Ontologie der Sachverhalte und Tatsachen

Aspekte metaphysischer Systementwürfe und der Ontologie als einer Grunddisziplin der theoretischen Philosophie können hier diskutiert werden.
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Jörn P Budesheim
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So 28. Sep 2025, 09:09

Pommesbude hat geschrieben :
Sa 27. Sep 2025, 21:42
Jörn P Budesheim hat geschrieben :
Fr 26. Sep 2025, 15:11
Es gibt auch Fiktionen. Es ist beispielsweise eine Tatsache, dass es eine Fiktion namens „Die kleine Meerjungfrau” gibt. Aber Fiktionen könnten gar nicht existieren, wenn niemand an sie denkt.
Metaphysik und andere Märchen


Über die Metaphysik:

Soziale Ordnung prägt Ontologie.
Ontologie stabilisiert soziale Ordnung.
Welterfahrung durchzieht immer beides.
Sprache und Symbolik füllen die Form.

Metaphysik fällt nicht vom Himmel,
sie wächst wie ein Myzel –
unsichtbar verflochten mit Gesellschaft, Sprache und Welt.
Jede Kultur ist ein anderes Geflecht,
jede Kultur zeigt andere Fruchtkörper.

So ist die Doppelfunktion der Metaphysik:
Sie erschließt die Welt – und verschließt sie zugleich.
Dem Inhalt nach verschieden,
identisch in der Form.
Auch die Verneinung der Metaphysik –
bleibt Metaphysik.


Über die Märchen:

Es gibt ein Reservoir menschlicher Fiktionen –
nicht als abstraktes Reich,
sondern als Summe der endlichen Möglichkeiten,
unseres leiblichen, naturgebundenen Bewusstseins
in der endlichen Welt.

Dort existiert „Die kleine Meerjungfrau“ –
als künstlerische Verdichtung einer Möglichkeit im Gesamthorizont menschlicher Welterfahrung.
Kein Märchen ist nur erfunden –
jedes verdichtet Möglichkeiten, die für Menschen ohnehin immer bestehen:
Freude und Leid, Trennung und Wiederkehr, Verlust und Rettung.

Auch Religionen sind nicht bloße Märchen,
es sind die großen, notwendigen Erzählungen:
Verdichtungen von Leben und Tod, Glaube und Hoffnung, dem Einzelnen und der Gemeinschaft.

Fantasie ist kein Reich neben der Welt,
sondern deren Spiegel und Fortsetzung – in Bildern, Geschichten und Möglichkeiten.
In jedem Märchen erscheint das Leben selbst –
und solange Menschen leben und erzählen,
werden Märchen nötig und möglich sein.

Metaphysik und Märchen:
zwei Formen, ein Ursprung –
beide Spiegel fundamentaler Strukturen menschlicher Existenz.
Ich stimme dir hier durchaus in sehr vielem zu: "Kein Märchen ist nur erfunden – jedes verdichtet Möglichkeiten, die für Menschen ohnehin immer bestehen [und von existenzieller Bedeutung sind]: Freude und Leid, Trennung und Wiederkehr, Verlust und Rettung." Im Märchen zeigen sich auch nach meiner Vorstellung oft Wahrheiten, die für uns von existenzieller Bedeutung sein können, selbst wenn die Geschichte, die erzählt wird, sich eben nur im Märchen so abgespielt hat. Allerdings spiegeln sich in Märchen natürlich oft auch die Vorurteile und verfestigten Ordnungen ihrer Zeit. Und ja: solange Menschen leben und Menschen sind, werden sie sich auch Geschichten erzählen, daran habe ich keine Zweifel.

Ich stimme dir auch zu, dass Fantasie kein Reich neben der Welt ist. Wenn man von einem Reich neben der Welt spricht, ist das vermutlich nur metaphorisch gemeint, oder? – denn logisch betrachtet kann nichts außerhalb oder neben der Welt existieren, weil das, was daneben oder außerhalb wäre natürlich schon wieder Teil der Welt wäre. Fantasie ist ganz sicher nicht neben der Welt, sie ist eine unserer Grundkräfte und für uns unverzichtbar: nicht nur, um Märchen zu erzählen oder andere Geschichten, sondern auch, um die Wirklichkeit zu erkennen und zu verstehen. Ich habe schon vor einiger Zeit hier dazu einen Faden angelegt.

Metaphysik fällt nicht vom Himmel,
sie wächst wie ein Myzel –
unsichtbar verflochten mit Gesellschaft, Sprache und Welt.
Jede Kultur ist ein anderes Geflecht,
jede Kultur zeigt andere Fruchtkörper.

Auch hier stimme ich im Großen und Ganzen zu. Allerdings wäre es nicht schlecht, den Ausdruck Metaphysik etwas zu klären. In der Philosophie wird er, wie so oft, uneinheitlich verwendet. Nach meinen Lektüre-Erfahrungen ist aber folgende Verwendung weit verbreitet: In der Metaphysik geht es immer ums Ganze. Ihre typischen Aussagen haben die Form: "Alles ist x." Die Philosophie ist voll davon: Alles ist Wasser; alles besteht aus Atomen und Leere; alles ist Geist; und heutzutage sehr beliebt: alles ist Materie, Energie, Raum und Zeit. In bestimmten Kontexten ist die Physik die angesagte Metaphysik. Solche Vorstellungen fallen keineswegs vom Himmel, wie du zurecht sagst, sondern sind verflochten mit Gesellschaft, Sprache und Weltanschauungen.

Deinem Satz „Auch die Verneinung der Metaphysik bleibt Metaphysik“ würde ich allerdings widersprechen. Für mich ist nicht klar, warum das so sein sollte. Wer glaubt, dass es keine wahren materialen Sätze der Form "Alles ist x" geben kann, betreibt eben keine Metaphysik. Wer – wie ich – der Ansicht ist, dass nicht alles physikalisch ist (wie zum Beispiel Märchen), betreibt meines Erachtens nur Ontologie. Aber nicht jede Frage danach, was es gibt, oder was „existieren“ überhaupt bedeutet, ist schon Metaphysik im oben skizzierten Sinn. Ontologie kann also, so verstehe ich sie, auch ganz ohne Metaphysik auskommen.

Dieser Faden heißt z.b Ontologie der Tatsachen und wer glaubt, dass Tatsachen abstrakte Entitäten sind, betreiben damit meines Erachtens ist nicht automatisch Metaphysik. Wie gesagt: dazu müsste man die Begriffe vielleicht noch etwas genauer klären. In manchen Kontexten wird die Ontologie auch als Teilbereich der Metaphysik betrachtet.

Aus einer Vorlesung ist mir folgendes schöne Wort in Erinnerung geblieben: "Metahysik ist immer das was die anderen machen." :) das mag von der Tendenz her stimmen, aber soweit ich mich entsinne, gesteht Consol durchaus zu, dass sein Physikalismus ein metaphysische Position ist. Allerdings hält er auch meine Position für eine metaphysische.




Timberlake
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So 28. Sep 2025, 13:36

Consul hat geschrieben :
So 28. Sep 2025, 02:13
Consul hat geschrieben :
Fr 26. Sep 2025, 06:32

Die oben erwähnte vierte Möglichkeit wird [in dem SEP-Artikel über Tatsachen] nicht erwähnt: "A fact is just a real event or thing."
"Thatsache, das wirklich Geschehene oder Daseiende."

(Herders Conversations-Lexikon. Bd. 5: S bis Zytomierz. Freiburg: Herder'sche Verlagshandlung, 1857. S. 446.)
In dem hier über eine Ontologie der Sachverhalte .. UND! .. Tatsachen diskutiert wird, sei an dieser Stelle einmal auf die Boolesche Algebra aufmerksam gemacht.

electronics-tutorials.ws hat geschrieben :
Logik UND Funktion

Die output der Logik UND Funktion ist wahr, wenn alle ihre Eingaben wahr sind, ansonsten ist die output falsch

Die Boolesche Algebra beschäftigt sich hauptsächlich mit der Theorie, dass sowohl logische als auch Mengenoperationen entweder „WAHR“ oder „FALSCH“ sind, aber nicht beides gleichzeitig.

Zum Beispiel, A + A = A und nicht 2A wie in der normalen Algebra. Die Boolesche Algebra ist eine einfache und effektive Möglichkeit, die Schaltfunktion von Standard-Logikgates darzustellen und die grundlegenden logischen Aussagen, die uns hier betreffen, werden durch die logischen Verknüpfungen der UND-, ODER– und NICHT-Gatterfunktionen gegeben.
  • "Thatsache, das wirklich Geschehene oder Daseiende."Herders Conversations-Lexikon
  • "Sachverhalt" , im Unterschied zu einem Ding ein abstrakter und in dem Sinn komplexer Gegenstand, dass er sprachlich nur mit einem Dass-Satz bzw. einem substantivierten Infinitiv bezeichnet werden kann " spektrum.de/lexikon/philosophie/sachverhalt"
Demzufolge müssten Thatsachen .. UND! .. Sachverhalte als Eingaben wahr sein, wenn sie als Output richtig sein sollen. Demzufolge also Thatsachen und Sachverhalte meiner Meinung nach stets zusammen gedacht werden müssen.

Consul hat geschrieben :
Sa 27. Sep 2025, 00:07
Jörn P Budesheim hat geschrieben :
Fr 26. Sep 2025, 14:27
@consul, ich hatte dich an anderer Stelle gefragt, was du eigentlich unter "existieren" verstehst. Ich habe jetzt nicht nachgeschaut, aber sinngemäß hast du nach meiner Erinnerung gesagt, dass existieren ein undefinierbarer Grundbegriff ist. Aber eigentlich denkst du doch, dass "existieren" bedeutet: materiell sein, oder?
Nein, das denke ich nicht. Als Materialist/Physikalist sage ich zwar, dass alles Existierende materiell/physisch ist; aber damit sage ich keineswegs, dass "existieren" und "materiell/physisch sein" synonym sind.
Als solches sage ich als dialektischer Materialist , dass materiell/physisch (synonym für Sachverhalt) und existieren (synonym für Thatsachen ) obgleich nicht synonym, dennoch gleichfalls zusammen gedacht werden müssen, wenn man gemäß der Boolesche Algebra zu richtigen bzw. falschen Aussagen kommen will. Vorausgesetzt natürlich, dass man Thatsachen und Sachverhalte auf diese Weise (synonym) bzw. gemäß dem o.g. Eintrag in "Herders Conversations-Lexikon" und "spektrum.de/lexikon/philosophie/sachverhalt" überhaupt trennen kann. Das man sie durchaus auch auf andere Weise trennen kann - siehe Beitrag 95257. In dem bis Dato eine Reaktion darauf ausblieb , stehen die Chancen dafür jedenfalls nicht schlecht. Zumal wir hier mit Jörn, Consul und Pommesbude bezüglich dessen Koryphäen am Start haben.




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Consul
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So 28. Sep 2025, 15:20

Jörn P Budesheim hat geschrieben :
Sa 27. Sep 2025, 12:27
Ich hatte es, glaube ich, schon einmal erwähnt, und ich möchte auch nicht übertrieben polemisch wirken, sorry aber nach meiner Ansicht ist der Naturalismus selbst eine Form von Religion – man könnte ihn vielleicht als säkulare Religion bezeichnen.
Tja, es kommt darauf an, was du unter Religion verstehst; aber das müssen wir hier nicht weiter besprechen.
Jörn P Budesheim hat geschrieben :
Sa 27. Sep 2025, 12:27
Die These, natürliche Sprache beziehe sich nur am Rande auf abstrakte Gegenstände, steht nach meiner Ansicht im Widerspruch zur Alltagspraxis. Tatsächlich ist der Bezug auf Abstraktes für mich selbstverständlich und völlig unproblematisch: Wir sprechen über Zahlen („7 ist größer als 5“), Werte („Gerechtigkeit ist wichtig“), Wahrheit, Tatsachen und vieles andere mehr.
Daraus, dass wir über etwas sprechen, folgt weder, dass es existiert, noch, dass unser Sprechen darüber immer mit einer ernsthaften ontologischen Festlegung (ontological commitment) einhergeht.

In der indischen Philosophie gibt es die Lehre von den Zwei Wahrheiten:
"Das Wissen um die konventionelle Wahrheit informiert uns darüber, wie die Dinge aus der Perspektive des gewöhnlichen gesunden Menschenverstands konventionell sind, und begründet somit unsere epistemische Praxis in ihrem angemessenen sprachlichen und konzeptuellen konventionellen Rahmen. Das Wissen um die ultimative Wahrheit informiert uns darüber, wie die Dinge aus der Perspektive der ultimativen Analyse wirklich sind, und führt unseren Geist somit über die Grenzen konzeptueller und sprachlicher Konventionen hinaus." [Übersetzt mit DeepL.com]

SEP: Die Theorie der zwei Wahrheiten in Indien [Google Translate]
Im Kontext der Ontologie unterscheidet David Chalmers zwischen "ordinary existence assertions" ("gewöhnlichen Existenzbehauptungen") und "ontological existence assertions" ("ontologischen Existenzbehauptungen").
Entsprechend könnte man zwischen einer "Oberflächenontologie" und einer "Tiefenontologie" (meine Ausdrücke) unterscheiden und bestreiten, dass es eine 1:1-Entsprechung zwischen Ersterer und Letzterer gibt.
Dass es Zahlen und Werte gibt, mag Teil der ontologisch oberflächlichen "konventionellen Wahrheit" sein, aber (aus meiner Sicht) ist es nicht Teil der ontologisch tiefgründigen "ultimativen Wahrheit".
"Eine gewöhnliche Existenzbehauptung ist in erster Näherung eine Existenzbehauptung, wie sie typischerweise in gewöhnlichen Diskussionen erster Ordnung des relevanten Themas aufgestellt wird. Beispielsweise ist die Aussage eines typischen Mathematikers: „Es gibt vier Primzahlen kleiner als zehn“ eine gewöhnliche Existenzbehauptung, wie die Aussage eines typischen Trinkers: „Es stehen drei Gläser auf dem Tisch.“

Eine ontologische Existenzbehauptung ist in erster Näherung eine Existenzbehauptung, wie sie typischerweise in einer breit angelegten philosophischen Diskussion aufgestellt wird, in der ontologische Überlegungen im Vordergrund stehen. Beispielsweise ist die typische philosophische Aussage: „Abstrakte Objekte existieren“ eine ontologische Existenzbehauptung, ebenso wie die typische philosophische Aussage: „Für jede Menge von Objekten existiert ein Objekt, das ihre mereologische Summe darstellt.“

Wir können uns ontologische Existenzbehauptungen als solche vorstellen, die innerhalb des „Ontologieraumes“ aufgestellt werden, und gewöhnliche Existenzbehauptungen als solche, die außerhalb des Ontologieraumes aufgestellt werden. Zumindest besteht ein klarer pragmatischer Unterschied zwischen diesen beiden Arten von Behauptungen. Beispielsweise ist es angesichts der ontologischen Aussage: „Es gibt unendlich viele Primzahlen“ angemessen zu antworten: „Nein, gibt es nicht, denn wenn Zahlen existieren, sind sie abstrakte Objekte, und es gibt keine abstrakten Objekte.“ Aber angesichts einer gewöhnlichen Behauptung wie „Es gibt unendlich viele Primzahlen“ ist es nicht angemessen, so zu antworten." [Google Translate]

(Chalmers, David J. "Ontological Anti-Realism." In Metametaphysics: New Essays on the Foundations of Ontology, edited by David J. Chalmers, David Manley, and Ryan Wasserman, 77-129. Oxford: Oxford University Press, 2009. p. 81)



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So 28. Sep 2025, 15:37

Timberlake hat geschrieben :
Sa 27. Sep 2025, 13:59
Nur (und das war „in diesem Sinne” mein Punkt in dem Beitrag95239 ) in dem etwas , wie der Eifellturm, existiert ging mit dem existieren , eine Tätigkeit und infolge dessen eine Tat der Sache "Eifelturm" voraus. Wie übrigens dem wiederum , mit dem denken , eine Tätigkeit und infolge dessen eine Tat der Sache "der Eifelturm existiert " vorausging,
"Die Thatsache, Mz. –n, eine Sache, welche in einer That bestehet, eine wirklich geschehene, vorgefallene Sache (Factum)"

CAMPE: https://woerterbuchnetz.de/?sigle=Campe&lemid=T01499
Die uralte wörtliche Bedeutung, der gemäß eine Tatsache (als factum) in einem Tun, einer Tätigkeit besteht, damit einhergeht oder daraus hervorgeht, ist seit langem völlig verblasst und spielt in der zeitgenössischen Ontologie der Tatsachen keinerlei Rolle.



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Jörn P Budesheim
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So 28. Sep 2025, 15:37

Consul hat geschrieben :
So 28. Sep 2025, 15:20
Daraus, dass wir über etwas sprechen, folgt weder, dass es existiert, noch, dass unser Sprechen darüber immer mit einer ernsthaften ontologischen Festlegung (ontological commitment) einhergeht.
Na doch, genau das folgt. Würde es nicht existieren, könnten wir auch nicht darüber sprechen. Ich schätze mal genau aus diesem Grund, gibt es auch das sog. Rätsel der Nichtexistenz.

"...wissen wir nicht, wohin oder an was wir denken sollen, wenn wir sagen, dass etwas oder jemand schlechthin nicht existiert. Das liegt freilich daran, dass wir, insofern wir von etwas und jemandem sprechen oder denken, schon damit auch dessen Existenz gesetzt haben."
...
"Was würde, ja könnte denn nicht existieren? Nichts. Was, umgekehrt, existiert überhaupt? Alles."

(Andreas Luckner und Sebastian Ostritsch, Existenz, Grundthemen Philosophie, de Gruyter)

Das gehört übrigens zu dem Vorzügen der Sinnfeld-Ontologie von Markus Gabriel, darauf eine Antwort zu haben.




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So 28. Sep 2025, 16:20

Jörn P Budesheim hat geschrieben :
Fr 26. Sep 2025, 15:11
... In diesem Sinne des Begriffs „Tatsache“ ist der Eiffelturm, da er unabhängig davon existiert, dass jemand an ihn denkt, eine Tatsache, während Meerjungfrauen und quadratische Kreise, da sie dies nicht tun, keine Tatsachen sind." (Lemos, Ramon)

Nur dasjenige ist „in diesem Sinne” eine Tatsache, was unabhängig davon existiert, dass jemand daran denkt. Dass ich jedoch an den Eiffelturm denke, ist ebenfalls eine Tatsache, die offensichtlich nicht unabhängig davon besteht, dass ich entsprechendes denke.
Lemos schreibt im Anschluss an das oben Zitierte: "Denkakte über Meerjungfrauen oder Quadratkreise sind Tatsachen, da sie auftreten können, ohne dass man an sie selbst denkt." – Das heißt, auch dein Denken an den Eiffelturm ist eine Tatsache in Lemos' Sinn, weil es unabhängig davon stattfindet, ob du an dein Denken an den Eiffelturm denkst, während du an den Eiffelturm denkst – was wohl gleichzeitig gar nicht möglich wäre.
Jörn P Budesheim hat geschrieben :
Fr 26. Sep 2025, 15:11
Es gibt auch Fiktionen. Es ist beispielsweise eine Tatsache, dass es eine Fiktion namens „Die kleine Meerjungfrau” gibt. Aber Fiktionen könnten gar nicht existieren, wenn niemand an sie denkt. Sie existieren nur im Modus der Interpretation von Menschen (oder Wesen, die das sehen können). Es ist sinnlos, diese Dinge aus dem Bereich der Tatsachen auszuschließen.
Zu sagen, dass das Andersen-Märchen "Die kleine Meerjungfrau" als fiktionaler Text existiere, ist eine Sache; und zu sagen, dass die kleine Meerjungfrau als fiktive Person existiere, ist eine andere. Aus meiner Sicht gibt es fiktionale Texte als abstrakte Texttypen und fiktive Personen höchstens im "oberflächenontologischen" Sinn, aber nicht im "tiefenontologischen" Sinn, in welchem es sie nicht wirklich gibt.
Jörn P Budesheim hat geschrieben :
Fr 26. Sep 2025, 15:11
Dass ich Steuern zahlen muss, ist offensichtlich eine Tatsache. Wenn ich versuche, diese Tatsache aus der Welt zu schaffen, indem ich fest daran denke, dann komme ich ziemlichen Ärger ... und wenn ich nicht daran denke, gibt es auch Probleme :)
Du gehst ja davon aus, dass Tatsachen wahre Aussagen oder Gedanken (Propositionen) sind. Dann stellt sich die Frage, welche gesellschaftlichen und rechtlichen Umstände für diese Tatsache verantwortlich sind.
"umstände (umstand) als verhältnisse, lage, situation, wovon dann meistens ein ergebnis bedingt wird."

GRIMM: https://www.dwds.de/wb/dwb/umstand
Apropos, interessanterweise verwendet Frege das Wort "Umstand" in seiner berühmten Begriffsschrift (1879) zur Bezeichnung einer sachverhaltsähnlichen "Vorstellungsverbindung", die zu einem Urteilsinhalt werden kann.
"Ein Urtheil werde immer mit Hilfe des Zeichens
——
ausgedrückt, welches links von dem Zeichen oder der Zeichenverbindung steht, die den Inhalt des Urtheils angiebt. Wenn man den kleinen senkrechten Strich am linken Ende des wagerechten fortlässt, so soll dies das Urtheil in eine blosse Vorstellungsverbindung verwandeln, von welcher der Schreibende nicht ausdrückt, ob er ihr Wahrheit zuerkenne oder nicht. Bedeute z. B.
|—— A
das Urtheil: "die ungleichnamigen Magnetpole ziehen sich an"; dann wird
—— A
nicht dies Urtheil ausdrücken, sondern lediglich die Vorstellung von der gegenseitigen Anziehung der ungleichnamigen Magnetpole in dem Leser hervorrufen sollen, etwa um Folgerungen daraus zu ziehen und an diesen die Richtigkeit des Gedankens zu prüfen. Wir umschreiben in diesem Falle durch die Worte "der Umstand, dass" oder oder "der Satz, dass"."

(Frege, Gottlob. Begriffsschrift. [1879.] In Begriffsschrift und andere Aufsätze, 2. Aufl., hrsg. v. Ignacio Angelelli. Hildesheim: Olms, 1993. S. 1-2)



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So 28. Sep 2025, 16:59

Jörn P Budesheim hat geschrieben :
So 28. Sep 2025, 07:17
Consul hat geschrieben :
Sa 27. Sep 2025, 00:01
In der armstrongschen Sachverhaltsontologie genießen Sachverhalte als Ganzheiten in der Tat ontologische Priorität gegenüber Dingen und Eigenschaften/Beziehungen als ihren Bestandteilen.
Ja, aber wie soll das möglich sein? Bzw in welcher Hinsicht soll das möglich sein. Wenn wenn es einen Gegenstand gibt, dann gibt es unvermeidlich auch eine Tatsache, also etwas was über diesen Gegenstand wahr ist. Und wenn es Tatsachen gibt, dann gibt es unvermeidlich Gegenstände, die darin angewendet sind. Das meint: Tatsache und Gegenstand hängen voneinander ab, das eine kann es nicht ohne das andere geben.
Armstrongsche (bestehende) Sachverhalte oder Tatsachen sind wohlgemerkt keine wahren Propositionen. Propositionen sind abstrakte repräsentationale Entitäten, wohingegen armstrongsche Sachverhalte/Tatsachen konkrete nichtrepräsentationale Entitäten sind.
Es mag propositionale Tatsachen (wahre fregesche Gedanken) über Armstrongs nichtpropositionale Tatsachen geben, aber es handelt sich hier um ontologisch verschiedene Arten von Tatsachen.

Laut Armstrong kommen einzelne Dinge/Gegenstände und Eigenschaften/Beziehungen wesensmäßig stets als Bestandteile von Sachverhalten/Tatsachen vor. Es gibt ihm nach also weder Dinge/Gegenstände noch Eigenschaften/Beziehungen, die nicht Teil irgendwelcher Sachverhalte/Tatsachen sind.
"Die Hypothese dieser Arbeit ist, dass die Welt, alles, was existiert, eine Welt von Sachverhalten ist. Andere, insbesondere Wittgenstein, haben gesagt, die Welt sei eine Welt von Tatsachen und nicht eine Welt von Dingen. Diese Thesen sind im Wesentlichen dieselben, wenn auch unterschiedlich formuliert.

Ich werde für die folgende allgemeine Struktur von Sachverhalten argumentieren: Ein Sachverhalt existiert genau dann, wenn eine (später als dünne Partikularie bezeichnete) Partikularie [Einzelding] eine Eigenschaft besitzt, oder stattdessen eine Beziehung zwischen zwei oder mehr Partikularien [Einzeldingen] besteht. Jeder Sachverhalt und jeder Bestandteil jedes Sachverhalts, d.h. die Einzeldinge, Eigenschaften, Beziehungen und, im Fall von Sachverhalten höherer Ordnung, die Sachverhalte niedrigerer Ordnung, ist eine kontingente Entität. Die Eigenschaften und die Beziehungen sind Universalien, keine Partikularien. Die Beziehungen sind alle externe Beziehungen.

Es ist sinnvoll, molekulare Sachverhalte zuzulassen. Diese sind jedoch bloße Konjunktionen (niemals Negationen oder Disjunktionen) der ursprünglichen Sachverhalte. Molekulare Sachverhalte stellen keine ontologische Ergänzung zu ihren Konjunkten dar." [Google Translate]

(Armstrong, D. M. A World of States of Affairs. Cambridge: Cambridge University Press, 1997. p. 1)



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So 28. Sep 2025, 17:08

Jörn P Budesheim hat geschrieben :
So 28. Sep 2025, 15:37
Consul hat geschrieben :
So 28. Sep 2025, 15:20
Daraus, dass wir über etwas sprechen, folgt weder, dass es existiert, noch, dass unser Sprechen darüber immer mit einer ernsthaften ontologischen Festlegung (ontological commitment) einhergeht.
Na doch, genau das folgt. Würde es nicht existieren, könnten wir auch nicht darüber sprechen. Ich schätze mal genau aus diesem Grund, gibt es auch das sog. Rätsel der Nichtexistenz.
"...wissen wir nicht, wohin oder an was wir denken sollen, wenn wir sagen, dass etwas oder jemand schlechthin nicht existiert. Das liegt freilich daran, dass wir, insofern wir von etwas und jemandem sprechen oder denken, schon damit auch dessen Existenz gesetzt haben."

(Andreas Luckner und Sebastian Ostritsch, Existenz, Grundthemen Philosophie, de Gruyter)
Nein, haben wir nicht! Denn, wie gesagt, die Möglichkeit des (sinnvollen) Sprechens oder Denkens von/über etwas setzt mitnichten dessen Dasein voraus. Im bloßen Gedachtsein/-werden ist das Dasein des Denkens und des Denkers eingeschlossen, aber nicht das Dasein des Gedachten.



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So 28. Sep 2025, 19:26

Zur Ontologie der Propositionen (propositionalen Sachverhalte):
"Propositionen sind Informationen [pieces of information], die behauptet oder ausgedrückt werden. Sie sind die primären Träger von Wahrheitsbedingungen, die von Sätzen oder Äußerungen übernommen werden, die sie ausdrücken.

Verschiedene Sätze können natürlich dieselben Propositionen ausdrücken, die angenommen, behauptet, gewusst oder geglaubt werden können. Was sind Propositionen, und in welcher Beziehung stehen Sätze oder Äußerungen zu ihnen? Eine naturalistische Darstellung muss es vermeiden, Propositionen als Bewohner eines platonischen dritten Reichs jenseits von Geist und Materie zu charakterisieren—ohne eine Erklärung, wie wir zu Einstellungen zu ihnen gelangen, wie wir sie kennen und Dinge über sie erfahren. Es wäre schön, wenn man die Rede von den durch Sätze ausgedrückten Propositionen einfach als Rede von Sätzen auf einer Abstraktionsebene betrachten könnte, die sie anhand ihrer repräsentationalen Merkmale gruppiert. Da Propositionen jedoch ein Leben jenseits der Sprache haben, kann dies nicht die ganze Geschichte sein. Eine Herausforderung für jede plausible Theorie der Propositionen besteht darin, ihre Unabhängigkeit von der Sprache zu wahren, ohne sie in ewige, unveränderliche, repräsentationale Inhalte zu verwandeln, die durch eine jenseitige Ausdrucksbeziehung irgendwie mit Sätzen verbunden werden." [Google Translate]

(Soames, Scott. "Cognitive Propositions." In: Jeffrey C. King, Scott Soames, & Jeff Speaks, New Thinking about Propositions, 91-124. New York: Oxford University Press, 2014. p. 92)
Hm…, mir ist allerdings nicht klar, wie sich Propositionen als Informationsgebilde oder Informationsgehalte (von Aussagesätzen) "naturalisieren" oder "konkretisieren" lassen, welche einerseits keine "Bewohner eines platonischen dritten Reichs jenseits von Geist und Materie" sind, aber andererseits "ein Leben jenseits der Sprache haben."



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So 28. Sep 2025, 19:37

Consul hat geschrieben :
So 28. Sep 2025, 19:26
Zur Ontologie der Propositionen (propositionalen Sachverhalte):…
Es sollte klar zwischen Sachverhalten und Propositionen als "Begriffsverhalten" oder "Sinnverhalten" unterschieden werden. Fregesche Gedanken als Sinne oder (nichtfregesche) Bedeutungen von Aussagesätzen sind Sinnverhalte.



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Mo 29. Sep 2025, 08:22

Consul hat geschrieben :
So 28. Sep 2025, 16:20
Lemos schreibt im Anschluss an das oben Zitierte: "Denkakte über Meerjungfrauen oder Quadratkreise sind Tatsachen, da sie auftreten können, ohne dass man an sie selbst denkt." – Das heißt, auch dein Denken an den Eiffelturm ist eine Tatsache in Lemos' Sinn, weil es unabhängig davon stattfindet, ob du an dein Denken an den Eiffelturm denkst, während du an den Eiffelturm denkst – was wohl gleichzeitig gar nicht möglich wäre.
Das scheint mir eine ziemliche Verrenkung zu sein, die ich nicht akzeptiere. Wenn ich an die Meerjungfrau denke, dann geschieht das offensichtlich nicht unabhängig vom Denken. Dieses Prädikat mag für manche Zusammenhänge bedeutsam sein, aber es ist nicht generell dafür relevant, dass etwas als Tatsache angesehen werden kann, weil wir dann mit unseren Gedanken und deren Inhalten in die Bredouille kommen.
Consul hat geschrieben :
So 28. Sep 2025, 16:20
Zu sagen, dass das Andersen-Märchen "Die kleine Meerjungfrau" als fiktionaler Text existiere, ist eine Sache; und zu sagen, dass die kleine Meerjungfrau als fiktive Person existiere, ist eine andere.
Das erste sage ich, das zweite sage ich nicht. Was ich sage ist: "Die kleine Meerjungfrau" kommt in dem gleichnamigen Märchen vor (kommt vor = existiert). Es ist meines Erachtens schlechterdings unmöglich zu akzeptieren, dass es das Märchen "Die kleine Meerjungfrau" gibt, aber nicht zu akzeptieren, dass die Tochter des Meereskönigs im Märchen vorkommt, weil das Märchen ja aus nichts anderem als den Figuren und Handlungen besteht. Gibt es diese nicht, gibt es das Märchen nicht. Die kleine Meerjungfrau ist auch keine fiktive Person, sondern eine Figur in der Fiktion "Die kleine Meerjungfrau".
Consul hat geschrieben :
So 28. Sep 2025, 16:20
Du gehst ja davon aus, dass Tatsachen wahre Aussagen oder Gedanken (Propositionen) sind. Dann stellt sich die Frage, welche gesellschaftlichen und rechtlichen Umstände für diese Tatsache verantwortlich sind.
Das wäre ein Faden über Sozialontologie, das können wir gerne mal machen.




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Consul hat geschrieben :
So 28. Sep 2025, 19:26
"... Bewohner eines platonischen dritten Reichs jenseits von Geist und Materie ..." (Scott Soames)
Wenn Tatsachen abstrakt sind, können sie nicht in einem Jenseits sein. Wenn man ihnen unbedingt einen Ort geben will, dann würde ich metaphorisch sagen, dass Tatsachen einfach überall sind. Dass wir Soames Informationen erkennen können, ist überhaupt kein Wunder und kein Problem, finde ich - wenn man nicht zuvor eine Metaphysik gesetzt hat, die deren Existenz anschließt. Aber die Wirklichkeit ist an jeder Ecke informativ ...




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Consul hat geschrieben :
So 28. Sep 2025, 17:08
Nein, haben wir nicht!
Doch haben wir :-)

Denn: "... insofern wir von etwas und jemandem sprechen oder denken, haben wir damit auch schon dessen Existenz gesetzt." Das halte ich für offensichtlich. Es ist auch nur dann ein Problem, wenn man (wie du) nur einen einzigen Wirklichkeitsbereich annimmt. Aber damit handelt man sich dann solche Probleme wie das Rätsel der Nichtexistenz ein. Andreas Luckner und Sebastian Ostritsch, drücken es in "Existenz, Grundthemen Philosophie" sehr gut aus, finde ich: "Was würde, ja könnte denn nicht existieren? Nichts. Was, umgekehrt, existiert überhaupt? Alles." Genau so ist es.




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Mo 29. Sep 2025, 10:49

Jörn P Budesheim hat geschrieben :
Mo 29. Sep 2025, 08:22
Consul hat geschrieben :
So 28. Sep 2025, 16:20
Lemos schreibt im Anschluss an das oben Zitierte: "Denkakte über Meerjungfrauen oder Quadratkreise sind Tatsachen, da sie auftreten können, ohne dass man an sie selbst denkt." – Das heißt, auch dein Denken an den Eiffelturm ist eine Tatsache in Lemos' Sinn, weil es unabhängig davon stattfindet, ob du an dein Denken an den Eiffelturm denkst, während du an den Eiffelturm denkst – was wohl gleichzeitig gar nicht möglich wäre.
Das scheint mir eine ziemliche Verrenkung zu sein, die ich nicht akzeptiere. Wenn ich an die Meerjungfrau denke, dann geschieht das offensichtlich nicht unabhängig vom Denken. Dieses Prädikat mag für manche Zusammenhänge bedeutsam sein, aber es ist nicht generell dafür relevant, dass etwas als Tatsache angesehen werden kann, weil wir dann mit unseren Gedanken und deren Inhalten in die Bredouille kommen.
Was Lemos meint, ist, dass wenn du dir den Eiffelturm oder eine Meerjungfrau vorstellst, deine Vorstellung nicht selbst zu einem Gegenstand einer (anderen) Vorstellung werden muss. Das heißt, deine Eiffelturm- oder Meerjungfrau-Vorstellung ist als Vorstellung erster Ordnung eine Tatsache in Lemos' erstem Sinn von "Tatsache", weil sie nicht davon abhängig ist, Gegenstand einer Vorstellung zweiter Ordnung zu sein.
Jörn P Budesheim hat geschrieben :
Mo 29. Sep 2025, 08:22
Consul hat geschrieben :
So 28. Sep 2025, 16:20
Zu sagen, dass das Andersen-Märchen "Die kleine Meerjungfrau" als fiktionaler Text existiere, ist eine Sache; und zu sagen, dass die kleine Meerjungfrau als fiktive Person existiere, ist eine andere.
Das erste sage ich, das zweite sage ich nicht. Was ich sage ist: "Die kleine Meerjungfrau" kommt in dem gleichnamigen Märchen vor (kommt vor = existiert). Es ist meines Erachtens schlechterdings unmöglich zu akzeptieren, dass es das Märchen "Die kleine Meerjungfrau" gibt, aber nicht zu akzeptieren, dass die Tochter des Meereskönigs im Märchen vorkommt, weil das Märchen ja aus nichts anderem als den Figuren und Handlungen besteht. Gibt es diese nicht, gibt es das Märchen nicht. Die kleine Meerjungfrau ist auch keine fiktive Person, sondern eine Figur in der Fiktion "Die kleine Meerjungfrau".
Doch, die kleine Meerjungfrau ist eine fiktive Person. Es hat nie ein reales Mädchen gegeben, das die kleine Meerjungfrau war.
Du kannst sagen: Es gibt einen fiktionalen Text mit dem Titel "Die kleine Meerjungfrau", laut dem eine kleine Meerjungfrau existiert. Die kleine Meerjungfrau existiert aber nicht wirklich, weil sie nur einer unwahren Erzählung nach existiert. Sie wird darin erwähnt, aber sie kommt darin nicht leibhaftig vor, da ein Text über eine Meerjungfrau keine Meerjungfrau enthalten kann, sondern nur das Wort "Meerjungfrau" und den Namen "die kleine Meerjungfrau."



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Mo 29. Sep 2025, 11:11

Jörn P Budesheim hat geschrieben :
Mo 29. Sep 2025, 08:30
Consul hat geschrieben :
So 28. Sep 2025, 19:26
"... Bewohner eines platonischen dritten Reichs jenseits von Geist und Materie ..." (Scott Soames)
Wenn Tatsachen abstrakt sind, können sie nicht in einem Jenseits sein. Wenn man ihnen unbedingt einen Ort geben will, dann würde ich metaphorisch sagen, dass Tatsachen einfach überall sind. Dass wir Soames Informationen erkennen können, ist überhaupt kein Wunder und kein Problem, finde ich - wenn man nicht zuvor eine Metaphysik gesetzt hat, die deren Existenz anschließt. Aber die Wirklichkeit ist an jeder Ecke informativ ...
Mit Soames' nichtplatonistischer Propositionstheorie habe ich mich noch nicht näher befasst. Für ihn sind Propositionen "intrinsisch prädikationale Typen kognitiver Akte" ("intrinsically predicational cognitive act types"). Noch Fragen? ;)
"Propositionen sind wiederholbare, rein repräsentative, kognitive Akttypen oder Operationen; eine Proposition im Geist zu hegen, bedeutet nicht, sie zu erkennen, sondern sie auszuführen. Wenn ich o als rot wahrnehme oder daran denke, prädiziere ich rot von o, d. h., ich repräsentiere o als rot. Dies kann man nicht-sprachlich tun, indem man das Objekt als rot wahrnimmt, visualisiert oder sich vorstellt. Man kann dies auch sprachlich tun, indem man die Worte ‚ist rot‘ verwendet, um Röte vom Referenten eines Namens zu prädizieren – unabhängig davon, ob man jemals nicht-sprachlichen Kontakt mit dem Objekt oder der Eigenschaft hatte oder nicht. Da dies unterschiedliche Möglichkeiten sind, dieselbe Eigenschaft von derselben Sache zu prädizieren, lernen wir mehr über diese primitive repräsentative Beziehung, indem wir mehr über Wahrnehmung, Visualisierung, Vorstellungskraft und sprachliche Kognition lernen." [Google Translate mit Änderungen meinerseits]

(Soames, Scott. "Cognitive Propositions: Metaphysics, Epistemology, and Empirical Adequacy." In The Routledge Handbook of Propositions, ed. by Adam Russell Murray & Chris Tillman, 278-290. New York: Routledge, 2023. p. 283)
Ich lass das mal so stehen…

Das "jenseitige" "dritte Reich" abstrakter Entitäten ist nicht im wörtlichen Sinn ein anderer Ort oder Raum. Wenn Tatsachen als wahre Propositionen oder Informationen platonistische Abstrakta sind, dann sind sie nicht überall, sondern nirgends.

Übrigens, Armstrong schreibt über die Verortung seiner nichtpropositionalen Sachverhalte/Tatsachen Folgendes:
"Manche haben die Ansicht vertreten, Sachverhalte (Tatsacheb) seien nicht lokalisiert [.] ([u.a. Reinhardt] Grossmann…). Und tatsächlich ist es wahr, dass einige Aspekte unseres Diskurses die Vorstellung begünstigen, dass Sachverhalte nicht lokalisiert sind. Wenn wir gefragt werden, wo wir die Tatsache verorten würden, dass Brisbane nördlich von Sydney liegt, sind wir etwas ratlos. Gleichzeitig scheinen Sachverhalte mit Partikularien erster Ordnung, insbesondere monadische Sachverhalte mit solchen Partikularien, in gewisser Weise lokalisiert zu sein, nämlich dort, wo diese Partikularien lokalisiert sind. In 8.8 haben wir versucht, diese etwas verwirrende Situation zu erklären, indem wir darauf hinwiesen, dass Dinge in der Raumzeit lokalisiert sein sollen, dass aber, wenn eine faktualistische Ontologie korrekt ist, die Raumzeit aus einer Ansammlung von Sachverhalten besteht (damit identisch ist). Es mag daher streng genommen falsch, aber dennoch einigermaßen verständlich sein, Sachverhalte innerhalb des Dings zu verorten, für dessen Konstitution sie zuständig sind." [Google Translate mit Änderungen meinerseits]

(Armstrong, D. M. A World of States of Affairs. Cambridge: Cambridge University Press, 1997. pp. 188-9)
Die (nichtpropositionale) Tatsache, dass der Eiffelturm 330m hoch ist, befindet sich entsprechend dort, wo der Eiffelturm ist.



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Timberlake
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Mo 29. Sep 2025, 13:21

Consul hat geschrieben :
So 28. Sep 2025, 15:37
Timberlake hat geschrieben :
Sa 27. Sep 2025, 13:59
Nur (und das war „in diesem Sinne” mein Punkt in dem Beitrag95239 ) in dem etwas , wie der Eifellturm, existiert ging mit dem existieren , eine Tätigkeit und infolge dessen eine Tat der Sache "Eifelturm" voraus. Wie übrigens dem wiederum , mit dem denken , eine Tätigkeit und infolge dessen eine Tat der Sache "der Eifelturm existiert " vorausging,
"Die Thatsache, Mz. –n, eine Sache, welche in einer That bestehet, eine wirklich geschehene, vorgefallene Sache (Factum)"

CAMPE: https://woerterbuchnetz.de/?sigle=Campe&lemid=T01499
Die uralte wörtliche Bedeutung, der gemäß eine Tatsache (als factum) in einem Tun, einer Tätigkeit besteht, damit einhergeht oder daraus hervorgeht, ist seit langem völlig verblasst und spielt in der zeitgenössischen Ontologie der Tatsachen keinerlei Rolle.

Das mag ja so sein, dass das seit langem völlig verblasst ist und in der zeitgenössischen Ontologie der Tatsachen keinerlei Rolle mehr spielt. . Entscheidend ist es jedoch, ob es tatsächlich zutrifft, dass, wie von mir hier anhand des Eifelturms beschrieben, bei einer Tatsache, eine Tätigkeit der Sache vorausgeht. Um an dieser Stelle übrigens zugleich auf den Unterschied zu .. "einer Sache, welche in einer That bestehet, eine wirklich geschehene, vorgefallene Sache" .. aufmerksam zu machen. Wie dem auch sei, für mich klingt jedenfalls beides plausibel. Insofern ich doch schon sehr gespannt darauf wäre, weil in der zeitgenössischen Ontologie der Tatsachen keinerlei Rolle mehr spielend, von dir zu erfahren , warum dem nicht so ist.

Möglicherweise ja deshalb, um solche Diskussionen führen zu können, wie wir sie derzeit zwischen dir und Jörn erleben. Diskussionen, wo ich mich mitunter ernsthaft Frage, wenn nun mehr das in der zeitgenössischen Ontologie der Tatsachen eine Rolle spielt, ob das nicht ein Rückschritt im Vergleich zur uralten wörtlichen Bedeutung des Begriffs Tatsache darstellt. Sehe ich doch nicht, so wie man dort, so zumindest in meiner Wahrnehmung, um den heißen Brei herumredet, wo sie schlussendlich hinführen.Möglicherweise liegt das aber auch nur daran, dass ich im Vergleich zur uralten wörtlichn bzw. meiner Bedeutung des Begriffs Tatsache, davon kein Wort verstehe.



Beispiel
Consul hat geschrieben :
Mo 29. Sep 2025, 11:11
Jörn P Budesheim hat geschrieben :
Mo 29. Sep 2025, 08:30
Consul hat geschrieben :
So 28. Sep 2025, 19:26
"... Bewohner eines platonischen dritten Reichs jenseits von Geist und Materie ..." (Scott Soames)
Wenn Tatsachen abstrakt sind, können sie nicht in einem Jenseits sein. Wenn man ihnen unbedingt einen Ort geben will, dann würde ich metaphorisch sagen, dass Tatsachen einfach überall sind. Dass wir Soames Informationen erkennen können, ist überhaupt kein Wunder und kein Problem, finde ich - wenn man nicht zuvor eine Metaphysik gesetzt hat, die deren Existenz anschließt. Aber die Wirklichkeit ist an jeder Ecke informativ ...
Mit Soames' nichtplatonistischer Propositionstheorie habe ich mich noch nicht näher befasst. Für ihn sind Propositionen "intrinsisch prädikationale Typen kognitiver Akte" ("intrinsically predicational cognitive act types"). Noch Fragen? ;)

....

Die (nichtpropositionale) Tatsache, dass der Eiffelturm 330m hoch ist, befindet sich entsprechend dort, wo der Eiffelturm ist.
Insofern für mich .. Noch Fragen? ;) .. keine Option ist. Wie sollte ich von daher auch dazu in der Lage sein.

Was ist ein Beispiel für eine nicht-propositionale Aussage?
"Interjektionen wie „Ups!“, „Heilige Kuh!“ und „Wow!“ können Beispiele für nicht-propositionale Ausdrücke sein. Solche Ausdrücke können bedeutungsvoll sein, ohne wahr oder falsch zu sein"


Solche Informationen, wie sie mir nach eine Recherche im Internet angezeigt werden, helfen mir da übrigens nicht wirklich weiter. Ich meine, was hat haben "Interjektionen wie „Ups!“, „Heilige Kuh!“ und „Wow!“ mit einer (nichtpropositionale) Tatsache zu tun, nach der Eiffelturm 330m hoch ist, sich entsprechend dort befindet wo der Eifeltum ist. Etwa „Ups!“, „Heilige Kuh!“ und „Wow!“ , das es so ist?




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Mo 29. Sep 2025, 14:42

Consul hat geschrieben :
Mo 29. Sep 2025, 11:11
Die (nichtpropositionale) Tatsache, dass der Eiffelturm 330m hoch ist, befindet sich entsprechend dort, wo der Eiffelturm ist.
Ich muss aber nicht nach Paris fahren, um diese Tatsache zu erfassen, oder?




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Mo 29. Sep 2025, 14:47

@Timberlake, gib doch mal, ohne jede Erläuterung und sonstige Zusätze fünf Beispiele für Tatsachen.




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Mo 29. Sep 2025, 17:40

Consul hat geschrieben :
So 28. Sep 2025, 19:37
Es sollte klar zwischen Sachverhalten und Propositionen als "Begriffsverhalten" oder "Sinnverhalten" unterschieden werden. Fregesche Gedanken als Sinne oder (nichtfregesche) Bedeutungen von Aussagesätzen sind Sinnverhalte.
Alles Gedachte ist real als Vorgang – und alles Gedachte ist immer Transformation der sich zeigenden Erscheinungswelt.
Jeder Gedanke ist in der Welt als Ereignis – und richtet sich auf die Welt als Abbild oder Behauptung.
Auch Irrtum ist Welt, nur verfehlt in der Darstellung.
Oder ?




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Mo 29. Sep 2025, 23:42

Jörn P Budesheim hat geschrieben :
Mo 29. Sep 2025, 14:47
@Timberlake, gib doch mal, ohne jede Erläuterung und sonstige Zusätze fünf Beispiele für Tatsachen.
Unter Bezugnahme auf .. Markus Gabriel: "Real ist, was real ist"

1.Beispiel: Markus Gabriel sitzt auf einer schwarzen Ledercouch in seinem Büro an der Universität Bonn und blickt skeptisch auf eine Milchtüte.
2. Beispiel: Er trägt ein dunkles Polohemd, einen blonden Undercut und einen Dreitagebart.
3.Beispiel: Gabriel ist 34 Jahre alt – und gilt als der jüngste Philosophieprofessor Deutschlands.
4.Beispiel: An der Uni Bonn ist er zuständig für Erkenntnistheorie, Feuilletonleser kennen ihn wegen seiner Philosophie des Neuen Realismus.
5. Beispiel: Viel Seltsames ist über diese Philosophie zu lesen. Etwa dass es die Welt gar nicht gibt




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