"Verstehen" - (wie sehr) ist es persönlich geprägt? (Und allgemein)

Hier geht es einerseits um die Erörterung logischer Grundstrukturen in der Philosophie und andererseits um Sprachanalyse als philosophische Methode, Theorien der Referenz und Bedeutung, Sprechakttheorien u.ä.
sybok
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Di 22. Nov 2022, 22:53

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 22. Nov 2022, 18:36
Ich spiele auch Schach. Die Entwickler von Alpha Zero würden mich mit ihrer Maschine natürlich immer schlagen, so wie sie jeden anderen Menschen auch schlagen würden. Aber dennoch gibt es meines Erachtens einen entscheidenden Unterschied zwischen mir und Alpha Zero, und nicht zwischen mir und dem Programmieren: ich spiele - im vollen Wortsinn. Ich möchte gewinnen und freue mich, wenn mir etwas gelingt, ich bin frustriert, wenn ich über eine Niederlagenserie quittieren muss, habe dennoch Spaß am Schach, möchte gerne besser werden, oder wenigstens nicht schlechter und so weiter und so fort. Ich erlebe das, was ich tue. Ich bin es, der das tut. Deswegen glaube ich nicht, dass ein Mensch das praktisch Gleiche macht wie Alpha Zero. Diese Aspekte kann man nicht einfach weglassen.
Da stimme ich dir eigentlich zu, deshalb schrieb ich aber ganz bewusst auch "algorithmisch betrachtet". Denn AlphaZero grenzt sich von der Implementierung her und meinem Eindruck nach daraus ergebend auch spielerisch qualitativ von anderen Engines wie beispielsweise Stockfish ab. Das zeigt sich doch auch bei der Betrachtung der Partien. Obwohl von der Spielstärke her völlig jenseits, kann man - selbst als Amateur - (vermeintlich) Strategien erkennen, etwa wenn es dem gegnerischen Läufer die Bewegungsfreiheit nimmt und solche Dinge - man kann das Spiel meinem Eindruck nach eher sozusagen mit menschlichen Denkkategorien aufladen. Stockfish andererseits spielt im Vergleich dazu teilweise völlig absurde Züge und steht dann 30 Züge später irgendwie "plötzlich" auf Sieg. Und das ist glaube ich, der Implementierung geschuldet. Sieht man sich diese an, glaube ich, spule ich als Mensch bei der Zugwahl mehr oder weniger den gleichen Algorithmus ab.
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 22. Nov 2022, 18:36
Der Hauptunterschied für mich ist dementsprechend, dass sie nicht biologisch sind und daher nicht leben, so dass es für sie niemals um etwas geht. Weder im Kleinen noch im Großen. Ein früherer Freund von mir, der als Informatikprofessor gearbeitet hat, hat es mal so ausgedrückt: die Dinger werden nicht intelligent sein, solange sie nicht ein Leben führen (und womöglich sterben müssen). Eine andere eine Einschätzung, die in dieselbe Richtung geht, aber pointierter formuliert ist: sie werden nicht intelligent sein, solange sie keinen Sex haben können.

Weil sie nicht leben, und weil es für sie niemals um etwas geht, haben sie auch nicht den geringsten Grund, überhaupt irgendetwas zu tun, insbesondere nicht solche Dinge wie lernen, spielen, nachdenken etc. sie haben keine intrinsische Motivation zu all diesen Dingen, denke ich. Ich sehe auch keinen Anlass bisher, das zu vermuten.
Das kann sein, aber Überlegungen dieser Art sind ja tatsächlich strittig, da gibt es ja wie zwei Lager, zum Beispiel unter dem Stichwort "Embodiment".
Ich persönlich bin mir da unsicher, das halte ich auch für einen schwierigen Punkt, unklar und nebulös. Ich glaube zum Beispiel, oder könnte mir vorstellen, dass sich das dann irgendwie ergibt. Alles, was über den zeitlichen Horizont der natürlich ablaufenden chemischen und physikalischen Prozesse hin stabil sein "will", muss ja in irgendeiner Form gegen die Entropie ankämpfen. Wenn sozusagen der Computer selbst seine Ersatzteile besorgen und einbauen müsste und selbst sehen müsste, wie er an elektrische Energie herankommt, dann wäre das ja ein Beispiel für die Möglichkeiten für eine intrinsische Motivation.
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 22. Nov 2022, 18:36
Nach meinem Kenntnisstand, geht die Entwicklung in manchen Strängen auch in diese (biologische) Richtung. Wenn man das (was auch immer das im Detail bedeuten mag) erreicht, dann wird man wahrscheinlich auch unser mentalistisches Vokabular auf sie anwenden können. Zumindest ist es dann denkbar.

Aber es ist natürlich auch möglich, dass sich diese Dinger, wenn sie weiterhin im selben Tempo an Komplexität gewinnen, zu etwas entwickeln, was wir uns in unseren Träumen nicht ausmalen können, weil es vielleicht etwas ist, was es nie zuvor gab und zudem wir keinen Zugang haben werden. Uns unverständliche Aliens z.b. (Sei es nun positiv oder negativ für uns.) Auch das wäre dann ein Szenario, in dem es unangemessen wäre, unser mentalistischesVokalabular, was auf uns selbst und andere vergleichbar hochentwickelte Tiere zugeschnitten ist, anzuwenden. Denkbar wäre in diesem Fall sogar, dass wir es dann niemals zu einer angemessenen Sprache über sie bringen.

Oh, ich spreche aber immer mit solchen Situationen im Hinterkopf. Wenn ich von "KI" spreche, dann sehe ich ein hypothetisches Szenario, ein Objekt aus derzeitigen SciFi - Stories, sowas wie das Ding aus "I, Robot" oder Data aus Star Trek :) . Die heutigen Systeme würd ich auch als Lichtjahre davon entfernt ansehen und ihnen natürlich auch keine "Intelligenz" attestieren. Aber sie deuten meiner Meinung nach auch an, dass unsere mathematischen Modelle des Nervensystems, also letztlich Gehirn = informationstheoretische Maschine, funktionieren (oder zumindest in die richtige Richtung zeigen), dass Verhalten algorithmisch beschreibbar ist und vieles letztlich nichts weiter als (extrem hochdimensionale) Statistik ist.




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sybok hat geschrieben :
Di 22. Nov 2022, 22:53
... derzeitigen SciFi - Stories, sowas wie das Ding aus "I, Robot" oder Data aus Star Trek
Data kenne ich natürlich, da gibt es sogar eine Folge, die die Frage thematisiert. Ansonsten kann ich der Herangehensweise von Blade Runner 2 etwas abgewinnen, da sie anscheinend auch auf Leben setzen, soweit ich den Film richtig verstanden habe.




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Mi 23. Nov 2022, 18:28

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 22. Nov 2022, 06:33
Burkart hat geschrieben :
Di 22. Nov 2022, 00:12
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 21. Nov 2022, 20:39


Was soll das heißen?
Dass man hier zu Erkennung des Verkehrsschildes auf sein Wissen zurückgreifen muss.
Erstens: was hat das mit Reflektieren zu tun
Das sehe ich als einfache Form des Reflektierens an.
und zweitens: was besagt das nun in Bezug auf das, was wir an der fraglichen Stelle diskutiert haben?
Und was stand (bzw. worum ging es) an der für dich fraglichen Stelle?



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Mi 23. Nov 2022, 18:31

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 22. Nov 2022, 06:38
Burkart hat geschrieben :
Di 22. Nov 2022, 00:22
Wir haben also durch persönliche Prägungen verschiedene Interpretationen von Begrifflichkeiten.
Begriffe sind oft vage. Daraus folgt jedoch nicht, dass jede Verwendung korrekt ist.
Einverstanden.
Denn unsere die Begriffe sind in der Wirklichkeit verankert.
Mehr oder weniger, mal direkter, mal indirekter. Je indirekter, desto eher scheint mir ein Begriff tendenziell vage werden zu können. Aber natürlich nicht jede Verwendung sinnvoll, sagt ja auch keiner.
Begriffe werden manchmal verschieden interpretiert. Daraus folgt jedoch nicht, dass jede Interpretation korrekt ist.
So isses.



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Mi 23. Nov 2022, 18:35

Lucian Wing hat geschrieben :
Di 22. Nov 2022, 08:40
Burkart hat geschrieben :
Di 22. Nov 2022, 00:22
oder "Bewusstsein" (wollen wir den Begriff und seine Aspekte zwingend an Leben verknüpfen?).
Letztendlich geraten wir immer in die KI-Schleife.
Nicht unbedingt.
Für dich wäre aus meiner Sicht bei dieser Frage die Aufgabe, deine Definition von Bewusstsein zu erläutern, um den Begriff zu klären. Damit klar wird, ob es Anhaltspunkte dafür gibt, ihn auch auf nicht-bewusste Dinge anzuwenden.
Das wäre so ein Fall, wo ohne Klärung der Begriffsverwendung nichts geht. Aber damit führten wir bloß wieder die Diskussion aus dem KI-Strang fort.
"Bewusstsein" war nur ein Beispiel für das Verstehen hier, gerne eine (aus meiner Sicht) andere Perspektive auf diesen Begriff.
Man könnte genauso z.B. über das Verstehen von "Fairness" philosophieren, wollen wir?



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Mi 23. Nov 2022, 18:40

sybok hat geschrieben :
Di 22. Nov 2022, 09:57
Burkart hat geschrieben :
Sa 19. Nov 2022, 12:22
Kann man z.B. "1+1=2" überhaupt versehen oder lernt man es einfach auswendig? Was kann man daran verstehen?
Ich glaube, Verstehen ist ein iterativer Prozess und kein absolut erreichbarer Zustand. Ausserdem ist der Begriff mMn sehr stark kontextabhängig. Kann man Verständnisfragen in einem groben Kontext beantworten, wird dieser Kontext ausdifferenziert und vergrössert und neue Fragen stellen sich unmittelbar. Und das wird mit diesen neuen Fragen dann iterativ wiederholt. Wir können ausgehend von "1+1=2" in wenigen Sätzen auf Fragen stossen, die für die gesamte Menschheit noch offen sind, trotzdem ist 1+1=2 in einem simplen "Fingerrechnen"-Kontext natürlich "verstanden".
Völlig richtig, Verstehen ist so sehr relativ. Wenn ein Menschen etwas "verstanden" hat, ist insofern z.T. noch gar nicht klar, was eigentlich genau. Und wenn einer sagt, 1+1=2 stimmt nicht immer, ist das auch eine Interpretationsweise, abhängig vom persönlichen Verständnis.



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Burkart hat geschrieben :
Mi 23. Nov 2022, 18:40
Völlig richtig, Verstehen ist so sehr relativ.
Wie/wo hast du das dem zitierten Text entnommen?




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Mi 23. Nov 2022, 21:07

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 23. Nov 2022, 18:44
Burkart hat geschrieben :
Mi 23. Nov 2022, 18:40
Völlig richtig, Verstehen ist so sehr relativ.
Wie/wo hast du das dem zitierten Text entnommen?
"Verstehen ist ein iterativer Prozess und kein absolut erreichbarer Zustand."
"Ausserdem ist der Begriff mMn sehr stark kontextabhängig."
"Wir können ausgehend von "1+1=2" in wenigen Sätzen auf Fragen stossen, die für die gesamte Menschheit noch offen sind, trotzdem ist 1+1=2 in einem simplen "Fingerrechnen"-Kontext natürlich "verstanden". "
Ok, das letzte "verstanden" passt vielleicht nur bedingt, however...



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Ich sehe da nichts.




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sybok hat geschrieben :
So 20. Nov 2022, 08:30
Geb ich bei einer stable diffusion - Seite "Auto" ein, zeichnet die Maschine ein Auto, hat sie also verstanden was ein Auto ist?
Nein, es geht hierbei nicht um Auto, es geht nicht um eine Anweisung und es geht noch nicht einmal um Zeichnen.
Die Maschine führt lediglich eine zur Wertverteilung der Eingabe "passende" Reaktion durch und liefert eine Ausgabewertverteilung.
Zu keiner Zeit kommt es in der Maschine zu einem Objekt und Handlungsverständnis.
Neben der Beschränkung im Trainingsvorgang, der eine reine Einzelwertkonfrontation und -korrektur ist, gibt es zudem die Beschränkung auf Berechnungszusammenhänge, d.h. bei der Aktivität eines einzelnen Knotens geht es nur um einen Berechnungs-Beitrag.
Der einzelne Knoten stellt keinen Beitrag zu "das Ganze" dar, weder in Bezug auf "Objekt" noch auf "Handlung" (die für einen Menschen auch wieder ein Objekt ist).

Die Idee einer "Knoten basierten Aufteilung von mathematischen Zusammenhängen" funktioniert für Berechnungen, also für Ein- und Ausgaben, die (aus Sicht des Menschen) auf Zahlen-Werten basieren.
Es gibt dabei aber keinerlei "für die Maschine ist es so und so", d.h. die Maschine geht nicht mit Zahlenwerten um ("Zahlenwert" wäre ja "ein Ganzes").

Wichtig:
Wenn es an den Knoten prinzipiell nicht um "das Ganze" geht, hat auch die Aktivität des Netzes nichts mit "dem Ganzen" zu tun und man kann dann auch nicht von einem "Verstehen des Ganzen" (hier "Auto") sprechen.

Die Reaktion zwischen Eingabe-Wertverteilung und Ausgabe-Wertverteilung würde ich aber dennoch als Verstehen bezeichnen, nur geht es bei diesem Verstehen um (Wert/Reiz-)Verteilungszusammenhänge in Bezug auf die Berechnungsmöglichkeiten des Systems.
Jegliches Verständnis abzusprechen, geht auf Basis der erreichten Funktionalität nicht.




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Mi 23. Nov 2022, 22:00

In diesem Faden soll es um das Verstehen gehen. In der Einleitung gibt es ein paar Beispiele von Dingen, die man verstehen kann. Erzählungen kommen jedoch nicht vor. Aber sind es nicht gerade Erzählungen, die wir paradigmatisch in den Blick nehmen sollten?




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Lucian Wing
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Mi 23. Nov 2022, 22:21

Burkart hat geschrieben :
Mi 23. Nov 2022, 18:35
Man könnte genauso z.B. über das Verstehen von "Fairness" philosophieren, wollen wir?
Ich weiß nicht, was für einen Rahmen du dir da vorstellst.
Wir könnten den Begriff im Rahmen einer Theorie der Gerechtigkeit diskutieren, aber so war de Strang ja nicht angelegt.
Sondern es geht ein bisschen um Fragen der Bedeutung und des Gebrauchs von Begriffen.
Dabei gäbe es zwei Möglichkeiten. Der Gebrauch bestimmt die Bedeutung, oder umgekehrt, die Bedeutung bestimmt den Gebrauch. Das heißt, Bedeutung und Gebrauch stehen auf irgendeine Art in einer Beziehung miteinander.
In diesem Sinne hattest du ja Fragen gestellt, wer denn die richtige Verwendung festlegt.
Es bringt jetzt nichts von Wort zu Wort zu springen. Jörn hat irgendwo am Beispiel des Lernens und Verstehens einige Überlegungn zum Gebrauch und zur Bedeutung gemacht. Und sybok hat auch Input gegeben.



Als ich vierzehn war, war mein Vater so unwissend. Ich konnte den alten Mann kaum in meiner Nähe ertragen. Aber mit einundzwanzig war ich verblüfft, wieviel er in sieben Jahren dazu gelernt hatte. (Mark Twain)

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Mi 23. Nov 2022, 23:51

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 23. Nov 2022, 22:00
In diesem Faden soll es um das Verstehen gehen. In der Einleitung gibt es ein paar Beispiele von Dingen, die man verstehen kann. Erzählungen kommen jedoch nicht vor. Aber sind es nicht gerade Erzählungen, die wir paradigmatisch in den Blick nehmen sollten?
Ich war drauf und dran, etwas wie Geschichten oder gar Märchen als weiteren Punkt aufzunehmen, also recht nah an deinen Erzählungen. Nur dann wollte ich es nicht noch länger mache und hatte sie weggelassen; die genannten Punkte sollten ja auch nur Beispiele sein und keine Vollständigkeit widerspiegeln.



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Mi 23. Nov 2022, 23:58

Lucian Wing hat geschrieben :
Mi 23. Nov 2022, 22:21
Burkart hat geschrieben :
Mi 23. Nov 2022, 18:35
Man könnte genauso z.B. über das Verstehen von "Fairness" philosophieren, wollen wir?
Ich weiß nicht, was für einen Rahmen du dir da vorstellst.
Wir könnten den Begriff im Rahmen einer Theorie der Gerechtigkeit diskutieren, aber so war de Strang ja nicht angelegt.
Sondern es geht ein bisschen um Fragen der Bedeutung und des Gebrauchs von Begriffen.
Dabei gäbe es zwei Möglichkeiten. Der Gebrauch bestimmt die Bedeutung, oder umgekehrt, die Bedeutung bestimmt den Gebrauch. Das heißt, Bedeutung und Gebrauch stehen auf irgendeine Art in einer Beziehung miteinander.
In diesem Sinne hattest du ja Fragen gestellt, wer denn die richtige Verwendung festlegt.
Es bringt jetzt nichts von Wort zu Wort zu springen. Jörn hat irgendwo am Beispiel des Lernens und Verstehens einige Überlegungn zum Gebrauch und zur Bedeutung gemacht. Und sybok hat auch Input gegeben.
Ich wollte nur nicht, dass du glaubst, dass es mir hier um KI geht. Insofern könnte man auch unser "Verstehen von Fairness" zur Diskussion stellen, z.B. ist Gleichheit fair (Verstehen auf Basis des Individuums als solches) oder ist "jeder was er braucht" fair (Bedürfnisse als Basis) o.ä. - also (auch!?) hier Verstehen auf verschiedenen Grundlagen.



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Jörn Budesheim
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Do 24. Nov 2022, 06:28

Fritz Breithaupt, in "Das Narrative Gehirn" hat geschrieben : Warum verbringen wir so viel Zeit mit Narrationen? Damit meine ich nicht nur die Filme, die wir uns reinziehen, und die Bücher, die wir lesen, sondern auch die vielen Unterhaltungen, die wir darüber führen, wer was mit wem gemacht hat, die Posts in den sozialen Medien sowie unsere eigenen Gedanken dazu, was wir in bestimmten Situationen tun sollen, die uns wie kleine Clips erscheinen können, welche wir anschauen. Die Antwort auf diese erste Frage ist einfach: In den Narrationen erleben wir die Erlebnisse von anderen mit und teilen ihre Erfahrungen. Das ist möglich, weil wir uns in Narrationen ja an die Stelle von anderen versetzen können und dann tatsächlich »ihre« Erfahrungen selbst machen. Wir müssen nicht selbst auf eine Herdplatte fassen, nicht selbst eine Bank überfallen oder unseren Partner betrügen, um zu erkennen, dass das vielleicht keine so gute Idee ist. Etwas in uns hält uns davor zurück, und das ist nicht die Moral oder das bessere Wissen, sondern eine irgendwie schon gemachte Erfahrung. Und zugleich kommen wir durch Narrationen in den Genuss, auch das Verbotene einmal zu erproben. Auf Englisch sagt man so schön: »You can't have your cake and eat it.« Doch mit Narrationen können wir ebendies: Wir können die Erfahrungen (narrativ, mental) machen und zugleich die Handlungen nicht ausführen. Wir verdoppeln unser Leben. Wir können auch bereits Getanes ein zweites Mal miterleben oder uns eine geplante Handlung vor Augen führen – von minimalen Reaktionen bis zu den großen Lebensentscheidungen.
Das scheint mir einer der Hauptorte des Verstehens zu sein: Erzählungen, Geschichten oder eben, wie man heute häufig sagt: Narrationen. Könnten wir das, ohne uns in die anderen hineinzuversetzen? Das scheint mir übrigens ein Ansatz zu sein, unser Leben zu verstehen, der dichter daran ist, als der Gedanke, dass wir keinen Zugriff auf das sogenannte Fremdpsychische haben :)




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Do 24. Nov 2022, 11:12

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 24. Nov 2022, 06:28
Fritz Breithaupt, in "Das Narrative Gehirn" hat geschrieben : Warum verbringen wir so viel Zeit mit Narrationen? Damit meine ich nicht nur die Filme, die wir uns reinziehen, und die Bücher, die wir lesen, sondern auch die vielen Unterhaltungen, die wir darüber führen, wer was mit wem gemacht hat, die Posts in den sozialen Medien sowie unsere eigenen Gedanken dazu, was wir in bestimmten Situationen tun sollen, die uns wie kleine Clips erscheinen können, welche wir anschauen. Die Antwort auf diese erste Frage ist einfach: In den Narrationen erleben wir die Erlebnisse von anderen mit und teilen ihre Erfahrungen. Das ist möglich, weil wir uns in Narrationen ja an die Stelle von anderen versetzen können und dann tatsächlich »ihre« Erfahrungen selbst machen. Wir müssen nicht selbst auf eine Herdplatte fassen, nicht selbst eine Bank überfallen oder unseren Partner betrügen, um zu erkennen, dass das vielleicht keine so gute Idee ist.
Hm, dann bin ich doch aber wie die farbenblinde Mary, die alles über Farbwahrnehmung erklärt bekommt, aber trotzdem ohne die tatsächliche Erfahrung bleibt. Egal wie oft und wie akkurat mir das mit der Herdplatte erklärt wird, ich könnte ganze Bücher nur über die heisse Herdplatte lesen, ich werd die Erfahrung ja trotzdem selber machen müssen um sie vollumfänglich zu verstehen. Wie sich die schon fast vergessene, verbrannte Stelle dann beim Duschen wieder bemerkbar macht, wie der Unterschied zu anderen Schmerzen, etwa Kopfschmerzen ist, oder wie die Stelle mich auch am nächsten Tag immer noch in der Bewegung einschränkt, etc. der Grossteil der Erfahrungen die indirekt damit verbunden sind wurde mir nicht gesagt und musste ich selbst erleben.




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sybok hat geschrieben :
Do 24. Nov 2022, 11:12
Hm, dann bin ich doch aber wie die farbenblinde Mary, die alles über Farbwahrnehmung erklärt bekommt
Warum nicht eher, wie die farbensehende Moni, die zwar noch nie die das blaue X gesehen hat, von dem ihr Freund erzählt, aber schon das blaue Y? Erzählungen sind von Menschen für Menschen, die schon vielfältige Erfahrungen gemacht haben.




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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 24. Nov 2022, 06:28
Fritz Breithaupt, in "Das Narrative Gehirn" hat geschrieben : Warum verbringen wir so viel Zeit mit Narrationen? Damit meine ich nicht nur die Filme, die wir uns reinziehen, und die Bücher, die wir lesen, sondern auch die vielen Unterhaltungen, die wir darüber führen, wer was mit wem gemacht hat, die Posts in den sozialen Medien sowie unsere eigenen Gedanken dazu, was wir in bestimmten Situationen tun sollen, die uns wie kleine Clips erscheinen können, welche wir anschauen. Die Antwort auf diese erste Frage ist einfach: In den Narrationen erleben wir die Erlebnisse von anderen mit und teilen ihre Erfahrungen. Das ist möglich, weil wir uns in Narrationen ja an die Stelle von anderen versetzen können und dann tatsächlich »ihre« Erfahrungen selbst machen. Wir müssen nicht selbst auf eine Herdplatte fassen, nicht selbst eine Bank überfallen oder unseren Partner betrügen, um zu erkennen, dass das vielleicht keine so gute Idee ist. Etwas in uns hält uns davor zurück, und das ist nicht die Moral oder das bessere Wissen, sondern eine irgendwie schon gemachte Erfahrung. Und zugleich kommen wir durch Narrationen in den Genuss, auch das Verbotene einmal zu erproben. Auf Englisch sagt man so schön: »You can't have your cake and eat it.« Doch mit Narrationen können wir ebendies: Wir können die Erfahrungen (narrativ, mental) machen und zugleich die Handlungen nicht ausführen. Wir verdoppeln unser Leben. Wir können auch bereits Getanes ein zweites Mal miterleben oder uns eine geplante Handlung vor Augen führen – von minimalen Reaktionen bis zu den großen Lebensentscheidungen.
Das scheint mir einer der Hauptorte des Verstehens zu sein: Erzählungen, Geschichten oder eben, wie man heute häufig sagt: Narrationen. Könnten wir das, ohne uns in die anderen hineinzuversetzen? Das scheint mir übrigens ein Ansatz zu sein, unser Leben zu verstehen, der dichter daran ist, als der Gedanke, dass wir keinen Zugriff auf das sogenannte Fremdpsychische haben :)
Das berührt ein Problem, das vor allem in der Spätphase der Phänomenologie auftritt und das mit den Konzepten der Intersubjektivität und Einfühlung verbunden ist. Husserl war mit der von ihm in den Cartesianischen Meditationen vorgelegten Theorie der Intersubjektivität nicht vollends zufrieden. Das Ausgangsproblem war der Vorwurf des Solipsismus gegen die Phänomenologie (einzig des Ich ist real, alles andere sind nur Bewußtseinsinhalte dieses Ichs). Um diese Kritik zu entkräften, stellte Husserl vielfältige Überlegungen an, wie das Fremdpsychische, das alter ego erlebt wird und wie man von hier aus zu einer Erfahrung der objektiven Wirklichkeit kommen kann.

Den Kern der Intersubjektivitätstheorie bildet das Konzept der "Einfühlung". In Erfahrung und Urteil heißt es über die Einfühlung, sie sei "nichts anderes (…) als eine besondere Gruppe von positionalen Vergegenwärtigungen (…)". (Edmund Husserl; Erfahrung und Urteil; S. 192). Für Husserl ist die Einfühlung ein erkenntnistheoretischer Akt, der über die Wahrnehmung läuft. Er beschränkt sich also rein auf die Erfassung des Erlebens des Fremdpsychischen. Das "Fühlen" der Einfühlung spielt bei ihm keine Rolle. (Das ist bei Edith Stein anders; bei ihr geht es um Emotionalität, um Teilnahme, um das Mitfühlen, um den Blick als Brücke zum alter ego - all das aus einer christlichen, religionsphilosophischen Perspektive.)

Einfühlung als phänomenologisches Theorem ist von Hause aus ein erkenntnistheoretisches Thema, eine Angelegenheit der Wahrnehmung im Unterschied zur Empathie, die (auch ohne christlichen Hintergrund) das Mitfühlen meint, die Anteilnahme.

Nun hat Husserl allerdings auch Folgendes gesehen: Die Inhalte der Fremderfahrung sind dem erkennenden Ich nicht direkt gegeben: "Wäre das der Fall, wäre das Eigenwesentliche des Anderen in direkter Weise zugänglich, so wäre es bloß Moment meines Eigenwesens, und schließlich er selbst und ich selbst einerlei." (Edmund Husserl; Cartesianische Meditationen; S. 192). Ich kann zwar ein Erlebnis des Fremdpsychischen haben, aber ich kann dieses Fremdpsychische nicht mit dem eigenen Erleben verschmelzen. Das ginge nur durch die Fusion beider. Die fremden Erfahrungsdaten werden nur indirekt, nämlich durch "Appräsentation" vergegenwärtigt. Husserl spricht hier auch von einer "apperzeptiven Übertragung von meinem Leib her" (Cartesianische Meditationen; S.198).

Nun schreibt Fritz Breithaupt, daß "wir uns an die Stelle von anderen versetzen können und dann tatsächlich 'ihre' Erfahrungen selbst machen." Möglich ist das über Narrationen, denn "in den Narrationen erleben wir die Erlebnisse von anderen mit und teilen ihre Erfahrungen."

Um "ihre" Erfahrungen "selbst" machen zu können, braucht es Zeit, denn Narrationen mit ihrem Anfang und Ende nehmen sozusagen Zeit in Anspruch. Die Paradoxie, daß man sich an die Stelle eines anderen hineinversetzen kann, ohne dieser andere zu sein, wird durch Narrationen, also durch Entfaltung in der Zeit, invisibilisiert. - "An die Stelle eines anderen" kann man erst treten, wenn der andere diese Stelle nicht mehr einnimmt. Also selbst wenn man das Bild wörtlich nimmt, braucht es dafür ein Nacheinander.




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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 24. Nov 2022, 11:30

Erzählungen sind von Menschen für Menschen, die schon vielfältige Erfahrungen gemacht haben.
Darin liegt schon das Zeitverhältnis. Bevor nicht Erfahrungen gemacht worden sind, können sie nicht erzählt werden. - Erst wenn sie erzählt worden sind, kann man sie machen.

Die Paradoxie liegt darin, daß man sie machen kann ohne sie gemacht haben zu müssen. Indem man zwei Akteure einführt, wird die Paradoxie unsichtbar gemacht. Das eigentliche Paradoxiemanagement leistet dann die Metaphorik.

(Der Ausdruck "Paradoxie" ist hier nur ein vorläufiger, einer der bis auf weiteres "die Stelle" eines besseren einnimmt.)




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Do 24. Nov 2022, 12:36

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 24. Nov 2022, 11:30

Erzählungen sind von Menschen für Menschen, die schon vielfältige Erfahrungen gemacht haben.
Oder muß es vielleicht heißen:

Erzählungen sind von Menschen, die schon vielfältige Erfahrungen gemacht haben, für Menschen. (?) ;)




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