Was sind Begriffe - was ist Begriffs-Realismus?

Hier geht es einerseits um die Erörterung logischer Grundstrukturen in der Philosophie und andererseits um Sprachanalyse als philosophische Methode, Theorien der Referenz und Bedeutung, Sprechakttheorien u.ä.
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Quk
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Fr 3. Mai 2024, 09:23

Consul hat geschrieben :
Fr 3. Mai 2024, 09:12
Aus der Sicht des reduktiven Materialismus ist Psychosomatik eigentlich Neurosomatik, d.h. es geht um Wechselwirkungen zwischen dem Nervensystem (insbesondere dem zentralen) und dem Rest des Körpers.
Wozu brauchen Materialisten eigentlich Gefühle, Sinneseindrücke, Empfindungen? Wozu müssen Nerven solche unnötigen Nebensachen produzieren, wenn die Körperteile ohnehin mit sich selbst auskommen?




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Jörn Budesheim
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Fr 3. Mai 2024, 09:54

Auf diese Frage gibt es wahrscheinlich verschiedene Antworten. Die radikalste ist, dass Bewusstsein im Grunde eine Illusion ist. Kaum weniger radikal ist die Vorstellung, dass es sich um ein Epiphänomen handelt, also um etwas, das sozusagen als "Abfallprodukt" entsteht, aber keinen Einfluss auf das Geschehen hat. Alles Qualitative wird beiseitegeschoben.




Burkart
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Fr 3. Mai 2024, 21:47

Materie ist einfach die Grundlagen alles Seienden, der Mensch ist mit bzw. auf ihr aufgebaut samt seiner Gefühle usw.
Wo ist das Problem? :)

Gefühle u.ä. sind natürlich komplexe Dinge, die sich nur halbwegs sinnvoll über mehrere Ebenen gut erklären lassen mit der Materie als Grundlage und immer komplexe Strukturen darauf aufbauend.
Dabei sind Gefühle aber kein Abfallprodukt im negativen Sinne, sondern einfach nur eine höhere bzw. komplexere Ebene, begrifflich so, dass wir damit etwas anfangen können.



Der Mensch als Philosophierender ist Ausgangspunkt aller Philosophie.
Die Philosophie eines Menschen kann durch Andere fahrlässig missverstanden oder gezielt diskreditiert oder gar ganz ignoriert werden, u.a. um eine eigene Meinung durchsetzen zu wollen.

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Consul
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Fr 3. Mai 2024, 23:50

Quk hat geschrieben :
Fr 3. Mai 2024, 09:23
Wozu brauchen Materialisten eigentlich Gefühle, Sinneseindrücke, Empfindungen? Wozu müssen Nerven solche unnötigen Nebensachen produzieren, wenn die Körperteile ohnehin mit sich selbst auskommen?
"[Es ist] aber zunächst geboten, auch die materialistischen Philosophen zu einer genauen Feststellung ihrer eigentlichen Behauptung anzuhalten. Auch bei ihnen begegnet man regelmäßig verschiedenen Formeln, die als gleichbedeutende gebraucht werden. Man kann sie auf zwei Grundformen zurückführen. 1) Bewusstseinsvorgänge sind Wirkungen physischer Vorgänge; 2) Bewusstseinsvorgänge sind an sich, oder objektiv betrachtet, nichts anderes als physische Vorgänge im Gehirn. Beide Formeln gehen bei unseren materialistischen Schriftstellern beständig durcheinander."

(Paulsen, Friedrich. Einleitung in die Philosophie. Berlin: W. Hertz, 1892. S. 84)
Gerardus Heymans (Einleitung in die Metaphysik, 1911) nennt 1 den kausativen Materialismus und 2 den äquativen Materialismus. Das entspricht der Unterscheidung von nichtreduktivem Materialismus und reduktivem Materialismus. Ersterer kann den Epiphänomenalismus meiner Meinung nach nicht vermeiden, aber letzterer sehr wohl; denn wenn Bewusstseinsvorgänge an sich nichts anderes als Nervenvorgänge sind—sodass das Verhältnis nicht Kausalität, sondern Identität ist—, dann sind sie keineswegs epiphänomenal, d.i. wirkungslos.
Die Frage nach der natürlichen Funktion des Bewusstseins von Lebewesen lässt sich nur im (neuro-)biologischen Kontext beantworten. Bewusstsein erweitert vor allem die kognitiven Fähigkeiten eines Organismus und ermöglicht damit flexiblere und kompliziertere Weisen der Verhaltenssteuerung und -anpassung.

* Consciousness > The functional question: Why does consciousness exist?



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Consul
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Sa 4. Mai 2024, 00:00

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 3. Mai 2024, 09:54
Auf diese Frage gibt es wahrscheinlich verschiedene Antworten. Die radikalste ist, dass Bewusstsein im Grunde eine Illusion ist. Kaum weniger radikal ist die Vorstellung, dass es sich um ein Epiphänomen handelt, also um etwas, das sozusagen als "Abfallprodukt" entsteht, aber keinen Einfluss auf das Geschehen hat. Alles Qualitative wird beiseitegeschoben.
Epiphänomenale Qualia sind nichtsdestoweniger Qualia, d.i. phänomenale Qualitäten.

Das ontologische Verhältnis von Qualitäten und Quantitäten ist ein Thema für sich; aber es ist jedenfalls anzumerken, dass es nicht zutrifft, dass alle Materialisten psychische oder physische Qualitäten "beiseiteschieben".



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Quk
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Sa 4. Mai 2024, 01:47

Consul hat geschrieben :
Fr 3. Mai 2024, 23:50
Bewusstsein erweitert vor allem die kognitiven Fähigkeiten eines Organismus und ermöglicht damit flexiblere und kompliziertere Weisen der Verhaltenssteuerung und -anpassung.
Genau.

Und damit das Bewusstsein jene Fähigkeiten erweitern kann, muss es schließlich auch Einfluss ausüben können. Das heißt, der Geistesgehalt verpufft nicht, sondern bewirkt etwas im Körper. Nun mag der Materialismus sagen, dass dennoch am Anfang etwas körperliches sei, was den Geist füttere, welcher wiederum einen Körper füttere. -- Illustration: Luft und Lunge seien Körperlichkeiten und die Nase sei eine Geistigkeit; Luft strömt durch die Nase, die filtert, und die veränderte Luft gelangt in die Lunge. Der Geist als Filter, als Lupe, als Farbgeber, als Tongeber, als Sieb, kurz: als Qualia-Macher, zur Verbesserung der Erkennung relevanter Daten. In diesem Dreiergespann -- Körper > Geist > Körper -- kann der Materialismus sagen, trotz allem stünde am Anfang immer etwas körperliches. Dagegen behaupte ich, es gibt keinen Grund zur Annahme, dass dies stetig der Fall sein muss. Dabei habe ich noch nicht einmal echte Zufälle erwähnt, die im Geist geschehen können und keine kausale Verbindung mit dem anfänglichen Input vom Körper haben müssen.




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Consul
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Sa 4. Mai 2024, 03:04

Consul hat geschrieben :
Sa 4. Mai 2024, 00:00
Epiphänomenale Qualia sind nichtsdestoweniger Qualia, d.i. phänomenale Qualitäten.
Was die Funktion des Bewusstseins anbelangt, so müssen wirkungslose Empfindungen nicht nutzlos sein; denn sie können einem Lebewesen auch dann als nützliche innere Informationsquelle dienen, wenn sie selbst nichts verursachen.

Ein bekannter Einwand ist, dass wir zu epiphänomenalen Qualia keinen introspektiven (perzeptiv-kognitiven) Zugang hätten. Wenn dies wahr wäre, dann könnte ein Lebewesen deren Informations- oder Repräsentationsgehalt freilich nicht abschöpfen und nutzen. Es ist aber nicht wahr, denn der geistige Zugang zu epiphänomenalen Qualia würde von nichtepiphänomenalen kognitiven Modulen im Gehirn ermöglicht werden.



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Consul
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Sa 4. Mai 2024, 03:13

Burkart hat geschrieben :
Fr 3. Mai 2024, 21:47
Materie ist einfach die Grundlagen alles Seienden, der Mensch ist mit bzw. auf ihr aufgebaut samt seiner Gefühle usw.
Wo ist das Problem?
Wenn es abstrakte Gegenstände wie verdinglichte Bedeutungen (fregesche Sinne) von Wörtern oder Sätzen gäbe, dann wäre die Materie nicht deren Grundlage. Denn wie könnten rein materielle Vorgänge immaterielle Dinge hervorbringen, seien es immaterielle Abstrakta (die weder physisch noch psychisch beschaffen sind) oder immaterielle Konkreta (nichtphysische psychische Phänomene)?



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Quk
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Sa 4. Mai 2024, 03:44

Consul hat geschrieben :
Sa 4. Mai 2024, 03:04
... Empfindungen [...] können einem Lebewesen auch dann als nützliche innere Informationsquelle dienen, wenn sie selbst nichts verursachen.
Diese Aussage widerspricht sich selbst, denn das Dienen ist ein Prozess, das in einer Mitwirkung mündet. Die Quelle beeinflusst den Quellenbenutzer. Die Information dient, indem sie eben nicht ungebraucht verpufft.




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Consul
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Sa 4. Mai 2024, 04:46

Quk hat geschrieben :
Sa 4. Mai 2024, 03:44
Consul hat geschrieben :
Sa 4. Mai 2024, 03:04
... Empfindungen [...] können einem Lebewesen auch dann als nützliche innere Informationsquelle dienen, wenn sie selbst nichts verursachen.
Diese Aussage widerspricht sich selbst, denn das Dienen ist ein Prozess, das in einer Mitwirkung mündet. Die Quelle beeinflusst den Quellenbenutzer. Die Information dient, indem sie eben nicht ungebraucht verpufft.
Nein, da ist kein Widerspruch. Denn epiphänomenale Qualia als Informationsquelle/-träger bezüglich dessen, was außerhalb oder innerhalb eines Lebewesens vor sich geht, können einen höchstens indirekt durch nichtepiphänomenale mentale Repräsentationen (Vorstellungen, Gedanken) beeinflussen, die infolge der nichtepiphänomenalen inneren Wahrnehmung der selbst nichts verursachenden Sinneseindrücke entstehen.

Es wäre selbstverständlich widersprüchlich zu sagen, dass epiphänomenale Qualia selbst ihr Wahrgenommenwerden und das Bilden entsprechender Vorstellungen bewirken oder verursachen; aber das sage ich ja nicht.
Ich sage dagegen etwas anderes, nämlich, dass die Annahme, dass der Gegenstand einer Wahrnehmung immer ursächlich an seinem Wahrgenommenwerden beteiligt ist, falsch ist.

Hier ist ein in sich stimmiges und deshalb mögliches Szenario aus der Sicht des Epiphänomenalismus:
Das Gehirnereignis G verursacht sowohl das wirkungslose Erlebnis E (z.B. eine Schmerzempfindung) als auch das wirkungsvolle Ereignis W der inneren Wahrnehmung (des inneren Bewusst-/Gewahrseins) von E, und W verursacht entsprechende Vorstellungen, Gedanken (z.B. "Ich bin verletzt") oder Verhaltensreaktionen (z.B. die sprachliche Äußerung "Aua!").

E
^
|
G —> W —> V



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Quk
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Sa 4. Mai 2024, 05:49

Eine Schmerzempfindung kann nicht wirkungslos sein. Sie bewirkt eine körperliche Regung.

Wirkungslos kann eine Schmerzempfindung nur in einer Hypothese sein oder in einer Ohnmacht, aber dann ist da ja auch kein Schmerz.




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Consul
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Sa 4. Mai 2024, 06:07

Quk hat geschrieben :
Sa 4. Mai 2024, 05:49
Eine Schmerzempfindung kann nicht wirkungslos sein. Sie bewirkt eine körperliche Regung.
Die Epiphänomenalisten (zu denen ich als äquativer/reduktiver Materialist nicht gehöre) sind anderer Meinung!
Daraus, dass auf eine Schmerzempfindung eine bestimmte körperliche Regung folgt, folgt nicht, dass ein (unmittelbarer) ursächlicher Zusammenhang besteht.
"It is supposed to be just obvious that the hurtfulness of pain is partly responsible for the subject seeking to avoid pain, saying ‘It hurts’ and so on. But, to reverse Hume, anything can fail to cause anything. No matter how often B follows A, and no matter how initially obvious the causality of the connection seems, the hypothesis that A causes B can be overturned by an over-arching theory which shows the two as distinct effects of a common underlying causal process."

(Jackson, Frank. "Epiphenomenal Qualia." Philosophical Quarterly 32 (1982): 127-36. p. 133)



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Jörn Budesheim
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Sa 4. Mai 2024, 07:17

Burkart hat geschrieben :
Fr 3. Mai 2024, 21:47
Materie ist einfach die Grundlagen alles Seienden, der Mensch ist mit bzw. auf ihr aufgebaut samt seiner Gefühle usw.
Wo ist das Problem? :)
Das Problem ist, dass es offensichtlich falsch ist.




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Jörn Budesheim
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Sa 4. Mai 2024, 07:22

Quk hat geschrieben :
Sa 4. Mai 2024, 05:49
Eine Schmerzempfindung kann nicht wirkungslos sein. Sie bewirkt eine körperliche Regung.
Oft wird der Epiphänomenalismus mit einer Metapher erläutert. Man stelle sich eine Dampfmaschine vor, der Dampf ist das Epiphänomen das für die Mechanismen in der Maschine keinerlei kausale Bedeutung hat, sondern nur als "Abfallprodukt" entsteht.




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Quk
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Sa 4. Mai 2024, 07:23

Consul hat geschrieben :
Sa 4. Mai 2024, 06:07
Quk hat geschrieben :
Sa 4. Mai 2024, 05:49
Eine Schmerzempfindung kann nicht wirkungslos sein. Sie bewirkt eine körperliche Regung.
Die Epiphänomenalisten (zu denen ich als äquativer/reduktiver Materialist nicht gehöre) sind anderer Meinung!
Daraus, dass auf eine Schmerzempfindung eine bestimmte körperliche Regung folgt, folgt nicht, dass ein (unmittelbarer) ursächlicher Zusammenhang besteht.
Gut, daran kann man glauben, ebenso wie man glauben kann, dass zwischen Funke und Waldbrand kein ursächlicher Zusammenhang besteht, denn selbst wenn zwölf Trilliarden Mal dies zusammenhänglich geschah, heißt es ja nicht, dass es beim nächsten Mal wieder so sein wird. Womit wir zur Wahrscheinlichkeit kommen, die mitbestimmt, welche These ich als am plausibelsten erachte. Man muss schon enorm viel Empirie ausblenden, um solche strikten materialistischen Thesen zu stützen. Bei einer derart extremen Ausblenderei kann ich aber auch gleich jedes Argument ausblenden und mich im bodenlosen Hokuspokus ganz auflösen, dort in der endlosen Beliebigkeit, wo nur noch zufällige Korreliererei herrscht und jegliche Kausalität Einbildung sei, -- so dann auch die Kausalität von Körper zu Körper, welche der strikte Materialismus dann aber wiederum nicht ausblenden will. Warum nicht? Einfach so. Weil mans glaubt.




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Quk
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Sa 4. Mai 2024, 07:34

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 4. Mai 2024, 07:22
Quk hat geschrieben :
Sa 4. Mai 2024, 05:49
Eine Schmerzempfindung kann nicht wirkungslos sein. Sie bewirkt eine körperliche Regung.
Oft wird der Epiphänomenalismus mit einer Metapher erläutert. Man stelle sich eine Dampfmaschine vor, der Dampf ist das Epiphänomen das für die Mechanismen in der Maschine keinerlei kausale Bedeutung hat, sondern nur als "Abfallprodukt" entsteht.
Das ist eine sehr schöne Metapher, denn sie offenbart die beschränkte Vorstellungskraft derer, die diese Metapher als Denkmodel verwenden.

Denn der Dampf, der aus einer Dampfmaschine strömt, ist alles andere als ein Abfallprodukt. Er ist ein essentieller Bestandteil dieses maschinellen Kreislaufs. Der Dampfaustritt verursacht, zusammen mit anderen Bestandteilen, ein Vakuum, welches weiteren Dampf aus dem Heizbereich ansaugt. Es gehört alles kausal zusammen. Wer so einen kausaltechnischen Zusammenhang nicht sehen kann, der kann freilich auch nicht den Fehler im Epiphänomenalismus sehen.

(Das ist jetzt adressiert an den Epiphänomenalismus, nicht an Consul und Jörn.)




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Jörn Budesheim
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Sa 4. Mai 2024, 07:51

Ich möchte darauf hinweisen, dass diese Versuche einen rationalen Kern haben. Es ist sinnvoll, eine Theorie wie den Materialismus gegen Einwände und störende Phänomene zu verteidigen und zu versuchen, sie in das Bild zu integrieren. Aber ich glaube, das hat Grenzen. Wenn es sich als unmöglich erweist, wichtige Phänomene in die Theorie zu integrieren, dann muss man irgendwann darüber nachdenken, die Theorie aufzugeben. Und ich glaube, an diesem Punkt sind wir längst, und das ist einer der Gründe, warum es so viele verschiedene Ansätze gibt, Bewusstsein anders als materialistisch zu erklären, weil letztlich alle Versuche, es in den Materialismus zu integrieren, bisher gescheitert sind.

Unabhängig davon, ob der Panpsychismus richtig oder plausibel ist, zeigt allein die Tatsache, dass er offensichtlich von vielen namhaften Wissenschaftlern in Betracht gezogen wird, viel. Wer hätte das vor ein oder zwei Jahrzehnten für möglich gehalten? Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass wir gerade einen Wendepunkt erleben.

Bewusstsein ist ja nicht das einzige Phänomen, das den Materialismus herausfordert, auch die abstrakten Formen der Mathematik gehören dazu und hier ist der Aspekt der Wahrheit der mathematischen Aussagen von größter Bedeutung.

Meiner Meinung nach gibt es noch viele andere Phänomene, die den Materialismus in Frage stellen (man muss eigentlich nur die Augen öffnen), z.B. soziale Phänomene. Jede Form von Normativität. Wenn Donald Trump aufgrund eines Gerichtsurteils ins Gefängnis kommt, was ich mir wünsche, dann kann man das meines Erachtens nicht rein materialistisch erklären. Hier müsste man vielleicht noch intensiver über das Zusammen- oder Ineinanderspiel von Bottom-up- und Top-down-Kausalitäten und deren Zusammenhang mit Normativität nachdenken.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Rationalität, d.h. die Beziehung des "Sprechens für". Das ist offensichtlich etwas ganz Reales und wohl nicht materialistisch zu erklären, allein schon wegen des normativen Moments.

Auch Bilder und Geschichten, die sinnhaft strukturiert sind und nicht einfach kausal, aber für unser Leben so wichtig sind, lassen sich meines Erachtens nicht materialistisch erklären.

Etc. Pp.




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Jörn Budesheim
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Sa 4. Mai 2024, 08:03

Wie wird man eigentlich Materialist? Was macht eine Theorie, die offensichtlich nichts mit unserer Erfahrung zu tun hat, so attraktiv, dass ihr so viele Menschen anhängen?

Eigentlich müsste ich die Antwort kennen, denn ich war sicher lange Materialist, wahrscheinlich Physikalist. Ich erinnere mich noch gut an Diskussionen, in der ich die Position vertrat, dass letztlich alles physikalisch sei. Aber ich weiß ehrlich gesagt nicht mehr, was mich dazu gebracht hat, wahrscheinlich war es kein reflexiver Prozess, man war einfach Materialist, weil es für einen aufgeklärten Menschen, glaube ich, als alternativlose Möglichkeit galt. Das ist wahrscheinlich auch einer der Gründe, warum Materialisten so schnell die Gotteskarte spielen, weil sie alle Abweichungen vom Materialismus als Esoterik, Spinnerei und irrationalen Glauben interpretieren.

(Inzwischen neige ich manchmal dazu, den Materialismus selbst als eine Form der Religion zu betrachten. An Gottes Stelle tritt dann wohl die G.U.T. Aber wie dem auch sei, der Materialismus ist mit Sicherheit keine bodenständige, diesseitige Sicht der Dinge, dazu muss er einfach viel zu viele Verrenkungen machen, um zu versuchen, die offensichtlichen Tatsachen zu integrieren. Das Ganze erinnert mich ein wenig an das geozentrische Weltbild. Um die abweichenden Beobachtungen zu erklären, mussten immer neue, immer "raffiniertere" Dinge wie Epizyklen oder was auch immer postuliert werden. Bis man schließlich das geozentrische Weltbild durch ein besseres ersetzte.)




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Consul
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Sa 4. Mai 2024, 08:50

Quk hat geschrieben :
Sa 4. Mai 2024, 07:23
Gut, daran kann man glauben, ebenso wie man glauben kann, dass zwischen Funke und Waldbrand kein ursächlicher Zusammenhang besteht, denn selbst wenn zwölf Trilliarden Mal dies zusammenhänglich geschah, heißt es ja nicht, dass es beim nächsten Mal wieder so sein wird. Womit wir zur Wahrscheinlichkeit kommen, die mitbestimmt, welche These ich als am plausibelsten erachte. Man muss schon enorm viel Empirie ausblenden, um solche strikten materialistischen Thesen zu stützen.
Empirisch ist der (materialistische) Epiphänomenalismus mitnichten widerlegt.
"Overall, I think that epiphenomenalism is a coherent view without fatal problems. At the same time, it is an inelegant view, producing a fragmented picture of nature, in which physical and phenomenal properties are only very weakly integrated in the natural world. And, of course, it is a counterintuitive view that many people find difficult to accept. Inelegance and counterintuitiveness are better than incoherence, so if good arguments force us to epiphenomenalism as the most coherent view, then we should take it seriously. At the same time, however, we have good reasons to examine other views very carefully."
———
"Insgesamt denke ich, dass der Epiphänomenalismus ein kohärenter Standpunkt ohne verhängnisvolle Probleme ist. Gleichzeitig ist es ein uneleganter Standpunkt, der ein fragmentiertes Bild der Natur entwirft, in dem physische und phänomenale Eigenschaften nur sehr schwach in die natürliche Welt integriert sind. Und es ist natürlich ein kontraintuitiver Standpunkt, den zu akzeptieren viele Leute schwierig finden. Uneleganz und Kontraintuitivität sind besser als Inkohärenz, sodass wir ihn ernst nehmen sollten, wenn uns gute Argumente zum Epiphänomenalismus als der kohärentesten Ansicht treiben. Gleichzeitig haben wir jedoch gute Gründe, andere Ansichten sehr sorgfältig zu untersuchen."
[© meine Übers.]

(Chalmers, David J. "Consciousness and Its Place in Nature." In The Character of Consciousness, 103-139. Oxford: Oxford University Press, 2010. p. 132)



"Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst." – Juliane Werding

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Quk
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Sa 4. Mai 2024, 09:34

Consul hat geschrieben :
Sa 4. Mai 2024, 08:50

Empirisch ist der (materialistische) Epiphänomenalismus mitnichten widerlegt.
"Overall, I think that epiphenomenalism is a coherent view without fatal problems. At the same time, it is an inelegant view, producing a fragmented picture of nature, in which physical and phenomenal properties are only very weakly integrated in the natural world. And, of course, it is a counterintuitive view that many people find difficult to accept. Inelegance and counterintuitiveness are better than incoherence, so if good arguments force us to epiphenomenalism as the most coherent view, then we should take it seriously. At the same time, however, we have good reasons to examine other views very carefully."
(Chalmers, David J. "Consciousness and Its Place in Nature." In The Character of Consciousness, 103-139. Oxford: Oxford University Press, 2010. p. 132)
In Chalmers' Kommentar sehe ich keine Begründung für die epiphänomenalistische Ablehnung empirischer Gegenhinweise.

Das Wort "widerlegt" habe ich übrigens nicht geschrieben. Meiner Ansicht nach sind Thesen und Antithesen, besonders empirische, immer vorläufiges Vermutungswissen, im Popperschen Sinn. Ob eine Widerlegung die letzte ist, kann nie sicher sein. Daher benutze ich das Wort nicht. Ich nehme die Empirie (und die in ihr enthaltenen Wahrscheinlichkeiten bezüglich wiederholbaren Beobachtungen) als Hinweise darauf, wie plausibel eine These sein kann.




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