrickten Missverständnissen zu kommen. :)

Meine Rede war keine Fürsprache für das "Etwas ist", sondern für ein Verständnis von Einzeldingen als spezifische, ontologisch vollwertige Seiende. Bei meinen Überlegungen setze ich jedoch voraus, dass Aussagen über Dinge und Sachverhalte nicht zu haben sind ohne jene, die diese Aussagen machen. Wir können über Gegenstände und die Tatsachen, in denen sie vorkommen, nicht sinnvoll reden, wenn wir sie uns nicht so vorstellen, als stünden sie mit unserer Episteme in Verbindung. Unserer Art und Weise, Welt zu erfassen, ist massgeblich, ja, konstitutiv geprägt durch unsere begrifflichen Zugänge zu ihr. Alles, was wir über Welt wissen können (und wir können wissen), verläuft im Rahmen dieser Begriffe und Sensoriken, die wir explizit ausgebildet haben, um auf Welt und Umwelt zu reagieren. Es wäre doch recht bizarr zu denken, wir hätten alle diese Sinnes- und Denkvermögen ausgebildet, um immer im Zweifel darüber zu sein, was um uns vor sich geht? :)

Nun, einmal angenommen, es verhält sich so mit unserem Erkennen, dass es ein Erkennen ist unter Zuhilfenahme der Instrumente wie Theorien, Sinnesdaten, Messungen etc. und dass wir über Repräsentationen zu Ansichten über die Welt gelangen: Was ist falsch daran, diese Ansichten, für die wir gute Gründe haben, für objektives Wissen zu halten?



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Di 31. Mär 2020, 06:46

Alethos hat geschrieben :
So 29. Mär 2020, 20:27
Es ist nicht einmal wahr, an sich, dass das ein Tisch ist, der dort steht: Denn Tischsein das geht einher mit einer Funktion, die wir attribuieren. Nichts in der subjektlosen Wirklichkeit würde dem Tisch auferlegen, Tisch zu sein, wenn da nicht Subjekte wären, die gelegentlich an Tischen speisen, schreiben oder malen
Das scheint mir aber (zumindest fürs erste) der subjektlosen Wirklichkeit in irgendeiner Form einen Primat zuzuweisen. Aber warum? Der Tisch dort ist an sich ein Tisch. Wir haben ihn gemacht zu diesem Zweck und das gehört zu seinem Sein.

...............

Der Tisch ist in der Philosophie ja ein beliebtes Beispiel. Wir haben vor uns einen Tisch und man kann philosophisch die Zahl der Tische "beliebig" erhöhen. Von 0 auf 1000 in wenigen Sekunden! Da kann kein Porsche mithalten.

Zunächst haben wir da die Behauptung, es gäbe im Grunde überhaupt keine Tische (siehe ähnlich oben). Der Philosoph Graham Harman startet in seinem Buch "der dritte Tisch" zunächst mit zwei Tischen. Dazu lässt er im ersten Schritt einen Naturwissenschaftler auftreten, der uns erläutert, dass wir dort gewissermaßen einen lebensweltlichen Tisch haben, also so wie er uns im Alltag erscheint und zu nutzen ist. Dann "zeigt" der Naturwissenschaftler natürlich, dass wir dort eigentlich nur den Tisch haben, sowie ihn die Naturwissenschaften untersuchen. Er ist "natürlich" ganz anders als er uns erscheint.

Graham Harman fügt dem einen dritten Tisch hinzu, der in seiner Tiefe einfach er selbst ist, sagen wir ein großes X. (Das ist jetzt nicht die exakte Harman Formulierung, es ist etwas her, dass ich das gelesen habe.)

Jetzt beschleunigen wir etwas: wie zitieren Markus Gabriel herbei, der uns erläutern würde, dass wir es dort mit 1000 Tischen zu tun haben, da "er" zu vielen verschiedenen Bereichen gehört.




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Alethos
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Di 31. Mär 2020, 10:18

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 31. Mär 2020, 06:46
Alethos hat geschrieben :
So 29. Mär 2020, 20:27
Es ist nicht einmal wahr, an sich, dass das ein Tisch ist, der dort steht: Denn Tischsein das geht einher mit einer Funktion, die wir attribuieren. Nichts in der subjektlosen Wirklichkeit würde dem Tisch auferlegen, Tisch zu sein, wenn da nicht Subjekte wären, die gelegentlich an Tischen speisen, schreiben oder malen
Das scheint mir aber (zumindest fürs erste) der subjektlosen Wirklichkeit in irgendeiner Form einen Primat zuzuweisen. Aber warum? Der Tisch dort ist an sich ein Tisch. Wir haben ihn gemacht zu diesem Zweck und das gehört zu seinem Sein.

...............

Der Tisch ist in der Philosophie ja ein beliebtes Beispiel. Wir haben vor uns einen Tisch und man kann philosophisch die Zahl der Tische "beliebig" erhöhen. Von 0 auf 1000 in wenigen Sekunden! Da kann kein Porsche mithalten.

Zunächst haben wir da die Behauptung, es gäbe im Grunde überhaupt keine Tische (siehe ähnlich oben). Der Philosoph Graham Harman startet in seinem Buch "der dritte Tisch" zunächst mit zwei Tischen. Dazu lässt er im ersten Schritt einen Naturwissenschaftler auftreten, der uns erläutert, dass wir dort gewissermaßen einen lebensweltlichen Tisch haben, also so wie er uns im Alltag erscheint und zu nutzen ist. Dann "zeigt" der Naturwissenschaftler natürlich, dass wir dort eigentlich nur den Tisch haben, sowie ihn die Naturwissenschaften untersuchen. Er ist "natürlich" ganz anders als er uns erscheint.

Graham Harman fügt dem einen dritten Tisch hinzu, der in seiner Tiefe einfach er selbst ist, sagen wir ein großes X. (Das ist jetzt nicht die exakte Harman Formulierung, es ist etwas her, dass ich das gelesen habe.)

Jetzt beschleunigen wir etwas: wie zitieren Markus Gabriel herbei, der uns erläutern würde, dass wir es dort mit 1000 Tischen zu tun haben, da "er" zu vielen verschiedenen Bereichen gehört.
Es gilt zunächst festzuhalten, dass sich die Aussage: "Es ist nicht einmal wahr, an sich, dass dort ein Tisch steht" auf das Tischwerden des Gegenstands bezieht. Ein Tisch wird nicht Tisch durch sich selbst, sondern weil wir ihm diese Funktion zuschreiben. Daher besagt die Aussage nicht, dass es den Tisch an sich nicht gäbe, denn es gibt ihn an sich: Er ist Tisch durch sich selbst, sobald er Tisch ist. Aber er wird nicht Tisch durch sich selbst, sondern durch Funktionszuschreibungen von Subjekten. Einmal Tischgeworden ist er Tisch an sich und es ist wahr, an sich, dass dort ein Tisch steht.

Und ja, er ist nicht nur Tisch in einem Sinne allein, er ist Tisch in vielfältiger Weise: als Gegenstand in einem Wohnzimmer, als Ort, wo sich Familiengeschichten abspielen, als intentionales Objekt in Gedanken, als gemaltes oder gezeichnetes Objekt etc.



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Alle lächeln in derselben Sprache.

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