Alles ist relativ

Aspekte metaphysischer Systementwürfe und der Ontologie als einer Grunddisziplin der theoretischen Philosophie können hier diskutiert werden.
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Alethos
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So 1. Mär 2020, 22:30

Wem Formeln der Art „Alles ist y“ suspekt sind, der fühle sich eingeladen weiterzulesen. Hier soll es nicht um die Verteidigung eines metaphysischen Prinzips dieser Art gehen, sondern vielmehr um seine Widerlegung, insbesondere in seiner Form als Tatsachenrelativismus.

Tatsachenrelativismus ist die Auffassung, dass es keine an und für sich seienden Tatsachen gebe, sondern dass diese Tatsachen immer nur relativ existieren bspw. relativ zu einem Sprachspiel, zu einer Theorie, einem pragmatisch sich bewährenden Symbolsystem etc.

In seinem Buch „Angst vor der Wahrheit“ schreibt Paul Boghossian folgendes über den so verstandenen Relativismus:
1. Es gibt keine absoluten Tatsachen der Form p.
2. Wenn unsere Urteile über Tatsachen irgendeine Aussicht auf Wahrheit haben sollen, dürfen wir Äusserungen der Form <p>

nicht als Ausdruck der Behauptung

p

verstehen, sondern als Ausdruck der Behauptung

Gemäss einer Theorie T, die wir befürworten, ist p der Fall.

3. Es gibt viele alternative Theorien, um die Welt zu beschreiben, aber keine Tatsachen, aufgrund derer eine dieser Theorien den Dingen an und für sich besser entspräche als eine andere.
Der Autor beschreibt lediglich den Relativismus, er ist kein Relativist, vielmehr entwickelt er in seinem Buch, wie ich meine, überzeugende Gegenpositionen.

Was könnten eurer Meinung nach solche Argumente gegen den Relativismus sein? Gibt es überhaupt welche? Und wie verhält es sich mit den Tatsachen in der Welt denn wirklich, wenn sie bewusstseinunabhängig sein sollen?



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Jörn Budesheim
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Mo 2. Mär 2020, 18:10

Das schlagendeste Argument gegen den Relativismus ist meines Erachtens seine Selbstwidersprüchlichkeit. Denn der Satz "alles ist relativ" beansprucht ja ganz offensichtlich, wahr zu sein.

Wenn ich mich recht entsinne, lässt Paul Boghossian dieses Argument jedoch nicht gelten. es ist schon zu lange her, dass ich das Buch gelesen habe, daher kann ich mich an seine "Verteidigung" nicht erinnern. Ich weiß nur noch, dass sie mich nicht überzeugt hat, bestimmt der Grund, warum ich es mir nicht merken konnte :)

Hier wird es von Wolfgang Welsch, in einem etwas anderen Zusammenhang, etwas ausführlicher vorgetragen:

Erstens ist die moderne Denkform offenkundig selbstwidersprüchlich. Sie behauptet, dass all unser Erkennen durch unsere physische, kulturelle, soziale etc. Verfassung determiniert sei und nichts enthalte, was darüber hinauszureichen vermöge. Nun ließe sich eine solche Determiniertheit und Beschränktheit freilich allenfalls von einem Standpunkt außerhalb dieser Verfassung feststellen, aus dem Blickpunkt einer God's-eye view. Andernfalls würde die Behauptung ihrerseits der angeführten Restriktionsbedingung unterliegen, könnte also selber nur relativ gültig sein und somit nicht zu einem verbindlichen Prinzip taugen. Nun soll uns aber der modernen Position zufolge gerade ein solch überlegener Standpunkt verwehrt sein. Somit können wir, den eigenen Annahmen dieser Denkform zufolge, gar nicht wissen, dass unser Erkennen in der behaupteten Weise beschränkt ist. Gleichwohl wird eben dies unentwegt behauptet. Darin ist die moderne Position grundlegend selbstwidersprüchlich. Man kann das, komprimiert, auch so fassen: Das Axiom besagt, dass alles, was wir sagen können, weil mensch-gebunden, nicht objektiv ist. Dann betrifft das natürlich auch diese Aussage, also kann auch diese nicht schlechthin gültig sein. Ihre Gültigkeit hebt sich somit just unter ihrer Voraussetzung auf. Wenn das Axiom gilt, gilt es nicht. – Das ist die klassische Form der Selbstwiderlegung seit Platons Zeiten. (Wolfgang Welsch)




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Jörn Budesheim
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Mo 2. Mär 2020, 18:56

Zu Beginn des Buches bringt der Autor etwas, was den Relativismus motiviert. Wenn man so will ein ethisches Motiv. Der bringt dazu ein Beispiel: Es geht dabei um Ureinwohner, die eine bestimmte Vorstellung haben, wo sie herkommen. Die Urahnen, soweit ich mich entsinne, kommen aus dem Erdinneren. Das hält natürlich einer naturwissenschaftlichen Sicht natürlich nicht stand. Daher reklamiert man, dass die Naturwissenschaft nur eine Sicht auf die Welt ist und man andere Sichtweisen gelten lassen müsste.

Ich für meinen Teil kann das sogar gut nachvollziehen. Die Frage wäre, wie man hier eine nichtrelativistische Art und Weise, damit umzugehen, finden könnte!




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Alethos
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Mo 2. Mär 2020, 21:03

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 2. Mär 2020, 18:10
Das schlagendeste Argument gegen den Relativismus ist meines Erachtens seine Selbstwidersprüchlichkeit. Denn der Satz "alles ist relativ" beansprucht ja ganz offensichtlich, wahr zu sein.

Wenn ich mich recht entsinne, lässt Paul Boghossian dieses Argument jedoch nicht gelten.
Boghossian lässt den Einwand gelten, dass ein globaler Relativismus zu einem Selbstwiderspruch führt. Global meint hier einen Relativismus der Form „Alles ist relativ“, d.h. der sich auf alle Arten von Tatsachen erstreckt. Denn wenn der globale Relativismus behauptet, alles sei nur relativ wahr, so würde das auch gelten für die Postulate des Relativismus selbst, da es auch nur relativ wahr wäre, dass alles relativ ist.

Boghossian lässt aber, wie du sagst, das Argument hinter diesem Einwand nicht gelten, das - Thomas Nagel zitierend - in etwa wie folgt lautet:
Thomas Nagel hat geschrieben : Die These „Alles ist subjektiv“ muss unsinnig sein, denn sie müsste ihrerseits entweder subjektiv oder objektiv sein. Objektiv kann sie aber nicht sein, denn sonst wäre sie im Falle der Wahrheit falsch. Subjektiv kann sie auch nicht sein, denn sonst würde sie keine objektive Behauptung ausschliessen, unter anderem auch nicht die Behauptung, dass sie selbst objektiv falsch sei. Einige Subjektivisten, die sich womöglich als Pragmatisten gerieren, präsentieren ihren Subjektivismus vielleicht so, dass er sogar auf sich selbst zutrifft. Doch in diesem Fall braucht der Subjektivismus keine Erwiderung, denn er ist dann nichts weiter als eine Schilderung der dem Subjektivisten genehmen Äusserung.
Und hier wendet Boghossian ein, dass nicht klar sei, ob aus dem Zugeständnis, dass der Relativismus selbst nur relativ zu einer Theorie wahr sein könne, wirklich folge, dass er nur ein Bericht über die dem “Relativisten genehme Äusserung sei“. Vielleicht sei der Relativismus wahr relativ zu einer Theorie, die zu befürworten sich für uns alle auszahle, ob wir nun Relativisten oder Nichtrelativisten seien. Boghossian spricht sich damit für die Ansicht aus, dass es durchaus Sinn ergeben könne, den Wert einer Theorie nach pragmatistischen Gesichtspunkten zu beurteilen. Eine Theorie kann sich als relativistischer Bezugspunkt von Aussagen auch bewähren, weil sie uns allen nützt.
Er bringt aber andere, stärkere Argumente ins Spiel und lehnt mit ihnen eindeutig den globalen Relativismus ab.



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Jörn Budesheim
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So 8. Mär 2020, 08:14

Hier gibt es eine sehr geraffte Zusammenfassung des Buches:

https://www.studocu.com/de/document/uni ... 96699/view




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Jörn Budesheim
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So 8. Mär 2020, 12:09

Auf den vorangegangenen Seiten stellt der Autor, Philosophieprofessor in New York, Gründe vor, die für einen sozialen Konstruktivismus und, damit verwandt, einen epistemischen Relativismus sprechen. Die Darlegungen der Gewährsleute, vor allem Richard Rortys, führt Boghossian auf Grundaussagen zurück, die er eine nach der anderen widerlegt. Die gegen den Konstruktivismus und epistemischen Relativismus ins Feld geführten Argumente lassen sich dabei auf den Nachweis der fehlenden Kohärenz und des Selbstwiderspruchs zurückführen. Der Grundwiderspruch ist folgender: Der Konstruktivismus und epistemische Relativismus behaupten etwas, was im Falle der Richtigkeit diese selbst dementiert. Denn die Relativierung einer Tatsachenbehauptung als abhängig von einer bestimmten Theorie wäre selbst wieder abhängig, sofern sie nicht einen absoluten Wahrheitsanspruch proklamieren will. Boghossian drückt dies so aus: „An jedem Punkt des drohenden Regresses muss der Relativist verneinen, dass die Behauptung an diesem Punkt einfach nur wahr sein kann, und wird darauf bestehen müssen, dass sie nur relativ zu einer Theorie wahr ist, die wir befürworten.“ (S. 61) Es droht also der infinite Regress. Der epistemische Relativist ist schlicht nicht in der Lage, epistemische Systeme zu beurteilen, dafür hat er keine Maßstäbe.

Diese Kritik ist nun nicht neu, wurde aber von niemandem so streng logisch durchexerziert wie von Boghossian.

http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-20807
Das ist etwas anders, als ich es oben dargestellt habe, und als meine Erinnerung besagt.




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Schimmermatt
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So 8. Mär 2020, 20:47

Mir scheint die globalrelativistische Aussage "Alles ist relativ" enorm verwandt mit dem in zahlreichen Philosophieklassen diskutierten Übersetzungsfehler "Ich weiß, dass ich nichts weiß" (Sokrates sagte laut Platon: "Ich weiß, dass ich nicht weiß") zu sein. Hier tritt das Paradoxe durch die direkte Verneinung deutlicher zutage.
Insgesamt dürfte der Relativist sich besser nicht auf diesen schwarzweißen Schematismus einlassen. Eine m.M.n. präzisere, aber weitaus umständlichere und vorsichtigere Formulierung könnte interessanterweise doch wieder per Negation gelingen: "Keine Aussage entfaltet absoluten Wahrheitswert". Zwar hat dann auch diese Aussage keinerlei absolute und über das Subjekt, bzw den Kontext hinausreichende Bedeutung, aber eben dies hat der Relativist ja auch gar nicht behauptet.



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Alethos
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Di 10. Mär 2020, 23:51

Schimmermatt hat geschrieben :
So 8. Mär 2020, 20:47
Eine m.M.n. präzisere, aber weitaus umständlichere und vorsichtigere Formulierung könnte interessanterweise doch wieder per Negation gelingen: "Keine Aussage entfaltet absoluten Wahrheitswert". Zwar hat dann auch diese Aussage keinerlei absolute und über das Subjekt, bzw den Kontext hinausreichende Bedeutung, aber eben dies hat der Relativist ja auch gar nicht behauptet.
Die negierte Aussage ist nicht weniger widersprüchlich, denn bei der negierten Aussage handelt es sich ebenfalls um eine Aussage, die sich selbst beinhalten muss. 'Keine Aussage' ist bedeutungsgleich mit der leeren Menge aller Aussagen. Auch die Wendung 'keine Aussage' erstreckt sich auf jede Aussage und somit auch auf sich selbst. Dass keine Aussage absolut wahr ist, macht aus der Aussage, dass keine Aussage absolut wahr sei, eine nicht-absolut wahre Aussage. Aber dann ist sie nicht wahr per se, sondern nur unter dem Konditional p. Und Konditional p unter dem Konditional q. Usw. Usf.

Wie man es auch wenden mag: Das führt entweder in einen Selbstwiderspruch oder aber in einen unendlichen Regress. Beides ist wenig kohärent.

Was spricht denn aber auf der anderen Seite gegen die absolute Wahrheit der Aussage: "Giraffen hat es gegeben, noch bevor es Computer gab."? Sowohl das zeitliche Verhältnis wie auch der Umstand, dass Giraffen nicht Computer sind, sind völlig unabhängig davon wahr, welche Theorie man anwendet. Dass wir begriffliche Konstrukte, dass wir Sprache benötigen, um diese Tatsache auszudrücken, dass wir uns brauchen, damit wir es sind, die es ausdrücken, das ist geschenkt. Aber das macht doch den Umstand, dass es sich so und so verhält, nicht zu einer Wahrheit, die relativ zu uns und unseren epistemischen Fähigkeiten wäre. Auch nicht, wenn man Semantik konstruktivistisch deuten wollte, wäre es so, dass es sich mit Giraffen und Computern so verhielte.



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Schimmermatt
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Mi 11. Mär 2020, 00:08

Ich bin da ganz bei Dir, Alethos, letztlich ist mein eigener Skeptizismus rein epistemisch, ich bin der Auffassung, dass es eine Realität gibt, die so und so beschaffen ist, ich schenke mir auch so Spitzfindigkeiten, dass man nur über die Sprache zu Aussagen kommen kann, dass diese Sprache Konstruktcharakter hat, etc. Ich skizzierte bloß, auf welches Schema ein Relativist sich nicht einlassen darf, ohne sofort ins Schleudern zu geraten.

Wenn man sich aber alle Sptzfindigkeiten schenkt, so bleibt meines Erachtens auch nur übrig, dass die gefundenen Wahrheiten stets trivial bleiben. "Was sollen wir tun?", "Was ist der Mensch?", vor allem "Warum gibt es etwas und nicht nichts?" bleiben zu große Fragen, sie triumphieren nachgerade in noch unheilvollerem Glanz, je mehr an Ihnen professionell herumgescheitert wurde und wird.



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Jörn Budesheim
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Mi 11. Mär 2020, 16:26

Boghossian in "Angst vor der Wahrheit" hat geschrieben : Wir denken, dass es im Hinblick auf die Wahrheitsfrage Tatsachen gibt. Wir wollen nur das annehmen, was wir aus guten Gründen für wahr halten können; und wir halten die Wissenschaft für den einzig guten Weg, um zu vernünftigen Meinungen über Wahrheit und Unwahrheit zu kommen, jedenfalls dann, wenn es um reine Sachfragen geht. Daher fügen wir uns der Wissenschaft. Damit diese Art der Fügsamkeit wirklich richtig ist, sollte wissenschaftliches Wissen aber auch wirklich privilegiert sein – es sollte besser nicht zutreffen, dass es viele andere, völlig verschiedene, aber gleichwertige Arten gibt, die Welt zu verstehen. Denn wenn die Wissenschaft nicht privilegiert wäre, müssten wir die Archäologie für genauso glaubwürdig halten wie den Kreationismus der Zuñi und die Evolutionstheorie für genauso glaubwürdig wie den christlichen Kreationismus – und genau diese Auffassung wird von einer wachsenden Zahl von Forschern im Wissenschaftsbetrieb propagiert und findet auch darüber hinaus ein zunehmendes Echo.
Ob ich dem zustimme, hängt davon ab, was man unter "Sachfragen" versteht. Das ist mir nicht wirklich klar. Die Wissenschaften haben einen wichtigen Zugang zur Welt, aber doch nicht einen privilegierten, oder?

Außerdem ist mir nicht ganz klar, was mit "Wissenschaft" gemeint ist - vielleicht auch ein Übersetzungsproblem?! Sind dort alle Wissenschaften inklusive z.b. der Philosophie gemeint oder dann doch wieder nur die Naturwissenschaften?




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Alethos
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Mi 11. Mär 2020, 22:03

Schimmermatt hat geschrieben :
Mi 11. Mär 2020, 00:08
Wenn man sich aber alle Sptzfindigkeiten schenkt, so bleibt meines Erachtens auch nur übrig, dass die gefundenen Wahrheiten stets trivial bleiben. "Was sollen wir tun?", "Was ist der Mensch?", vor allem "Warum gibt es etwas und nicht nichts?" bleiben zu große Fragen, sie triumphieren nachgerade in noch unheilvollerem Glanz
Dass 'Dingtatsachen' für uns weniger relevant sind, kann man so sehen. Ich jedenfalls teile deine Meinung, dass die wichtigen Fragen, die also, die uns als Menschen betreffen und nicht bloss als Molekülehaufen, viel eher um Themen kreisen, die einen moralischen Sachverhalt zum Gegenstand haben. Jedenfalls halte ich es für mich als Menschen wichtiger zu wissen, was moralisch geboten ist, als zu wissen, dass ich um den Tisch herum gehen muss, wenn ich mich nicht an ihm stossen will, oder zu wissen, dass der Stein in der Regel zum Erdmittelpunkt neigt, wenn man ihn loslässt oder zu wissen, dass Materie aus Atomen besteht.

Aber ich würde nicht behaupten wollen, weil ich es mir nicht schlüssig erklären kann, dass diese 'Dingtatsachen', also Tatsachen, die nicht-moralische Sachverhalte betreffen, allesamt trivial sind. Für trivial halte ich beispielsweise alle logischen Schlüsse, generell, alle nicht-informativen Schlüsse. Denn trivial ist doch, wenn wir durch unsere Verfahren nichts Neues in Erfahrung bringen. So gesehen ergibt auch der modus ponens triviale Resultate, überhaupt alle logischen Schlüsse, denn es ist in den Prämissen angelegt, was folgen soll und es folgt nichts, was nicht schon formaliter feststand. Dass ein Ball blau scheint (für uns oder für wen auch immer), das halte ich nicht für ein triviales Urteil, dass er rund ist hingegen schon. Beides betrifft aber Dingtatsachen, die uns nicht betroffen machen können.

Darum weist du zurecht darauf hin, dass man es auch (mit Bezug auf handlungsrelevante, moralische Reflexionen) für trivial halten könnte, dass der Ball blau ist, denn es leuchtet ja überhaupt nicht ein, worin die Tragweite dieses Unstands liegen sollte, dass dort ein solch blaues Objekt steht. Es ist genauso 'trivial' wie das Wissen, dass der Computer ein menschliches Artefakt ist. Es sind einfach Fakten, die sich so darstellen. Mehr nicht. Es ist vielleicht gut zu wissen, aber nicht zwingend wichtig zu wissen, dass es so ist.

Anders doch bei moralisch relevanten Sachverhalten. Moralisch relevant sind doch Tatsachen, weil sie uns Menschen als Menschen betreffen. Und zum Menschsein gehört relevanterweise das Vermögen, Werteinstellungen zu haben. Dass wir im wahren Sinn Betroffene sein können. Dass wir Ansichten haben über uns und andere und den Wert dieser Bezüglichkeit zu uns selbst und anderen empfinden können. Reflektieren können. Und hier, wo gewissermassen unsere sozialen Empfindungen individuell empfunden werden, wo es eine Rolle spielt, was ich denke und du denkst, was wir denken und wie wir was bewerten, eine moralische Objektivität postulieren zu wollen, eine Objektivität im Sinne einer absoluten Wahrheit, das fällt nicht leicht.

Denn wenn wir einzelne moralische Fragestellungen anschauen, führen sie immer zurück auf die Feststellung: Dass es abhängig ist von der entsprechenden Begebenheit (Kultur, Situation, Jahrhundert, in dem man lebt), ob man so oder anders urteilen müsse. Es scheint so zu sein, dass moralische Richtigkeit sich nur vor dem Hintergrund einer spezifischen Situation beantworten lasse. Ist es bspw. richtig, ein Rehkitz zu töten? Ja, wenn man sonst bei hoher Geschwindigkeit ein gefährliches Manöver einleiten muss, das den Onkel auf dem Beifahrersitz und die zwei kleinen Kinder auf den Rücksitzen gefährdet. Nein, wenn es darum geht, es aus blosser Freude zu vernichten. Wenn wir aber im Auto unterwegs sind, und da steht ein Rehlein auf der Strasse, dann wägen wir ab, wir müssen abwägen, denn es ist unumgänglich, dass wir diese Richtigkeit mit der anderen Richtigkeit abwägen: Richtig, die Familie zu verschonen? Richtig, das Rehlein zu verschonen? Und wenn wir das tun, wenn wir uns solche Fragen stellen, fragen wir zwangsläufig danach, was uns mehr Wert ist, was uns mehr am Herzen liegt. Wir kommen gar nicht umhin, die moralische Richtigkeit zu einer Herzensangelegenheit zu machen und dann, wenigstens scheint es vermeintlich so, dass moralisch richtiger ist, was uns mehr am Herzen liegt. Moralische Richtigkeit erkennen wir nur durch unsere epistemischen Fähigkeiten: Reflexion, Argumente, Gründeabwägungen und so diffuse Dinge wie Gefühle und Emotionen. Wir können diese Relevanz, die wir diesen uns betreffenden, besser: diese uns betroffen machen könnenden Dingen entgegenbringen, bei der Beurteilung moralischer Sachverhalte gar nicht herausrechnen. Zu wissen, ob dieses oder jenes Handeln moralisch richtiger ist, das können wir nur in Anbetracht unserer inneren Einstellungen beurteilen und/oder abhängig von den Wertegemeinschaften reflektieren, in denen wir sozialisiert sind.

Aber heisst das nun, dass ein moralisches Urteil deshalb relativ ist? Ich meine nicht. Wenigstens steckt darin nicht mehr Relativismus als in der Tatsache, dass das Blauempfinden abhängig von meinem Sehsinn ist oder das Geschmackserlebnis abhängig ist von meinen individuellen Geschmacksnerven. Daran ist nichts relativ und nicht mehr Relativität steckt doch in den moralischen Urteilen.
Es ist schliesslich objektiv wahr, dass Blau mir blau erscheint und Schokoladeneis mir schmeckt. Und es ist wahr, dass mir die meisten Schokoladeneisvarianten die meiste Zeit schmecken. Es ist der Regelfall, dass p. So ist es doch auch objektiv so, dass im Regelfall es richtig ist, meine Familie zu schützen und nicht ein Reh, das ein beliebiges Reh ist für mich. Und es wird im Regelfall so sein, dass Diebstahl schlecht ist und Folter auch. Auch wenn es Ausnahmen geben mag, so rechtfertigen sie nicht die Relativität der Richtigkeit, sondern bestärken doch vielmehr die Richtigkeit als Regelfall. Dass es richtig oder falsch ist, dass p.

Damit sage ich nicht, dass moralische Urteile Geschmacksurteile sind, sondern dass sie Objektivität haben - ganz und gar nicht triviale.



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Do 12. Mär 2020, 18:30

Alethos hat geschrieben :
Mi 11. Mär 2020, 22:03
Es ist schliesslich objektiv wahr, dass Blau mir blau erscheint und Schokoladeneis mir schmeckt.
Ich bin mit sehr vielem, was du da oben schreibst, völlig einverstanden. Aber an dieser Stelle möchte ich einhaken. Denn ich meine, wir haben es hier mit zwei verschiedenen Fällen zu tun. (Falls du das nicht sowieso auch so siehst.)

Nach allem was ich weiß, ist es in der Philosophie eine offene Frage, was Farben eigentlich sind. Aber selbst für den schlimmsten Fall, dass man sie nämlich für eine subjektive Projektion hält, muss man wohl anerkennen, dass wir "Farburteilen" Wahrheitswerte zuordnen können. "Diese Beere ist rot" kann einen eindeutigen Wahrheitswert haben.

Jedoch kann man (und sollte man) unterscheiden zwischen subjektiv und individuell. Farbwahrnehmungen mögen zwar nach der obigen Sichtweise subjektiv sein, das heißt aber nicht zugleich, dass sie individuell sind. Jeder der die Beeren sieht, muss die Wahrheit der Aussage "diese Beere ist rot" anerkennen, falls er über die dazu nötigen Registraturen verfügt. (Nach meiner Erfahrung wird das in der Alltagssprache nahezu systematisch verwechselt!)

Und hier liegt genau der Unterschied: "Schokoladeneis mögen" ist nämlich individuell :) Ich mag keines. aber es ist nicht individuell, dass Schokoladeneis in aller Regel braun ist. Das ändert natürlich nichts daran, dass der Satz "mir schmeckt Schokoladeneis !" einen eindeutigen Wahrheitswert haben kann. Und es ändert auch nichts daran, dass dieser Umstand, dir - objektiv! - einen guten Grund gibt, dir im Sommer ein Schokoladeneis zu gönnen.




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Do 12. Mär 2020, 18:42

Heute hatte ich eine kleine Enttäuschung. Ich war mir sicher, dass es von Paul Boghossian auch ein Buch gibt, wo er für die Objektivität der Moral argumentiert. Ich hätte sogar drauf gewettet, aber ich habe nichts gefunden ...




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Sa 14. Mär 2020, 06:40

Schimmermatt hat geschrieben :
Mi 11. Mär 2020, 00:08
Wenn man sich aber alle Sptzfindigkeiten schenkt, so bleibt meines Erachtens auch nur übrig, dass die gefundenen Wahrheiten stets trivial bleiben. "Was sollen wir tun?", "Was ist der Mensch?", vor allem "Warum gibt es etwas und nicht nichts?" bleiben zu große Fragen, sie triumphieren nachgerade in noch unheilvollerem Glanz, je mehr an Ihnen professionell herumgescheitert wurde und wird.
Alethos hat geschrieben :
Mi 11. Mär 2020, 22:03
Aber ich würde nicht behaupten wollen, weil ich es mir nicht schlüssig erklären kann, dass diese 'Dingtatsachen', also Tatsachen, die nicht-moralische Sachverhalte betreffen, allesamt trivial sind.
Ich denke, ich bin da eher bei Alethos. Das, was wir z.b. über die Quantenwelt gelernt haben, dürfte wohl zu den "nichtmoralischen Sachverhalten" gehören. Aber das ist, nach meiner Einschätzung, keineswegs trivial. Es zeigt uns, dass es Aspekte der physikalischen Welt gibt, die für uns faszinierend und verstörend sind. Wenn wir uns fragen, welches unser Ort in diesem Universum ist, dann zählen zur Beantwortung dieser Frage natürlich auch die Sachfragen. Es macht einen Unterschied für das Selbstbild, ob man glaubt dieses Universum sei ein Räderwerk oder voller spukhafter Fernwirkungen :)

Außerdem haben diese Entdeckungen ja einen unvergleichlichen Einfluss auf unsere Lebenswelt gehabt, kaum ein Gerät in unserer Umgebung wäre ohne dieses Wissen möglich.




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Sa 14. Mär 2020, 06:56

Wir als das "animal rationale" sind vielleicht nicht vollständig rational, das will ich gar nicht behaupten, aber wir können uns an Gründen orientieren. Was sind Gründe? Nach meiner Einschätzung ist folgende Erläuterung von Derek Parfit treffend: "Gründe sind Tatsachen, die für etwas sprechen." Mit anderen Worten: unsere Rationalität, wie stark oder schwach sie nun ausgeprägt sein mag, ist direkt mit den Tatsachen verknüpft.




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Sa 14. Mär 2020, 08:04

Was haben die Dichter dazu zu sagen?


Umsonst

Immer rascher fliegt der Funke,
Jede Dschunke und Spelunke
Wird auf Wissenschaft bereist,
Jede Sonne wird gewogen
Und in Rechnung selbst gezogen,
Was noch sonnenjenseits kreist.

Immer höhre Wissenstempel,
Immer richt'ger die Exempel,
Wie Natur es draußen treibt,
Immer klüger und gescheiter,
Und wir kommen doch nicht weiter,
Und das Lebensrätsel bleibt.


Theodor Fontane (1819-1898)




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