Nichts

Raum für Besprechung von Romanen, Gedichten und Geschichten
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Jörn Budesheim
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Sa 24. Okt 2020, 12:56

RICHARD ANDERS
Nichts

https://www.lyrikline.org/de/gedichte/nichts-3700

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* 25.04.1928, Ortelsburg [heute Szczytno/PL], Deutschland
† 24.06.2012, Berlin, Deutschland

Richard Anders, geboren 1928 in Ortelsburg in Ostpreußen (heute Szczytno, Polen), ist Lyriker, Prosaautor und Essayist.

Er studierte nach Militärdienst und Kriegsgefangenschaft 1953-59 Germanistik in Münster und Hamburg. Erste Veröffentlichungen folgten 1953/54 in der Zeitschrift ‚Zwischen den Kriegen’. 1962-1964 lehrte Anders Deutsch an der Universität Zagreb, wo er mit dem kroatischen Dichter Radovan Ivsic zusammentraf, der ihn in die Pariser Surrealistengruppe um André Breton einlud. Die Auseinandersetzung mit Bretons Surrealismus wurde zum wichtigen Einfluss für Richard Anders.




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Jörn Budesheim
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Sa 24. Okt 2020, 13:07

Das Gedicht gefällt mir außerordentlich, ohne dass ich genau sagen könnte, warum. Ich frage mich, ob das Gedicht seiner eigene Entstehung beschreibt? Was meint ihr?




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Jörn Budesheim
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Sa 24. Okt 2020, 14:03

Wer ist in diesem Gedicht "du"? Nach meinem Gefühl ist der Dichter hier im Selbstgespräch... das Du drückt, wenn man so sagen darf, eine gewisse Selbstdistanz aus, eine reflexive Stimmung, die aber, nach meiner Empfindung, ib einen starken Kontrast mit der ersten Strophe steht. Da schaut der Autor ohne Rumpf und Gesicht augenlos aufs Meer. Das ist für mich ein Bild dafür, dass man in dieser Erfahrung, die jede Person, die am Meer schon mal stand, vermutlich gemacht hat, gleichsam verschwindet ...




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NaWennDuMeinst
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Sa 24. Okt 2020, 14:57

Hm. Ich versuche noch dem Gedicht eine Deutung zu geben.
Für mich klingt es ein bißchen nach einem Schöpfungsakt.
Die Genesis kam mir in den Sinn. Wobei ich hier eher einen geistigen Schöpfungsakt sehe.
Die Erschaffung einer geistigen Welt, vielleicht die Entstehung einer Idee aus dem Nichts.



But I, being poor, have only my dreams; I have spread my dreams under your feet;
Tread softly because you tread on my dreams.
(William Butler Yeats)

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Jörn Budesheim
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Sa 24. Okt 2020, 15:49

Dann wäre "du" der (oder ein) Schöpfer?




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NaWennDuMeinst
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Sa 24. Okt 2020, 17:50

Ja. Wobei ich nach nochmaligem Lesen auch die Vorstellung entwickle, dass sich der Schöpfer auch selber erschafft (oder neu definiert).

Auf jeden Fall entsteht für mich etwas Neues.
Wir haben da zuerst die Leere (Himmel randvoll mit nichts), oder eine wüste Einöde (ausgebranntes Haus).

Und dann gibt es da diesen Schöpfungsakt.

Denkst du dir für den Blick
Einen Kopf aus


Und dann entsteht etwas:
bis das Erdachte schäumt

Aber wie das so mit Gedichten ist: Je öfter ich es lese, desto mehr Deutungsmöglichkeiten eröffnen sich.



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Jörn Budesheim
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Ich verstehe die zweite Strophe, wo er sich den Kopf "ausdenkt" so, dass er bei der dichterischen Rekonstruktion der Meer-Erfahrung auf bekannte Muster zurückgreift, die aber in der Erfahrung so gar nicht vorlagen.

Die erste Erfahrung ist eine grenzenlose Einheitserfahrung und dann kehrt er zurück in das Viereck des Schreibens und presst diesen Erfahrungen die alten Kategorien auf.




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Jörn Budesheim
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Wie soll man den Begriff "ausgebrannt" lesen? Man spricht doch auch von einem ausgebrannten Geist... Ein Dichter könnte von sich selbst sagen, dass er ausgebrannt ist, wenn ihm die Inspiration fehlt?

Wenn ich das als Ausgangspunkt nehme, dann komme ich zu einer "ganz" anderen Interpretation. Dann wäre der erste Blick auf das Meer leer ... Und nur die letzte Strophe, das "Schäumen" wäre positiv?




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Jörn Budesheim
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"Das reine Sein und das reine Nichts ist also dasselbe." (Hegel)
"Sinn und Geschmack für das Unendliche" (Friedrich Schleiermacher)


... sich für den Blick einen Kopf ausdenken, das kann doch auch heißen dass man versucht, ihn (den Blick) in einer gewissen Art und Weise zu verorten, zu fixieren, festzuhalten. Ich stelle mir das ungefähr so vor: eigentlich hatte man eine Erfahrung der Grenzenlosigkeit, eine dieser wunderbaren Einheits-Erfahrungen, die man manchmal am Meer haben kann, wo der "Geschmack für das Unendliche" zum Zuge kommt. Der Blick ist dann gewissermaßen nicht hier, nicht da, nicht dort, sondern irgendwie überall. Und zurück im ausgebrannten Haus, denkt man sich dann für diese Erfahrung einen Kopf aus, heißt: man versucht, sie gemäß der üblichen Vorstellungen zu ordnen ...




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Jörn Budesheim
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NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Sa 24. Okt 2020, 17:50
Ja. Wobei ich nach nochmaligem Lesen auch die Vorstellung entwickle, dass sich der Schöpfer auch selber erschafft (oder neu definiert).
Ja, das kann gut sein.

Ich denke auch, dass es nicht zu weit hergeholt ist, hier sogar an Venus, die Schaumgeborene zu denken! Dann hätte man gewissermaßen eine Art Dreischritt:

Sein und Nichts

Das ausgebrannte Haus

Der Schaum




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Jörn Budesheim
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Kleine Randbemerkung: in den beiden ersten Strophen beginnt jede Zeile mit einem großen Buchstaben, das ändert sich erst in der letzten Strophe...




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RICHARD ANDERS hat geschrieben : Im ausgebrannten Haus
Johann Wolfgang von Goethe hat geschrieben : Ärzte
Wissen möchtet ihr gern die geheime Struktur des Gebäudes,
Und ihr wählt den Moment, wenn es in Flammen gerät.
Zu weit hergeholt? Als ich das Zitat von Goethe heute (zum ersten mal) gesehen habe, musste ich (nach ein paar Momenten) an das Gedicht denken.




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