Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑ Mo 12. Feb 2018, 08:32
"Unabhängig" ist nach meiner Einschätzung in diesem Zusammenhang ein vieldeutiger Begriff, der zu Missverständnissen einlädt: Nach Heidelberger impliziert Emergenz, dass wir notwendigerweise verschiedene Erklärungsebenen unterscheiden müssen. Und zwar nicht aus epistemischen Gründen, sondern weil die Wirklichkeiten (Plural!) an sich selbst so sind. Diese Ebenen bauen allerdings aufeinander auf. In diesem Sinn sind sie nicht unabhängig voneinander. Aber die emergenten Ebenen (bzw. die makroskopischen Ebenen) haben Regelmäßigkeiten, die nicht durch Bezugnahme auf fundamentale Eigenschaften aus den jeweils tieferen Ebene erklärt werden können. Und in diesem Sinne sind sie von ihnen unabhängig.
Treffend beschrieben, sehe ich genau so.
Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑ Mo 12. Feb 2018, 08:32
Die verschiedenen Ebenen sind jedoch nicht einfach allesamt bloß physisch, bei manchen makroskopischen Systemen (zum Beispiel bei Verliebten wie Romeo und Julia) ist zum Beispiel der Bezug auf Geistiges unerlässlich, aber (ich wiederhole mich!) nicht etwa, weil es für uns bequem oder nicht anders möglich ist, das Phänomen zu erklären, sondern weil diese makroskopische Systeme an sich selbst so verfasst sind. Es geht um Ontologie nicht Epistemologie.
Mit der Frage beschäftige ich mich schon eine halbe Ewigkeit.
Vor über 20 Jahren hat Wilber das Buch
Eros, Kosmos, Logos geschrieben. Das ganze 2. Kapitel, über 50 Seiten beschäftigt sich mit unserer Frage.
Es ist das Kapitel über die 20 Grundaussagen der Wirklichkeit (Wilber unterscheidet, wie Gabriel, Kosmos und Kósmos: Kosmos ist die Sicht der Physik, die Ganzheit der Materie, Kósmos ist alles, die Teilganzheit von Materie/Physioshäre, Leben/Biosphäre, Geist/Nooshäre und GEIST/Spiritualität).
Wilber sieht und bechreibt die unterschiedlichen Anfänge/Enden der üblichen Hierarchien des Seins, die wissenschaftlich bei der Materie beginnt, aus der dann Leben, Geist und Spirituelles emergiert. In taditionellen philosophischen und spirituellen Texten, beginnt diese Entwicklung genau auf der anderen Seite, beim GEIST der dann über die Weltseele sich immer mehr zur Materie verdichtet. Wilber hält nun extrem viel von den spirituellen Sichtweisen, die er zum einen Jahrzehnte selbst praktiziert und zum anderen theoretisch sehr gut kennt. In der Holon-Theorie versuchte er diese beiden Sichtweisen fusionieren, leider ist das misslungen, was man aber erst auf den zweiten Blick erkennt und die Gründe spielen hier keine Rolle.
Ähnlich wie Gabriel stellt sich Wilber gegen die Postmoderne und den physikalistischen Reduktionismus, er hat aber wesentlich klarer benannt, was er unter einem
Holon versteht, als Gabriel klar macht, was ein Sinnfeld sein soll. Auch nach Wilber ist Welt übrigens kein fertiges Ganzes.
Wilber differenziert u.a. die grundlegend/Spanne und bedeutend/Tiefe von Holons. Je grundlegender, desto flacher, je bedeutender, desto tiefer und seltener.
Atome sind flach, der Geist ist tief. Aber er verweist auch in der Grundaussage 9 auf die Abhängigkeit:
Zerstöre irgendeine Holon-Art, und du vernichtest damit alle höheren Holons, aber kein niedrigeres.
(Ken Wilber,
Eros, Kosmos, Logos, Krüger 1997, S. 88)
Das entspricht etwa Nicolai Hartman, hier noch mal von wiki:
Nach Nicolai Hartmann hat sich gerade das, was einst als Reich der Vollkommenheit galt, das Reich der Wesenheiten, deren schwache und unvollkommene Abbilder die empirisch wahrnehmbaren Dinge sind, als das Reich des unvollständigen Seins erwiesen, das nur in der Abstraktion gebildet werden konnte. Dies sei der vielleicht greifbarste Gegensatz zwischen neuer und alter Ontologie.
Quelle
Das zeigt die Abhängigkeit.
Nun kann es sein - und das war Wilbers Inkonsistenz der Holon-Theorie -, dass aber die Reiche gar nicht bottom up aus ihren Vorläufern entstehen, wie Wilber einerseits formuliert und wie wir es in der Regel auch sehen: aus toter Materie emergiert Leben, aus dem Leben der Geist usw., sondern im Gegensatz dazu begeht Wilber hier einen Fehler, der seinen monisitischen Versuch, als Dualismus entlarvt. Denn von der Seele heißt es auf einmal, dass hinreichend begabte Wesen zu ihr durchbrechen ... aber die Seele selbst ist in voller Schönheit auf der anderen Seite schon da, sie entsteht nicht aus den Vorläufern.
Schade für die Holon-Theorie, aber es könnte dennoch wahr sein.
Die Seele wäre dann tatsächlich ein unabhängiges Reich, platonisch, und man würde zu ihr in Kontakt kommen können, wie Frege und Husserl es für das Reich der Logik annahmen. Die Logik sei nicht erfunden, sondern gefunden, so meinten die beiden Philosophen.
Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑ Mo 12. Feb 2018, 08:32
An dieser Stelle wird meines Erachtens klar, warum die "Frage nach dem, was bleibt oder noch ist, wenn man alles Physische aus der Welt entfernt" nicht zielführend ist, sondern irreführend. Denn da die "oberen" Ebenen auf den "unteren" Ebenen aufbauen, wie Heidelberger erläutert, und nicht alle Ebenen physisch sind, würden die tatsächlichen (an sich selbst bestehenden) Phänomene der "oberen" Ebenen zwar verschwinden, wenn man die Ebenen, auf denen sie aufbauen "entfernen" würde, was aber nicht zeigt, dass sie nicht (im weiter oben erläuterten Sinne) ontologisch unabhängig von den unteren Ebenen sind. Dass sie auf tieferen Ebenen aufbauen, heißt also nicht, dass sie nicht ontologisch eigenständig sind.
Ja, das ist Deine Position.
Ich meine aber nun mit Wilber und Hartmann genau das Gegenteil und Herr K. hat einen gute Kompromiss angeboten, nämlich zwischen starker (Un)Abhängigkeit (die Wilber, Hartmann und ich meinen) und schwacher (Un)Abhängigkeit, die Alethos und Du meinen, zu unterscheiden.
Ich sehe nun die schwache (Un)Abhängigkeit als eine epistemische Darstellung an, ihr als eine ontologische.
Für eine ontologische ist es mir zu suspekt, dass mit dem Verschwinden einer Existenzform alle anderen - mehr oder minder unabhängigen - mitbetroffen sind.
Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑ Mo 12. Feb 2018, 08:32
Nach meiner Einschätzung ist die Sichtweise, dass wir es mit verschiedenen Ebenen zu tun haben, weder ein physikalischer Reduktionismus noch ein physikalischer Holismus. Die Ebenen müssen aus sich selbst heraus verstanden werden und dürfen weder "unterminiert" noch "überminiert" werden, ums Harmanns Begriffe zu verwenden. Diese Autoren vertreten also gerade nicht die Sicht, dass die Welt ein physikalisches Ganzes ist, denn das würde die Notwendigkeit von verschiedenen Erklärungsebenen gewissermaßen "von oben" zunichte machen.
Das würde es m.E. nicht. Man könnte sich dann einfach pragmatisch einigen, dass man die (Ebene der Physis/Materie) nicht los wird, sie uns für unsere Erklärungen, wie man eine Neurose therapiert aber überhaupt nichts bringt.
Eine ontologische Alternative wäre, wenn im Irgendwo tatsächlich eine Welt der Seele, der Logik oder des Fiktionalen (oder der Dinge an sich) weit. Der Geist hat Jahrzehnte bis (etwa zwei) Jahrhunderte mächtig an Einfluss verloren, wie Hartmann das m.E. korrekt darstellt, jedoch sehen wir seit etwa 30 Jahren eine Trendwende. Das Versprechen auf eine besseres Morgen, in dem alles aus dem genauer Verständnis kleinster Teilchen heruas viel besser as heute noch erklärt wird, konnte nie eingelöst werde und immer weniger Leute glauben heute noch, dass das je gelingen wird. Ich bin seit zig Jahren überzeugt, dass das prinzipiell nicht gelingen kann, dennoch würde ich bei der Frage nach der Ontologie keine weichen/schwachen Kriterien gelten lassen wollen.